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04.12.2019 von Mathias Morgenthaler

Wenn Freiräume beflügeln

Viele Menschen leiden bei der Arbeit unter einer einengenden Unter­nehmenskultur, etwa unter einem Mangel an Vertrauen und Gestaltungsspielraum. Ein möglicher Ausweg ist, ein eigenes Unternehmen zu gründen – und es als Chefin oder Chef besser zu machen.

Artikel in Thema Mensch, KMU!
Illustration: Claudine Etter
Der Mann ist aufgewühlt, als er zum Coaching-Termin erscheint. Mit ihm stimme etwas nicht, sagt Frank T., noch bevor er Platz genommen hat; er müsse lernen, sich besser anzupassen und mehr Kompromisse ein­zugehen am Arbeitsplatz, so lautet seine Diagnose in eigener Sache. Im Gespräch zeigt sich: Frank T. ist gut ausgebildet, motiviert, er möchte etwas verändern bei seinem Arbeitgeber, nicht nur Dienst nach Vorschrift machen. Er ist, so würde man meinen, einer dieser Mitarbeiter, den alle suchen: leistungsbereit, mitdenkend, mit unternehmerischer Haltung.
Doch bei seinem Arbeitgeber, einem national bekannten Betrieb mit knapp 500 Angestellten im Kanton Bern, sorgt Frank T. für Irritationen. Er müsse zunächst lernen, wie die Dinge hier laufen und dass man das Rad nicht jedes Mal neu erfinden könne, sagt ihm sein Vorgesetzter unverblümt. Er sei halt noch jung und unerfahren. Die Botschaft ist unmissverständlich. Frank T. weiss nun, wie er in der Firma am besten überlebt: nicht unnötig mit eigenen Ideen vorpreschen, nichts Bestehendes hinterfragen, sich mit den richtigen Leuten gut stellen. Oder wie er es formuliert: brav in Einerkolonne krampfen wie eine Ameise.

Alle Menschen sind im Grunde ein Wunder

Wäre die Geschichte von Frank T. ein Einzelfall, wäre sie nicht von Interesse. Aber ich höre sie im Coaching immer wieder in ähnlicher Form: Menschen, die gut ausgebildet und motiviert sind, die privat Häuser kaufen, Kinder grossziehen oder Vereine leiten, haben bei der Arbeit kaum Spielraum, brauchen das Einverständnis von Vorgesetzten, um 20 Franken Spesen verursachen oder ihre Meinung zu einem Projekt äussern zu dürfen. Sie werden in vielen Unternehmen als Rädchen gesehen, das reibungslos funktionieren soll.

Sosehr Unternehmen zunehmend ihre soziale Verantwortung gegen aussen wahrnehmen, indem sie ihre CO2-Emis­sionen senken, ihre Lieferanten genauer unter die Lupe nehmen und sich gesellschaftlich engagieren, so wenig gilt das vielerorts für Führung und Unternehmenskultur. Zwar nimmt die Zahl jener KMU, die innovative Organisationsformen testen, stetig zu, aber bei vielen Betrieben dominiert nach wie vor das alte hie­rarchische Denken, werden Ziele von oben vorgegeben und deren Einhaltung teilweise im Wochenrhythmus überprüft. Nicht selten beklagen Chefs die Unselbstständigkeit und Passivität der Mitarbeitenden, entscheiden aber gleichzeitig am liebsten alles selber. Die Erkenntnis, dass es ökonomischer wäre, wenn die Mitarbeitenden auf allen Ebenen vor Ort und kundennah entscheiden könnten, liegt ihnen fern.

Wie Unternehmen ihre soziale Verantwortung auch gegen innen leben und ermöglichen könnten, damit die Angestellten ihr Potenzial entfalten, hat der frühere Unternehmensberater Frederic Laloux in seinem Buch «Reinventing Organizations» beschrieben. In der Kürzestform lautet sein Ratschlag für sinnstiftende Formen der Zusammenarbeit: Weniger zentral planen und im Detail von oben herab vorgeben, dafür mehr Impulse geben, Einladungen aussprechen und die Zusammenarbeit orchestrieren. «Mitarbeiter sind nicht einfach Kostenstellen, die Jobprofile ausfüllen und funktionieren müssen», sagt Laloux. «Alle Menschen sind im Grunde ein Wunder; niemand weiss, was für Dinge sie aus sich heraus ermöglichen können, bis man ihnen den Freiraum dafür schafft.» Darin bestünde nach Laloux die edelste soziale Verantwortung, die ein Unternehmen als Arbeitgeber hat.

Vom Polymechaniker zum Hersteller von veganem Käse

In einzelnen Fällen hat die Tatsache, dass viele Arbeitgeber ihre Verantwortung den eigenen Angestellten gegenüber nicht wahrnehmen, unverhofft positive Folgen. Dann wird die einengende Unternehmens kultur zum Sprungbrett in die Selbstständigkeit. Freddy Hunziker zum Beispiel hat schon während der Poly­mechanikerlehre bei einem grossen Schleifmaschinenhersteller gemerkt, dass er sich schwertut mit Anpassung und taktischem Verhalten. «Ich hatte den Eindruck, die Mitarbeiter seien einfach ein Mittel zum Zweck, den Gewinn zu erhöhen», sagt er, «wer eigene Ideen einbrachte, wurde schräg angeschaut.» Folgerichtig verabschiedete sich Hunziker nach Abschluss der Lehre, setzte zunächst auf eine Sportkarriere als Downhill-Mountainbiker und gründete dann als 21-Jähriger mit seiner Partnerin Alice Fauconnet die eigene Firma New Roots, die vegane Käsealternativen herstellt.

Ein Polymechaniker, der Nahrungsmittel produziert? Hätte Hunziker sich mit dieser Ambition bei einer Firma beworben, wäre er kaum in die engere Auswahl gekommen. Als Unternehmer hingegen konnte er den Beweis erbringen, wie sehr es Menschen beflügelt, wenn sie sich in ihrem Tun als wirksam erleben. Hunziker und Fauconnet verbindet die Überzeugung, dass die moderne Kuhmilchproduktion für Klima und Tier eine Katastrophe ist; zudem machte Hunziker die Erfahrung, dass die Knochenbrüche, die er sich beim Biken zuzog, schneller verheilten, wenn er sich rein pflanzlich ernährte. So brachte sich der Polymechaniker im Rekordtempo das Käsereihandwerk bei und präsentierte bald einen ersten veganen Käse auf Basis von Cashewnusskernen.

Ein «Ökosystem», in dem sich alle Mitarbeitenden wohlfühlen

Heute, vier Jahre nach dem Start, verkaufen Hunziker, Fauconnet und ihr Team bis zu 12'000 Stück veganen Käse pro Woche. Musste man die New-Roots-Produkte anfänglich direkt bei den Herstellern beziehen oder in Reformhäusern suchen, sind die pflanzlichen Ricotta-, Frischkäse- und Camembert-Alternativen inzwischen in 300 Bioläden erhältlich. Vor einem Jahr hat Coop drei New-Roots-Produkte ins Sortiment aufgenommen und so auf einen Schlag für eine Verdoppelung des Absatzes gesorgt. Die rasant anziehende Nachfrage hat dazu geführt, dass die junge Firma schon zwei Mal umziehen musste und am aktuellen Standort auf 550 Quadratmetern in Thun nun bereits wieder an die Kapazitätsgrenzen stösst – neuerdings hält Hunziker nach 2500 bis 3000 Quadratmetern Ausschau.

Höchste Zeit für die Frage, welche soziale Verantwortung er für die inzwischen 15 Angestellten trägt. Hunziker hat nicht vergessen, wie unwohl er sich als Angestellter gefühlt hat. Der neuerliche Umzug sei nicht nur nötig, um die Produktionskapazitäten zu erhöhen, sagt der 25-Jährige, in erster Linie gehe es ihm darum, in sein Team zu investieren. Er wolle am neuen Ort ein «Ökosystem» bauen, in dem sich alle Mitarbeitenden wohlfühlen – Gratismahlzeiten aus der hauseigenen Kantine inklusive. Zudem wolle er nicht nur Löhne über dem Branchendurchschnitt zahlen, sondern auch den Teamgeist fördern und Hierarchie wo immer möglich vermeiden. Nur so, sagt Hunziker, könne sich das junge Unternehmen immer wieder neu erfinden. Und an innovativen Ideen mangelt es nicht: Aktuell tüfteln die Thuner an einer neuen Sorte, die für veganes Fondue, Raclette oder auch Reibkäse verwendet werden kann. Und in naher Zukunft ist auch mit einer Joghurt- und einer Buttervariante auf Cashewnuss-Basis zu rechnen.

Bei alldem dient die soziale Ausrichtung des Unternehmens als gemeinsamer Antrieb: Indem immer mehr Menschen auf pflanzliche Ernährung umsteigen, soll die «Versklavung von Tieren», wie Fauconnet es nennt, überwunden werden. Dazu trägt New Roots auch bei, indem ein Prozent des Umsatzes für soziale Projekte gespendet wird. Diesen Frühling ist New Roots für sein Engagement am Swiss Economic Forum mit dem SEF-Award für Jungunternehmer ausgezeichnet worden.

Und was ist aus Frank T. geworden? Ihm wurde im Coaching klar, dass das, was sein Arbeitgeber als störend empfand, in anderem Kontext sehr wertvoll sein kann. Er kündigte und trat bald darauf eine neue Stelle bei einem weniger bekannten Arbeitgeber an. Er habe dort keinen Jobtitel mehr, der Kollegen beeindrucke, berichtete er mir, dafür aber etwas viel Wertvolleres: Er könne seine verschiedenen Fähigkeiten einbringen, Projekte leiten und so die Zukunft mitgestalten.

Beruf und Berufung

Mathias Morgenthaler, hat in den letzten 20 Jahren über 1000 Interviews zum Thema Beruf und Berufung geführt. Seine Porträts erscheinen wöchentlich in vier Schweizer Zeitungen. Er war Wirtschafsredaktor beim «Bund»/«Tages-Anzeiger» und ist heute als Autor, Coach und Referent tätig.

beruf-berufung.ch
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