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22.09.2021 von Daniel Bütler

Plattformarbeit nimmt auch in der Schweiz zu

Gewerkschaften warnen vor einem Prekariat von Gig-Arbeiterinnen und -Arbeitern. Doch harte Zahlen zum Ausmass der neuen Arbeitsform fehlen. Sicher scheint bloss: Sie wächst.

Artikel in Thema Gig-Economy
Illustration: Claudine Etter
Hector Garcia* wurde unfreiwillig zum Gig-Worker. Im Frühjahr 2020 konnte er wegen der Corona-Pandemie nicht mehr als Fitnesstrainer arbeiten. Deshalb meldete er sich bei der Schweizer Plattform Kork und erhielt so Aufträge wie Zügeln oder Autowaschen. Für den 20-Jährigen ein Glücksfall. Auch heute führt er neben seinem Hauptjob gelegentlich solche Arbeiten aus: Das sei ein interessanter Nebenverdienst.
Wie Garcia ist eine Mehrheit von Gig-Workern jung und männlich. Von Reinigung über Grafikdesign bis zu Software-Entwicklung und juristischen Aufträgen lässt sich heute eine grosse Bandbreite an Dienstleistungen via Online-Plattform bestellen. Manche werden global ausgeschrieben und ortsunabhängig von Heimarbei­terinnen und -arbeitern an ihrem Laptop ausgeführt, andere müssen in der Nachbarschaft erledigt werden. Auch Schweizer Firmen lagern Arbeiten aus. Swisscom etwa schickt für gewisse Supportarbeiten nicht mehr eigene Mitarbeitende, sondern vermittelt via die Plattform Mila unabhängige Technikerinnen und Techniker.

Firmen profitieren von arbeitsrechtlicher Lücke

Garcia ist nicht der Einzige, der in der Pandemie zum Gig-Worker wurde. Explodiert ist etwa die Nachfrage nach Essenslieferungen. Der Lieferservice Uber Eats steigerte laut «Tages-Anzeiger» den Umsatz um 600 Prozent. Ob die Gig-Ökonomie wegen Corona insgesamt gewachsen ist, ist aber unklar. In vielen Branchen brach der Umsatz ein.
Der globale Konzern Uber steht für viele Probleme der Gig-Wirtschaft. Wer für eine Gig-Plattform arbeitet, hat in der Regel keinen Arbeitsvertrag, kein fixes Einkommen und erhält keine Sozialleistungen. Deswegen schlagen Gewerkschaften Alarm. Syndicom, die die Branchen Medien, Logistik und Grafik abdeckt, sieht ein Prekariat von scheinselbständigen Billigarbeiterinnen und -arbeitern entstehen, auf deren Buckel globale Plattformen hohe Gewinne einfahren. «Mit der nicht regulierten arbeitsrechtlichen Situation können die Firmen heute eine Lücke ausnützen», sagt der Ökonom Mathias Binswanger im Interview. Die Plattformarbeit stellt die Gesellschaft vor neue Fragen. Sind Gig-Worker als Angestellte oder als Selbständige zu betrachten? Braucht es künftig eine obligatorische Arbeitslosenversicherung für sie? Werden die Einnahmen korrekt versteuert?

Noch fehlen verlässliche Zahlen

Entstanden ist die neue Arbeitsform mit der Ausbreitung des Internets in den letzten 20 Jahren; in den USA ist sie seit der Finanzkrise von 2008/09 stark angewachsen. Gemäss Syndicom ist die Gig-Economy auch hierzulande ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: Zehn Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sollen regelmässig Plattformarbeit leisten (siehe Box). Für 135 000 Personen sei dies die einzige Einkommensquelle. Die Schätzungen des Bundesamts für Statistik (BfS) sind aber viel tiefer: Bloss 0,4 Prozent aller Schweizerinnen leisteten 2019 gemäss BfS internetbasierte Plattformarbeit; die grosse Mehrheit verdiente damit unter 1000 Franken pro Jahr. Dass sich die Zahlen so stark unterscheiden, dürfte unter anderem daran liegen, dass das Phänomen nicht klar definiert ist. Im engeren Sinn bedeutet Gig-Economy, auch Crowdwork genannt, dass die Arbeitskräfte nur pro Auftrag («Gig», wie es in der Musik heisst) bezahlt werden und die Vermittlung über eine Online-Plattform stattfindet.
Auch global weichen die Schätzungen zur Gig-Economy stark voneinander ab. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die sich auf verschiedene Studien und Angaben von Statistikdiensten bezieht, haben zwischen 0,3 und 22 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung schon Plattformarbeit geleistet. Gemäss OECD beschäftigen Plattformen zwischen 1 und 3 Prozent aller Arbeitskräfte weltweit. In den USA sollen laut diversen Quellen bis zu 30 Prozent der Arbeitskräfte Gig-Worker sein – wobei unklar ist, ob hier nicht nur Gig-Worker im engen Sinn, sondern alle selbständig Tätigen miteingerechnet werden. Unabhängig vom genauen Ausmass: Einig ist man sich in Fachkreisen, dass Plattformarbeit am Zunehmen ist. Im Zeitalter der digitalen Heimarbeit gewinnt sie an Attraktivität.

Tiefstlöhne – für Schweizer Verhältnisse

Gig-Arbeit ist oft schlecht bezahlt. Das liegt unter anderem daran, dass hinter den Vermittlungsplattformen Firmen stehen, die sich an einem internationalen Lohnniveau orientieren. Über Freelancer.com oder Upwork.com schreiben sie Arbeiten global aus. Das hat nicht nur Nachteile: Was in der Schweiz ein Dumpinghonorar ist, ist in Indien vielleicht eine gute Bezahlung.
Auch Seraina Schmid* hat für eine internationale Plattform gearbeitet. Die 46-Jährige zog für einige Monate ins Ausland und suchte einen Nebenverdienst. Fündig wurde sie bei Scribbr: Die Plattform mit Sitz in den Niederlanden bietet Lektoratsarbeiten an. «Versprochen waren 25 Euro Stundenlohn, doch bei meinen Aufträgen kam ich auf keine 10 Euro», erzählt Schmid. Eine 15-seitige wissenschaftliche Arbeit sei mit 35 Euro entlöhnt worden. Bald habe sie gemerkt, dass sich das nicht rechne, und die Arbeit beendet. «Für eine Schweizerin sind solche Ansätze ein Tiefstlohn», sagt Schmid. «Doch in anderen Ländern kann das in Ordnung sein, besonders für geübte Korrekturleserinnen.» Sie zieht trotzdem ein positives Fazit: «Ich konnte in den Bereich Korrekturlesen einsteigen, habe viel gelernt, und die Arbeit fand ich spannend.» 

Gig-Worker besser schützen

Für Schweizerinnen und Schweizer ist Plattformarbeit meist ein Nebenerwerb: Laut Jan Marco Leimeister von der Uni St. Gallen sind das «Dritt- bis Fünftjobs», die «als einfach verfügbarer Zuverdienst dienen oder Abwechslung zu anderen Tätigkeiten bieten». Doch für manche Personen mit kleinen Arbeitspensen, etwa Studierende, dürfte Crowdwork der Haupterwerb sein. Und für viele der Tausenden von Uber-Taxifahrern wichtig zur Existenzsicherung – neben einer gering bezahlten Hauptarbeit. Für gewisse gering Qualifizierte dürfte zudem die Arbeit für den Velokurierdienst Uber Eats die einzige Möglichkeit überhaupt sein, Geld zu verdienen. Auch wenn es nur 10 Franken pro Stunde sind. 
Manchmal können die Auftragnehmenden den Lohn selber steuern. Bei der Plattform Kork kann man Offerten auf die Aufträge abgeben. Hector Garcia sagt, die Kundinnen und Kunden würden neben dem Preis auch andere Kriterien berücksichtigen, den Zuschlag erhalte nicht unbedingt der günstigste Anbieter oder die günstigste Anbieterin. Er selber verdiene 30 bis 40 Franken pro Stunde.
Um eine faire Bezahlung breit durchzusetzen, fordert Syndicom einen besseren Schutz für Gig-Worker. Dazu seien neue Regeln und Gesetze notwendig. Plattformen sollen mittels Zertifikat garantieren, dass sie rechtliche und soziale Mindeststandards einhalten. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass die Gig-Economy stark zulegen wird. Doch für die Schweiz sei das momentan unwahrscheinlich, sagt Jens Meissner, der an der Hochschule Luzern zum Thema New Work forscht: «Solche Prophezeiungen haben sich bisher nicht bewahrheitet.» Die Pandemie habe die Plattformarbeit vielleicht begünstigt, aber es würden keine Kerntätigkeiten ausgelagert. «Dafür eignen sich nur stark standardisierte Arbeiten», sagt Meissner. Zudem würden Arbeitssuchende, zumindest solche im Bereich qualifizierter Arbeit, kaum aus Not zu Gig-Workern. «In der Schweiz gibt es genügend gute Arbeit, und nach wie vor herrscht quasi Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel.» In anderen Ländern könne Gig-Work attraktiv sein, weil es an fair bezahlter Arbeit fehle.

*Namen geändert

Junge haben mehrere Gig-Jobs

2017 nahmen in der Schweiz 2000 Personen zwischen 16 und 70 Jahren an einer Internetumfrage teil, die in verschiedenen europäischen Ländern unter der Leitung der Universität Hertfordshire durchgeführt wurde. Laut Hochrechnung der Schweizer Umfrageergebnisse auf die gesamte erwerbstätige Bevölkerung haben 32 % schon Gig-Arbeit gesucht, 18 % mindestens einmal geleistet, und 10 % arbeiten jede Woche über eine Plattform. Für 135 000 Personen ist dies die einzige Einkommensquelle. Aufgrund der schwachen Datenbasis sind diese Zahlen nicht wissenschaftlich fundiert.
Aussagekräftiger sind weitere Angaben, die die Gig-Arbeitenden in dieser Umfrage machten: Die Hälfte von ihnen sind weniger als 34 Jahre alt, drei Viertel jünger als 44. Gut 50 % sind Vollzeit beschäftigt, gut 20 % Teilzeit (und üben die Gig-Arbeit ­daneben als Zusatzjob aus). Je 5 % sind Pensionierte und Studierende. Die meisten üben mehr als ­eine ­Tätigkeit aus: Computerarbeiten auf dem eigenen Gerät, Be­sorgungen für andere Leute, Haushalt, Putzen, Fahr- ­und Lieferdienste, Design, redaktionelle Arbeiten, ­Software-Entwicklung, ­Über­setzungen, juristische ­Dienstleistungen und ­Buchhaltung.
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