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13.03.2019 von Katharina Wehrli

«Es wäre ein riesiger Befreiungsschlag»

Die finanzielle Gleichstellung kommt in der Schweiz nicht vom Fleck: Frauen verdienen über 100 Milliarden Franken weniger als Männer – pro Jahr. Ein Gespräch mit der Ökonomin Mascha Madörin über Gründe und Folgen dieser enormen Einkommens­lücke. Und was dagegen zu tun ist. 

Artikel in Thema Frauen und Geld
Illustration: Claudine Etter
moneta: Mascha Madörin, gemäss einem neuen ­Berechnungsmodell von Eurostat beträgt die Einkommenslücke in der Schweiz 44 Prozent. Das sind jährlich 108 Milliarden Franken. Wie ­kommen diese gigantischen Einkommensunterschiede ­zustande?
Mascha Madörin: Rund 28 Milliarden sind die eigentliche Lohnlücke, also das, was Frauen, wenn sie Lohnarbeit leisten, weniger verdienen als Männer. Es handelt sich dabei um eine grobe Berechnung fürs Jahr 2014, die ich aufgrund der Eurostat-Daten gemacht habe.

Und die restlichen rund 80 Milliarden?
Die gehen auf die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zurück. Wenn man die gesamte Arbeitsbelastung von Personen im erwerbsfähigen Alter anschaut – bezahlt und unbezahlt zusammen –, arbeiten Männer und Frauen etwa gleich viel. Aber Frauen leisten viel mehr unbezahlte Arbeit.

In der Schweiz ist der Anteil von Teilzeit arbeitenden Frauen vergleichsweise hoch.
Leisten Frauen in der Schweiz weniger Erwerbsarbeit als in anderen ­europäischen Ländern?
Nein. In der Schweiz ist das Arbeitsvolumen pro Kopf sehr hoch, denn die Arbeitslosigkeit ist niedrig und die Normalarbeitszeit hoch. Wenn man die bezahlten Arbeitsstunden der 16- bis 54-jährigen Frauen anschaut, arbeiten sie mehr pro Jahr als Frauen in Deutschland und fast so viel wie Frauen in Schweden.

Sind die Einkommensunterschiede zwischen ­Frauen und Männern in der Schweiz extremer als in anderen europäischen Staaten?
Die Schweiz gehört zu den europäischen Ländern mit den grössten Einkommenslücken. Dazu gehören erstaunlicherweise die Niederlande, die mit 47 Prozent an erster Stelle liegen, Grossbritannien, Deutschland und Österreich. Aber auch Frankreich und Schweden, zwei Musterländer der Gleichstellung, haben mit 31 respektive 26 Prozent bemerkenswert grosse Einkommenslücken.

Wie erklären Sie sich, dass die Niederlande, Schweden oder Frankreich, die seit Jahrzehnten ­eine fortschrittliche Gleichstellungspolitik betreiben, so hohe Einkommenslücken haben?
Ich weiss es nicht. Aber wir müssen es herausfinden. Wir haben dreissig oder vierzig Jahre Gleichstellungspolitik hinter uns. Jetzt liegen viele Daten vor. Bei diesen Dimensionen der Einkommenslücken stellen sich ganz grundsätzliche ökonomische Fragen. Es geht um mehr als die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Denn offenbar löst sich das Problem nicht von selbst, wenn mehr Frauen Vollzeit arbeiten.

Wie gehen Sie als Ökonomin diese Frage an?
Als feministische Ökonomin habe ich versucht, alle Themen, die Frauen in den 1970er-Jahren aufgeworfen haben, anzuschauen. Dabei habe ich festgestellt, dass ein Bereich von der Ökonomie bisher völlig ausgeblendet wurde, nämlich die Zukunft der Sorge- und Versorgungswirtschaft oder Care-Ökonomie. Also beispielsweise personenbezogene Dienstleistungen im Gesundheitswesen und in der Bildung, die erbracht werden müssen, die aber mit einem konventionellen Businessmodell nicht finanziert werden können.

Eine alte und kontroverse feministische Forderung ist, dass Hausarbeit bezahlt werden soll. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe mit meinen Kolleginnen vom Netzwerk Wide Optionen diskutiert. Wir sind zum Schluss gekommen, dass das Aufziehen von Kindern und die Pflege von Alten und Kranken zu Hause bezahlt werden müsste.

Um wie viel Geld geht es da?
Wenn man alle unbezahlte Arbeit von Männern und Frauen rund ums Aufziehen von Kindern bis vierzehn Jahre – inklusive die zusätzliche Hausarbeit, die durch Kinder entsteht – bezahlen würde, wären das in der Schweiz geschätzte 110 Milliarden pro Jahr. Das wären etwa 7000 Franken pro Monat pro Paarhaushalt mit zwei Kindern. In diese Richtung sollte es gehen, es wäre ein riesiger Befreiungsschlag für die Frauen!

Sie haben geschrieben, dass Frauen, und vor allem Mütter, im jetzigen Wirtschaftssystem erpressbar seien. Was meinen Sie damit?
Wir müssen eine zusätzliche Theorie der Erpressbarkeit entwickeln. Die marxistische Theorie sagt, dass Menschen, die keine eigenen Produktionsmittel – sprich: Boden, Werkzeuge und Maschinen – haben, erpressbar sind. Die Eigentümer der Produktionsmittel können sie zwingen, zu Bedingungen zu arbeiten, die sie nicht selbst bestimmen können. Denn sie müssen als Lohnabhängige Geld verdienen, um ihre Existenzsicherung – Essen, Kleider, Wohnen – zu finanzieren. Die Schwäche von Marxʼ Erpressungstheorie ist, dass sie nur einen Teil unserer Existenzsicherung betrifft: Nach wie vor hängt ein grösserer Teil von unbezahlter Arbeit ab.

Und was bedeutet diese erweiterte Erpressungs­theorie für Frauen?
Wenn lebensnotwendige Arbeit nicht bezahlt wird, entsteht ein Zwang, sie gratis zu leisten. Zum ersten Mal ­habe ich das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verstanden. Da kamen Berichte aus Osteuropa über den Zusammenbruch der sozialen Systeme, der Sozialversicherungen, des Gesundheitswesens usw. Ich hörte am Radio ein Interview mit einer Ukrainerin, einer akademisch ausgebildeten Frau. Sie gab einen guten Job auf und baute einen ehrenamtlichen Dienst zur Versorgung von verarmten Rentnerinnen und Rentnern auf. Als sie gefragt wurde, ob sie damit nicht wieder die traditionelle Frauenrolle übernehme, antwortete sie: «Doch. Aber wer von uns macht es sonst?» Das ist eine Erpressungssituation. Es gibt einfach Leute in Not, die Hilfe brauchen. Oder Kinder, die weinen und versorgt werden müssen. Diese Arbeit nicht zu machen, wäre barbarisch.

Aber warum reagieren vor allem Frauen auf diese ­Erpressung? Auch Männer können Kinder, Alte und Kranke versorgen.
Ich glaube, weil es in der Geschichte Frauen, Sklaven oder Leibeigene waren, die diese lebensnotwendige Arbeit leisteten. Marx hat solche Arbeitsteilungen analysiert, aber ihn interessierten nur Arbeiten von Lohnabhängigen in Landwirtschaft und Industrie. Als dann die Feministinnen fragten, warum es die Frauen machen, begann die Analyse des ganzen Patriarchats, des Systems der Ehe, der Kontrolle über Frauen, der Eigentums- und Erbrechte.

Sie haben in Bezug auf die Care-Ökonomie schon von einer Krise gesprochen. Warum?
Die personenbezogenen Dienstleistungen werden relativ gesehen immer teurer, und zwar wegen des technologischen Fortschritts: Je grösser der Fortschritt in Sektoren ist, in denen man durch Technologie Arbeit einsparen kann, desto teurer wird die andere Arbeit im Vergleich dazu. Ein Beispiel: In den 1970er-Jahren brauchte man etwa sechzig durchschnittliche Jahreseinkommen, um einen Computer mit grosser Rechenkapazität zu kaufen. Wenn jemand schwer pflegebedürftig war, brauchte man drei oder vier Jahreseinkommen, um die Pflegearbeit zu bezahlen. Heute reicht das Einkommen von ein paar Stunden oder Tagen, um ein Smartphone zu kaufen, das mehr Kapazität hat als ein Grossrechner in den 1970ern. Die pflegebedürftige Person braucht aber noch gleich viel Arbeit beziehungsweise Einkommen, um die Pflege zu bezahlen. Roboter können nun mal keine Pflegearbeit übernehmen. Das ist ein Prinzip des technischen Fortschritts: Je stärker die Automatisierung, desto höher wird vergleichsweise der Preis für Dienstleistungen und Produkte, die nach wie vor arbeitsintensiv sind. Dies betrifft auch andere Branchen, etwa den Journalismus oder die wissenschaftliche Forschung.

Das heisst, es entsteht ein Finanzierungsproblem in Branchen, in denen sich durch technischen ­Fortschritt nicht wesentlich Zeit – und damit Geld – einsparen lässt?
Ja. Und das wird zu einem generellen gesellschaftspolitischen Problem werden. Es ist eine der grossen Zukunftsfragen, wird aber nirgends diskutiert.

Wie liesse sich das Problem angehen?
Es müsste gar kein Problem sein. Wir sind reich genug! Wenn man nur noch einige Hundert Franken für ein Smartphone braucht, hat man mehr Geld für Betreuung und Pflege zur Verfügung. Das wäre doch das Prinzip des ökonomischen Fortschritts! Aber wir leben in einer geldgesteuerten Ökonomie. Geld fliesst im kapitalistischen System nur dorthin, wo man Erträge erzielen kann. Deshalb fehlt Geld in Bereichen, wo sich keine Profite machen lassen. 

Wie könnte man das Geld dorthin fliessen lassen?
Der Staat müsste hier die Rolle eines Ermöglichers einnehmen und jene Bereiche subventionieren, die sich sonst nicht finanzieren lassen. Historisch gesehen, druckte der Staat Geld, wenn etwas unbedingt gemacht werden musste, vor allem zur Finanzierung von Kriegen. Der Volkswirtschaftler und Nobelpreisträger Paul Krugman sagt heute: «Wir haben die Wahl: Entweder finanzieren wir einen Krieg, um die Wirtschaft anzukurbeln, oder wir geben viel mehr Geld aus für die Care-Ökonomie; für Bildung, Gesundheit, die Pflege der Alten usw. Aber es ist radikal tabu, dafür Geld zu drucken.»

Sie haben als feministische Ökonomin Pionierarbeit geleistet. Welchen Stellenwert haben feministische Ansätze heute in den Wirtschaftswissenschaften?
Es gibt international einige Literatur, etwa zu den Auswirkungen der Finanzkrise auf Frauen und auf die ­Care-Ökonomie. Aber zur Zukunft der Care-Ökonomie arbeiten nur wenige. In einer Arbeitsgruppe zu feministischer Makroökonomie widme ich mich diesen Fragen zusammen mit anderen Ökonominnen und Sozialwissenschaftlerinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine ist Spezialistin für Genderbudgeting, eine für den Arbeitsmarkt usw. Im Zentrum steht die Care-Ökonomie als makroökonomisches Thema, als vierter Wirtschaftssektor sozusagen. Wir arbeiten an einer Theo­rie für diesen Sektor. Es ist radikale Pionierinnenarbeit  – Gratisarbeit übrigens. Was es jetzt bräuchte, wäre Geld, um einen Think-Tank einzurichten, ein makroökono­misches Forschungsinstitut zur Care-Ökonomie und zu ihrer Verzahnung mit den anderen Sektoren.

Wie gelangen die bisherigen Ergebnisse an die Öffentlichkeit?
In Aufsätzen, Artikeln und Vorträgen. Zu den wichtigsten Themen, etwa zur Einkommenslücke, wollen wir standardisierte Faktenblätter machen, die die Situation in verschiedenen Ländern darstellen und Fragen dazu aufwerfen. Wir leisten harte Grundlagenarbeit. Mir macht sie grossen Spass, weil sich viele neue Fragen ergeben. Ich bin jetzt 73, und bei gewissen Fragen denke ich: Verdammt noch mal, warum habe ich mir das bis jetzt nie überlegt? Ich bin unglaublich gern Ökonomin. Diese Grundlagenarbeit ist für mich ein Altersprojekt – endlich finde ich Zeit, zu lesen, auch noch einmal marxistische und keynesianische Theorie, auch die marxistisch-feministische Debatte, die ich allerdings irreführend finde.

Warum?
Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus der einzige Ausbeutungsfaktor ist. Ich glaube, es sind tatsächlich immer noch die meisten Männer, die davon leben, dass Frauen gratis arbeiten. Ich glaube, dass unsere Kultur und Regulierungen nach wie vor stark patriarchalisch geprägt sind. Seit Beginn der neuen Frauenbewegung in den 1970er-Jahren gab es zwar grosse Fortschritte im Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht. Heute scheint mir die Geldknappheit ein dominierender Herrschaftsmechanismus zu sein. Aktuell haben Frauen einfach unglaublich viel weniger Geld als Männer. Das betrifft die Pensionskasse und damit die Höhe der Rente, aber auch den Alltag vor der Pensionierung: Frauen sind heute ständig knapp an Zeit und Geld. Jedes Jahr 100 Milliarden weniger zu haben – allein in der Schweiz –, das ist entscheidend! Das ist heute der grosse Erpressungsmechanismus! Das müssen wir ändern.

Die finanzielle Ungerechtigkeit verlangt nach ­politischen Massnahmen. Wie sehen Sie Ihre Rolle?
Ich kann mein Wissen zur Verfügung stellen, und wir werden beim kommenden Frauenstreik Aktionen lancieren. Mein Ziel ist, dass niemand mehr in der Schweiz über Sozialpolitik, Rentenaltererhöhung, Altersvorsorge oder Gleichstellung reden kann, ohne über die mehr als 100 Milliarden zu reden, die den Frauen jedes Jahr vorenthalten werden.

Mascha Madörin


Mascha Madörin ist Ökonomin und hat vor allem zu Entwicklungsökonomie, zum Finanzplatz Schweiz und zu Südafrika während der Apartheid gearbeitet. Zudem ist sie eine Pionierin der feministischen Ökonomie. Gegenwärtig arbeitet sie vor allem zu öffentlichen Finanzen und zur politischen und sozialen Ökonomie des Care-Sektors, speziell des Gesundheitswesens.

Sie engagiert sich unter anderem bei Wide einem unabhängigen feministischen Netzwerk, das sich mit Entwicklungspolitik und, was die Schweiz anbelangt, insbesondere mit der Care-Ökonomie auseinandersetzt.

Foto: zVg

Literaturhinweis: 
Bettina Dyttrich, Stefan Howald (Hg.), Quer denken: Mascha Madörin, Zürich, Edition 8 2016


Wichtig, zu wissen

Gesamte Einkommenslücke / Gender Overall Earnings Gap (GOEG):
2017 publizierte das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) ­erstmals Ergebnisse eines neuen Berechnungsmodells, das die gesamte Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern erfasst. In der Schweiz beträgt der GOEG 44,5 Prozent (2014) oder, von Mascha Ma­dörin grob berechnet, 108 Milliarden Franken. Rund drei Viertel resultieren aus der ungleichen Verteilung von un­bezahlter und bezahlter Arbeit.

Lohnlücke / Gender Pay Gap (GPG): Der GPG bezeichnet den prozentualen Unterschied ­zwischen dem durchschnitt­lichen Stundenlohn der ­Frauen, verglichen mit jenem der Männer. In der Schweiz ­beträgt der GPG 19,5 Prozent (2014), was rund 28 Milliarden Franken entspricht und ­damit rund ein Viertel der ­gesamten Einkommenslücke ausmacht. Rund 16 Milliarden des GPG entstehen aus statistisch erklärbaren Lohn­unterschieden. Diese sind eine Folge von ­ungleicher Ausbildung, Berufsstatus, Arbeits­erfahrung und der überpro­portionalen Vertretung in Wirtschaftszweigen mit tiefem Lohnniveau. Die rest­lichen rund 12 Milliarden Franken des GPG gehen auf statistisch unerklärliche Lohnunterschiede zurück; sie dienen der Schätzung von Lohndiskriminierung.

Care-Ökonomie / Sorge- und Versorgungswirtschaft: Dieser Wirtschaftssektor umfasst alle bezahlten und unbezahlten ­Tätigkeiten, bei denen es um die tägliche Sorge um und die ­Versorgung von Menschen geht. Zum bezahlten Teil der Care-Öko­nomie gehören beispielsweise die Bildung oder das ­Gesundheitswesen.

Unbezahlte Arbeit: Zur unbezahlten Care-Arbeit gehören Hausarbeit, Betreuung von Kindern und Kranken sowie Unterstützung in anderen Haushalten. Der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit in der Schweiz wird vom Bundesamt für Statistik berechnet; der Teil, den Frauen mehr leisten als Männer, entspricht rund 85 ­Milliarden Franken pro Jahr (2016).
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