1633
04.12.2019 von Roland Fischer

Manche haben Superkräfte, alle haben Möglichkeiten

Unternehmen tun sich schwer mit der Integration von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Am Beispiel Autismus zeigt sich, dass viel mehr möglich wäre – und dass kleine Betriebe dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Artikel in Thema Mensch, KMU!
Illustration: Claudine Etter
Es gab in den letzten Jahren immer wieder Diskussionen um automatisierte Bewerbungsverfahren, um Algorithmen und künstliche Intelligenz, die vielleicht besser darüber entscheiden können, wer für welchen Job geeignet ist – und die sich nicht durch die falsche Endung eines Namens beeinflussen lassen. Aber mal ehrlich: Wünschen wir uns nicht alle im Bewerbungsverfahren Menschen als Gegenüber, die im persönlichen Gespräch unsere Fähigkeiten und unsere Motivation prüfen?

Es gibt da allerdings eine (gar nicht mal so kleine) Gruppe von Menschen, die das auf keinen Fall unterschreiben würden. Die grossteils arbeitslos sind, und das nicht unbedingt wegen fehlender Fähigkeiten. Sondern weil die Betroffenen genau dann am schlechtesten aussehen, wenn es zu «menscheln» beginnt. «Wenn Sie den besten Programmierer der Schweiz finden wollen, dann sollten Sie auf keinen Fall Bewerbungsgespräche führen», sagt Markus Weber von Auticon. «Sie sollten einen Test ausschreiben, eine Aufgabe, die man auch um drei Uhr nachts am Computer lösen kann.»

Autismus betrifft ungefähr ein Prozent der Bevölkerung. Es ist eine rätselhafte Krankheit, die nach neuestem medizinischem Wissen als Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gefasst wird und auch Asperger beinhaltet. Die kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit einer Autismus-Diagnose sind sehr verschieden. Wer zu den überdurchschnittlich Intelligenten gehört, versteckt seine Fähigkeiten nicht selten, etwa durch Sprachverweigerung oder generellen sozialen Rückzug. Ihre intellektuellen Superfähigkeiten können sie aber zu überdurchschnittlich begabten Fachleuten machen. In der IT-Branche etwa.

Auticon ist eine der IT-Firmen, die gezielt ASS-Betroffene rekrutieren. Die profitorientierte Aktiengesellschaft hat ihren Hauptsitz in Deutschland und ist vor Kurzem in die Schweiz expandiert. Auticon-Schweiz-Chef Markus Weber sagt, 80 Prozent der ASS-Betroffenen hierzulande seien auf Arbeitssuche oder komplett überqualifiziert in ihrem derzeitigen Job – für viele von ihnen sieht er beste Chancen im Arbeitsmarkt. «Einer unserer Mitarbeiter hat vorher in einer geschützten Werkstatt gearbeitet, nun hat er einen anspruchsvollen Job in der IT.» Auticon hat sich nicht umsonst auf den Bereich IT spezialisiert, denn Autisten sind bei Aufgaben ganz besonders ausdauernd und genau, die «normal» funktionierende Menschen als stumpfsinnig und ermüdend empfinden. Routineaufgaben, «langweilige», repetitive Tasks: einen langen, verschachtelten Code überprüfen und vereinfachen, komplexe Zahlen und Zusammenhänge analysieren.

Mehr auf Menschen und ihre spezifischen Fähigkeiten fokussieren

Man kann sich also überhaupt fragen, ob Autismus als «Störung» kategorisiert werden soll oder einfach als andere Art, zu funktionieren. Das Stichwort der Stunde dazu lautet Neurodiversität – ASS könnte eine Bereicherung, es muss nicht unbedingt eine Beeinträchtigung sein. Oder durch die Diskriminierungsbrille gesehen: Es ist die Gesellschaft, die diese Diversität nicht zulässt. Und es sind nicht zuletzt die Unternehmen, denen eine Hauptverantwortung zukommt, die der Inklusion aber noch immer im Weg stehen. «Wir müssen weg von dem Reflex: Da ist eine Diagnose, da wage ich mich nicht ran», sagt Andreas Eckert, Leiter der Fachstelle Autismus an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Er glaubt, dass das Beispiel ASS durchaus Schule machen könnte, wenn Betriebe mehr «auf den Menschen und ihre spezifischen Fähigkeiten fokussieren» würden und weniger auf schematische Bewerbungskriterien. Das sieht auch Markus Weber von Auticon so: Gerade im IT-Bereich seien Unternehmen diesbezüglich viel zu schlecht aufgestellt.

Menschen im Autismus-Spektrum brauchen Umgebungsanpassungen, damit ihnen an der Arbeit wohl ist – bei Auticon unterstützen Coaches sie dabei. Kleinigkeiten können entscheidend sein, zum Beispiel den Bürotisch so platzieren, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht dauernd hinter ihrem Rücken vorbeigehen müssen. Inzwischen haben auch grosse Firmen – vorab Digitalgiganten in den USA – verstanden, dass autistische Arbeitskräfte wertvolle Mitarbeitende sind. Aber die Zahl der in diesen Programmen Rekrutierten ist bescheiden. Und wo sind die Unternehmen in diesem Land, die Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung anstellen?

KMU besonders prädestiniert

Für Andreas Eckert von der HfH wären gerade KMU prädestiniert dafür, sich auf die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen einzulassen. Das zeige sich bereits im Bewerbungsverfahren, wo KMU nicht so sehr nach einem «Schema X» verfahren wie grosse Unternehmen.
Auticon ist derzeit ausschliesslich auf Mitarbeitende mit Autismus spezialisiert – werden dereinst auch Frauen und Männer mit anderen Beeinträchtigungen bei ihnen arbeiten? Er könne sich vorstellen, das Feld aufzutun, sagt der Geschäftsführer, «aber noch gibt es viel zu viele arbeitslose Autisten». Sind denn die meisten der Arbeitslosen Logik-Genies? Nein. Auticon in­teressiert sich denn auch vor allem für diejenigen, die mit ihren besonderen Fähigkeiten herausragen. Ist das Rosinenpickerei? Andreas Eckert mag dem Modell Auticon nichts vorwerfen. Wenn man ihnen passende Nischen schaffe, könnten ASS-Betroffene eben sehr lo­yale, dankbare und darüber hinaus auch leistungsfähige Mitarbeiter sein. Greta Thunberg habe es unlängst schön gesagt: Ihr Anderssein sei eine Superkraft – aber sie schob noch etwas nach, das von den Medien oft weggekürzt wurde: «... wenn die Umstände günstig sind.»

Bei der Frage, ob sich das Erfolgsmodell, wie es Auticon und weitere Firmen wie zum Beispiel Asperger Informatik aus Zürich praktizieren, breit anwenden liesse, will Eckert keine generalisierende Antwort geben – welche Menschen mit welcher Beeinträchtigung wie in den Arbeitsmarkt integriert werden können, lasse sich nicht pauschal beantworten. Was Arbeitsintegration für Menschen mit einer Beeinträchtigung bedeutet, hat Andrew Solomon in seinem Buch «Far from the Tree», in dem es um Familien mit behinderten Kindern geht, beeindruckend beschrieben. Er zitiert darin einen Schizophrenie-Forscher mit den Worten: «Ich habe nie eine andere Behandlung gesehen, die so effektiv wirkt wie ein Job.»

Einfache Arbeiten bewusst nicht automatisieren

Eckert sieht insgesamt eine zunehmende gesellschaftliche Offenheit zur Inklusion, aber konkrete Schritte in dieser Richtung seien noch zaghaft. «Bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schizophrenie sind die Hürden in der Gesellschaft häufig grösser als bei einer gut erkennbaren Körperbehinderung», weiss er. Klar ist: Der Arbeitsmarkt allein werde es nicht regeln, es brauche auf jeden Fall auch nicht profitorientierte Stiftungsarbeit, um Menschen mit Beeinträchtigungen in der Arbeitswelt zu unterstützen. Inzwischen füllt Auticon immerhin einen kleinen Teil der grossen Lücke. Und das wohl noch länger – oder wie Markus Weber sagt: «Ich wäre am glücklichsten, wenn es Auticon in zehn Jahren nicht mehr bräuchte. Aber ich mache mir da eher weniger Sorgen um unser Unternehmen.»
Zur breit abgestützten Inklusion in der Arbeitswelt braucht es aber ohnehin noch ganz andere Ansätze. Bei Inotex Bern etwa, der früheren Zentralwäscherei, wurden einfache handwerkliche Arbeiten bewusst nicht automatisiert, um so die Voraussetzung für eine sinnvolle Beschäftigung behinderter Menschen zu schaffen. Nicht jeder Mensch hat Superkräfte, aber jeder hat Möglichkeiten.
Artikel ausdrucken