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07.06.2023 von Florian Wüstholz

Blind mit Zahlen jonglieren

Immer mehr Finanzdienst­leistungen werden digital an­geboten. Für Menschen mit ­Behinderungen eine Chance, Freiheit und Selbst­bestimmung zurückzugewinnen – wenn ihnen denn keine ­digitalen Hürden in den Weg gelegt werden.

Artikel in Thema Finanzielle Inklusion
Illustration: Claudine Etter

Wie bezahlt eine blinde Person eine Rechnung, die per Post kommt? Nutzt sie eine E-Banking-Plattform? Oder zahlt sie gar mit dem Smartphone? Und wie sieht es mit dem kontaktlosen Zahlen an der Kasse aus? Eine Chance? Oder bloss eine weitere Hürde, die es zu meistern gilt? Digitale Dienstleistungen haben im Zuge der Pandemie gewaltig an Schub zugelegt – auch im Finanzbereich. So stieg zum Beispiel die Anzahl Transaktionen über die Bezahl-App Twint von 39 Millionen im Jahr 2019 auf 386 Millionen im Jahr 2022 an – mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung verfügt bereits über ein Konto. Auch die Aufnahme von Krediten, die Verwaltung von Wertschriften und die Altersvorsorge hat sich in den digitalen Bereich verlagert, wie eine Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Deloitte zeigt.
Menschen mit Behinderungen können von dieser Entwicklung profitieren. Denn digitale Angebote könnten so gestaltet werden, dass sie für Menschen mit Seheinschränkungen, gehörlose Personen und jene mit motorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen gut nutzbar sind. Aber geschieht das auch?
Diese Frage stellte sich auch Andreas Dietrich von der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit einem Team von Forschenden hat der Professor für Banking die Barrierefreiheit digitaler Dienstleistungen von Schweizer Banken unter die Lupe genommen. Er wollte wissen: Können Blinde deren Websites überhaupt sinnvoll nutzen? Denn seit Jahren beobachtet er, dass Banken von ihren Kundinnen und Kunden verlangen, Geschäfte eigenständig über digitale Plattformen zu erledigen. «Wer aber eine digitale Lösung anbieten will, muss auch für jene einen Zugang schaffen, die gewisse Einschränkungen haben, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden», sagt Dietrich.
In der Schweiz gibt es rund 400 000 Menschen mit einer Sehbehinderung – manche haben Mühe, Farben und Kontraste zu unterscheiden, andere ein eingeschränktes Sehfeld, einige sind komplett blind. «Es betrifft also einen grossen Teil der Bevölkerung», sagt Dietrich. Nebst der ökonomischen Perspektive – für Banken lohne es sich ja, ein Angebot für diese Menschen bereitzuhalten – müsse auch beachtet werden, «dass niemand von der Teilhabe ausgeschlossen wird. Wenn mehr und mehr Dienstleistungen in den digitalen Raum verschoben werden, haben wir eine gesellschaftliche Verantwortung, an alle Menschen zu denken und diese mitzunehmen.»


Sprich mit mir

Einer von jenen, die gern mitgenommen würden, ist Mo Sherif. Der 31-Jährige ist «mehr oder weniger von Geburt an blind». Nach einer Lehre als Applikationsentwickler arbeitet er seit einigen Jahren bei der Stiftung «Zugang für alle» als Accessibility-Berater. Dort prüft er, ob digitale Angebote für Menschen wie ihn überhaupt nutzbar sind und wo es noch Luft nach oben gibt. «Als blinder Informatiker habe ich natürlich ein recht gutes Gefühl dafür, wie digitale Angebote funktionieren müssten, wenn sie auch für Blinde anwendbar sein sollen», sagt er.
Während Sehende mit den Augen und der Maus durch eine farbenfrohe Website navigieren, ist der Screenreader für Sherif das A und O. Diese Software liest Informationen aus einer Website aus, versteht die Struktur und kann Texte oder Beschreibungen vorlesen – oft in einem rasenden Tempo, dem nur Geübte folgen können. Damit testet Sherif auch, ob eine Seite für ihn navigierbar ist, er ans Ziel gelangen kann oder Hürden in den Weg gelegt bekommt.
«Wir richten uns dabei nach den WCAG-Kriterien», erklärt Sherif. Die sogenannten Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) haben das Ziel, Internetangebote möglichst barrierefrei zu gestalten, damit auch Menschen mit Einschränkungen sie nutzen können. Darin sind Regeln festgehalten wie: «Verlass dich nicht allein auf Farben», «Sorge für klare Navigation» oder «Liefere äquivalente Alternativen für auditive und visuelle Inhalte». Seit ihrer ersten Veröffentlichung wurden die WCAG konstant weiterentwickelt und enthalten aktuell mehr als 60 messbare Kriterien. In der Realität gibt es aber kaum eine Seite, die alle erfüllt. «Die Kriterien geben uns trotzdem einen guten Anhaltspunkt, wie barrierefrei ein digitales Produkt ist», sagt Sherif. «Je mehr, desto besser.»

«Wenn mehr und mehr Dienstleistungen in den digitalen Raum verschoben werden, haben wir eine gesellschaftliche Verantwortung, an alle Menschen zu denken und diese mit­zunehmen.»


Im Grunde geht es bei der Barrierefreiheit immer darum, Informationen so aufzubereiten, dass sie über unterschiedliche Kanäle erreicht werden können. Mit digitalen Mitteln liesse sich das eigentlich gut machen. Ein Text lässt sich vorlesen, ein Bild beschreiben. Videos lassen sich untertiteln und eine Erklärung in einfacher Sprache anzeigen.
Das ist auch beim E-Banking entscheidend. «Mit einer guten App kann ich zum Beispiel meine Rechnungen ohne fremde Hilfe selber bezahlen», sagt Sherif. «Das gibt mir eine grosse Selbständigkeit.» Denn mit einer Telefonrechnung, die per Post kommt, kann er wenig anfangen. «Das ist der Horror für mich.» Einfacher sei es, wenn sie digital zum Beispiel als E-Rechnung erscheint. «Wenn die Plattformen barrierefrei gestaltet sind, kann ich in wenigen Klicks meine Rechnungen überweisen – genau so wie eine sehende Person.»
Das bleibt aber noch immer ein selten erlebter Idealfall. Denn oft sind Websites und Apps für Sherif und andere blinde Menschen kaum oder gar nicht nutzbar. Das gilt auch für viele E-Banking-Angebote, wo es bereits beim Einloggen Hürden gibt. «Oft braucht man für das Login ein separates Authentifizierungsgerät, das aber im Normalfall keine Sprachausgabe hat», sagt Sherif. «Die Zahlen, die dort im Display erscheinen, bringen mir gar nichts, und ich brauche Hilfe.»
Hinzu kommen Seiten, die zu viel Inhalt oder keine klare Struktur im Hintergrund haben. Sehende erhalten eine Orientierung dank Überschriften, Farben und Bildern. «Aber als Blinder muss ich meist lange suchen, bis ich das Nötige gefunden habe», kritisiert Sherif. Manchmal kommt es sogar vor, dass bestimmte Inhalte so schlecht programmiert sind, dass der Screenreader sie nicht richtig vorliest. «Gerade bei einer Bank und wenn es um Zahlen geht, ist das natürlich extrem problematisch.»


Viel Potenzial bei Banken

Solche Probleme stellte Dietrich auch bei seiner Studie fest. Die Steuerung von Websites der untersuchten Banken funktionierte ohne Cursor manchmal gar nicht oder nur sehr schlecht. Bilder waren für Blinde bedeutungslos, weil sie keine Textalternative im Hintergrund haben, dank der ein Screenreader beschreiben kann, was auf dem Bild zu sehen ist. Auch für Menschen mit Seheinschränkungen gab es Hürden: Kontraste und Farben waren nicht optimal gewählt, und bei Links war nicht offensichtlich, wo sie hinführen sollen. «Lauter Dinge, die man sich nicht überlegt, wenn man keine visuelle Einschränkung hat», sagt Dietrich. 
Erstaunlich ist das leider nicht. «Nur jede dritte von uns untersuchte Bank hat das Thema Barrierefreiheit auf der Website thematisiert», hält Dietrich fest. «Und auch dort, wo sie ein Thema ist, wird sie nicht unbedingt konsequent umgesetzt.» Er erwähnt den European Accessibility Act (EAA), der 2025 in der EU in Kraft treten wird und die Regulierungen für Barrierefreiheit auch im digitalen Raum vereinheitlichen soll. «Ich gehe davon aus, dass solche Regulierungen auch in der Schweiz kommen werden», sagt er und ergänzt, dass der EAA in der Schweiz noch sehr wenig diskutiert werde. «Das Thema ist grundsätzlich noch zu wenig auf dem Radar. Doch es empfiehlt sich, sich frühzeitig damit zu beschäftigen.» 

Die Websites von Banken sind dabei nicht die einzigen Bereiche, in welchem der digitale Wandel für Menschen mit Behinderungen Lösungen bringen könnte. So helfen sprechende Bankomaten Sherif, Bargeld abzuheben. Mit kontaktlosen Bezahlmöglichkeiten wird der Einkauf einfacher – selbst wenn es dafür einen QR-Code braucht. «Den Code finde ich eigentlich immer», lacht Sherif. «Und bei digitalen Applikationen kann ich auch direkt herausfinden, ob der richtige Betrag abgebucht wurde.»

Doch er stellt auch Rückschritte fest – und einen Mangel an Bewusstsein für die digitalen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Immer mehr Bezahlterminals seien zum Beispiel mit Touchscreens ausgestattet. «Damit kann ich als Blinder nichts anfangen», kritisiert er. «Manchmal kann man dort zwar kontaktlos oder mit einer App bezahlen. Aber was, wenn ich das nicht habe?»

Ohnehin betont Sherif, dass man Barrierefreiheit nicht als abgeschlossenen Prozess betrachten darf. Es gibt keine Liste von Bedingungen, die erfüllt werden müssen und dann vergessen werden dürfen. Denn mit jeder Neuerung müsse man sich in die betroffenen Menschen hineindenken und wirklich verstehen, wie sie eine Dienstleistung nutzen.

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