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14.03.2022 von Muriel Raemy

Die Verteidigung unseres Lebensraums

ZAD-Aktivistinnen und -Aktivisten gehen ähnlich vor wie Hausbesetzerinnen und -besetzer. Ihre Forderungen gehen aber weit über jene nach erschwinglichem Wohnraum hinaus. Was verteidigen sie? Gegen wen? Einige Antworten gibt der Besuch bei der ZAD Clendy-Dessous in Yverdon, die im Dezember 2021 geräumt wurde.

Artikel in Thema bauen. wohnen. klima.
Illustration: Claudine Etter

Die zweite ZAD der Schweiz wurde im Oktober 2021 gegründet: Im Zuge einer Demonstration der Bewegung «Reprenons la ville» besetzten Aktivistinnen und Aktivsten des Kollektivs «Quartier libre» zwei schon lange leerstehende Wohnhäuser und das umliegende Brachland im Quartier Clendy-Dessous in Yverdon. Das Kollektiv hielt gut zwei Monate lang durch, bevor es den Kampf um das umstrittene Areal aufgab.

Zu verteidigende Gebiete

Die Abkürzung ZAD steht ursprünglich für «zones d’aménagement différé», was in etwa «Zonen mit aufgeschobener Entwicklung» heisst. Es handelt sich um Gebiete, die der französische Staat der Immobilienspekulation entziehen will und auf denen später gemeinnützige Projekte umgesetzt werden sollen. Die Bedeutung «zone à défendre», also «zu verteidigendes Gebiet», erhielten die ZAD zu Beginn der 2010er-Jahre in Notre-Dame-des-Landes im Norden von Nantes. Bürgerinnen und Bürger wehrten sich dort gegen den Bau eines neuen Regionalflughafens und setzten sich für den Schutz der Umwelt und das Recht der lokalen Bevölkerung auf Selbstbestimmung über ihr Land ein. Notre-Dame-des-Landes ist wohl bis heute die bekannteste ZAD.

Aktuell besetzen ZAD-Aktivistinnen und Aktivisten die deutsche Ortschaft Lützerath, um die Ausweitung des Braunkohleabbaus zu verhindern. Die «ZAD de la Colline» in Eclépens (VD), die erste ZAD in der Schweiz, existierte von Oktober 2020 bis März 2021. Die Aktivistinnen und Aktivisten besetzten den Hügel Mormont, um gegen den von der Lafarge-Holcim-Gruppe geplanten Ausbau des dortigen Steinbruchs zu protestieren. Sie warfen dem Zementmulti vor, die einzigartige Biodiversität des Mormont-Hügels – der zu den Landschaften und Naturdenkmälern von nationaler Bedeutung gehört – zu zerstören. Doch wie wirksam ist die Besetzung eines Gebiets als politisches Druckmittel, um ein Bauprojekt zu verhindern?

Gegen die Gentrifizierung

Im Quartier Clendy-Dessous in Yverdon sollen neun neue Wohn- und Geschäftsgebäude sowie eine Tiefgarage mit 170 Plätzen entstehen. «Die Politiker rechtfertigen die Neubauten mit dem Bevölkerungswachstum, während leer stehende Wohnungen einfach nicht mehr vergeben werden», so Thimotée, eine der Aktivistinnen von Clendy-Dessous. Das ZAD-Kollektiv fand heraus, dass im Stadtgebiet rund 167 Wohnungen leer stehen. «Der Immobiliensektor ist einer ungebremsten Spekulation ausgesetzt. Doch die Leute brauchen ein Dach über dem Kopf und keine überdimensionierten Projekte, die zu einer drastischen Erhöhung der Mietpreise führen.»

Die Aktivistinnen und Aktivisten sehen die Besetzung von leeren und vor dem Abriss stehenden Gebäuden als legitimes Mittel im Kampf gegen die Gentrifizierung an. Doch zahlreichen Parteien vor Ort stiess die Arealbesetzung in Clendy-Dessous sauer auf, auch dem mehrheitlich linken Stadtrat, der die ZAD-Forderungen nicht unterstützte. Das ZAD-Kollektiv nahm Kontakt mit den Eigentümern der Liegenschaften auf, um ihnen einen Leihvertrag vorzuschlagen. Dieser hätte vorgesehen, dass die Besetzerinnen und Besetzer die Wasser- und Stromkosten übernehmen und im Gegenzug das Recht erhalten, bis zu Beginn der Renovationsarbeiten oder des Abrisses in den Gebäuden zu wohnen. Als Antwort erhielten sie eine richterliche Vorladung wegen Hausfriedensbruchs und Verletzung von Privateigentum. Die rechtlichen und finanziellen Risiken waren den Aktivistinnen und Aktivisten zu hoch: Sie verliessen die ZAD Ende Dezember und verzichteten auf eine Konfrontation mit der Justiz.

Mit neuen Lebensformen experimentieren

Bei einem Besuch der ZAD Clendy-Dessous Mitte Dezember war es schwierig, die genaue Anzahl der Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort zu überblicken. Eine echte Gemeinschaft hatte sich gebildet; die Gruppengrösse variierte ständig, je nach Engagement und Verfügbarkeit der einzelnen Mitglieder des Kollektivs. Deren Identität wird durch Decknamen, eine inklusive Sprache und den Gebrauch der «Wir-Form» verschleiert. Hinter den neutralen Namen verbergen sich die unterschiedlichsten Persönlichkeiten, die durch ihr Engagement für radikal linke Zielsetzungen vereint werden. Die ZAD-Aktivistinnen und Aktivsten stammen aus der autonomen, anarchistischen, antikapitalistischen oder globalisierungskritischen Bewegung und besetzen einen Ort, um alternative Wohnformen aufzubauen, die auf konsequenten Umweltschutz ausgerichtet sind. Aber nicht nur: «Wir experimentieren mit neuen Lebensformen. Die ZADs ermöglichen uns, einen Ort zu gestalten, an dem wir uns selbst sein und ausserhalb der vorherrschenden Gesellschaftsnormen leben können», erklärt Noisette. Die Besetzung ist also nicht nur defensiv.

Die Stadt zurückerobern

Wem gehört der Boden? Wer entscheidet über seine Erschliessung? Das sind die zentralen Fragen, welche die ZAD-Bewegung beschäftigen, über das konkrete Projekt in Clendy-Dessous hinaus:  «Die Eigentümer und Immobilienentwickler sind die grossen Gewinner der Stadtplanung. Sie bauen die Stadt und verwalten sie so, dass die Interessen der Reichen, also ihre eigenen, gewahrt sind. Unsere Städte sind hektische, auf den Konsum und den motorisierten Verkehr ausgerichtete Orte geworden, von Männern für Männer gebaut. Wo sollen unsere Kinder spielen? Wo können sich ältere Menschen ausruhen?», fragt Noisette. Hinter ihren kämpferischen Aussagen ist die Sorge darüber zu erkennen, wer über unseren Lebensraum bestimmt. «Unser Wohnraum ist auf die heterosexuelle Familie mit zwei Einkommen zugeschnitten. Unsere Lebensweise wird massiv eingeschränkt von Immobilien, die auf veralteten Vorstellungen basieren und durch den Willen einer sehr dünnen Schicht von Privilegierten aus dem Boden gestampft werden. Wir möchten eine andere Zukunft möglich machen.»

Doch wie schafft man Alternativen, wenn sich weder die Politik noch die Behörden damit beschäftigen? Einige Wohnbaugenossenschaften versuchen, die aktuellen Herausforderungen des Wohnens im urbanen Raum anzugehen. So zum Beispiel Die soziale Wohngenossenschaft «Le Bled» zum Beispiel nahm an der öffentlichen Ausschreibung für Investoren teil, die von der Stadt Lausanne für das riesige Neubauquartier Les Plaines-du-Loup durchgeführt wurde. Das Ziel der Genossenschaftsmitglieder: den Wohnraum der Spekulation entziehen und ihn neuen Lebens- und Haushaltsformen anpassen, den Raum gemeinschaftlich nutzen, Parkplätze aus den Siedlungen verbannen und längerfristig die Nahrungsmittelproduktion durch den Aufbau einer landwirtschaftlichen Genossenschaft wieder lokal gestalten. «Es zeichnet sich ein gewisser Wandel ab. Doch unserer Ansicht nach werden herkömmliche Vorstellungen bei solchen Projekten noch immer nicht infrage gestellt. Es wird betoniert und verdichtet, und die Menschen werden voneinander isoliert! Wenn es um die städtebaulichen Herausforderungen geht, werden die Bewohnerinnen und Bewohner nie einbezogen. Sie können maximal wünschen, dass vielleicht eine tragende Wand verschoben wird. In unseren Augen bleibt der Protest das einzige Mittel, unsere Bedürfnisse nach sozialer und Klimagerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen», ist die ZAD-Aktivistin Thimotée überzeugt.

Dereinst eine «zone à désir»?

Die Aktivistinnen und Aktivisten möchten einen Ort errichten, an dem gemäss ihrem «antihierarchischen» Leitbild «die Regeln der staatlichen und kapitalistischen Herrschaft abgeschafft sind, wo eine Gesellschaftsform erprobt und gelebt wird, in der das Gemeinwohl im Mittelpunkt steht.» In Clendy-Dessous schufen sie einen Permakultur-Garten und Räume für kulturelle Darbietungen, sie luden die Bevölkerung zum Essen ein, um ihre alternative Lebensweise weiterzutragen. Sie organisierten jeden Montag Versammlungen, mit denen sie Nachbarinnen und Passanten für die Sache gewinnen wollten. Der Erfolg blieb bescheiden.

Die Aktivistinnen und Aktivisten verliessen den Ort «mit Trauer und Wut, aber mit der Überzeugung, dass unsere Strategie die richtige ist», wie es in ihrer Erklärung heisst. Einige fanden in anderen Aktivistenkreisen wieder ein Dach über dem Kopf, wie zum Beispiel im autonomen Zentrum Molino in Lugano, das trotz der Zwangsräumung im letzten Sommer wiedereröffnet wurde. Der Kampf für lebenswerten Wohnraum, für ökologisch sinnvolle Gebäude und lebendige Stadtquartiere, in denen Solidarität gelebt wird, ist mit der Räumung der ZAD in Yverdon nicht zu Ende, ganz im Gegenteil. Das Experiment für eine lebendige, ökologische und soziale Stadt hat erst begonnen, und vielleicht entsteht daraus einst eine «zone à désirer», ein Gebiet, wie wir es uns wünschen.

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