Selbständig – und trotzdem angestellt

Selbständig und angestellt sind zwei berufliche Status, die sich traditionellerweise gegenüberstehen; sie zu vereinen, ist keine leichte Aufgabe. «Wir sind das einzige Unternehmen dieser Art in der Westschweiz, vielleicht sogar das einzige in der Schweiz», sagt Yann Bernardinelli, Wissenschaftsjournalist, Mitgründer und Präsident von Neonomia. In der berufsübergreifenden Ge­nossenschaft sind Menschen aus unterschiedlichen Branchen vertreten, ausgenommen sind Hotellerie und Gastronomie, der Bausektor und das Gesundheitswesen. Wer an einem Beitritt interessiert ist, muss eine selbständige Erwerbstätigkeit nachweisen und die Charta von Neonomia für eine sozialere, solidarischere und nachhaltigere Wirtschaft unterzeichnen. Die Charta hält fest, dass Genossenschaftsmitglieder ethische Projekte entwickeln sollen (sowohl in sozialer wie in ökologischer Hinsicht), und bestimmt weiter, dass sie so weit wie möglich Kundinnen und Geschäftspartner vermeiden sollen, deren Aktivitäten diesen Werten widersprechen.

Neonomia ging aus einem Pilotprojekt des Netzwerks für eine soziale und solidarische Wirtschaft Genf hervor und wurde 2016 gegründet. Finanziell am Pilotprojekt beteiligt war auch die Stadt Genf, die damit den Status von angestellten Unternehmerinnen und Unternehmern testen wollte. Die Idee dazu stammt ursprünglich von französischen Genossenschaften, die seit über 30 Jahren existieren und im französischen Arbeitsrecht verankert sind.
Das Prinzip: Die Unternehmerinnen und Unternehmer unterschreiben mit Neonomia einen Arbeitsvertrag. Sie rechnen ihre Leistungen über die Genossenschaft ab und erhalten nach Abzug der Sozial- und Versicherungsabgaben ihren Lohn. Ein Teil des Umsatzes – zwischen sieben und zehn Prozent – wird als Beitrag an die Betriebskosten einbehalten. Darunter fallen die Buchhaltung, Verwaltungsaufgaben, Beratung oder die Miete des Co-Working-Space. Die angestellten Unternehmerinnen und Unternehmer müssen also lediglich Rechnungen verschicken, um alles andere kümmert sich die Genossenschaft.
Auch wenn das Schweizer Obligationenrecht keine angestellten Unternehmerinnen und Unternehmer vorsieht, entspricht der Arbeitsvertrag von Neonomia einem solchen Verhältnis. Für selbständig Erwerbstätige kann dies eine grosse Verbesserung sein, gerade in Krisenzeiten: «Bevor ich vor zwei Jahren zu Neonomia stiess, hatte ich keine Erwerbsausfallversicherung und keine zweite Säule. Meine Kollegen und ich erhielten sogar schon ab dem ersten Lockdown Kurzarbeitsentschädigung», sagt Jo-Anne Jones Lütjens, Redaktorin, Übersetzerin und Produzentin von Kulturveranstaltungen. Mittlerweile zählt Neonomia 25 Genossenschaftsmitglieder.

Risiken auf mehrere Personen verteilen, unangenehme Aufgaben bündeln und damit Lust auf eine selbständige Tätigkeit machen: Neonomia stellt ein Labor für neue Arbeitsformen dar. Yann Bernardinelli ist ­davon überzeugt, dass sich das Modell kopieren lässt – sofern die Bedingungen den Bedürfnissen der verschiedenen Branchen angepasst werden. Trotzdem betont er, dass ein politischer Impuls willkommen wäre. «Als Genossenschaftsmitglieder leiten wir Neonomia auf ehrenamtlicher Basis, was sehr viel Zeit und Energie kostet. In Anbetracht unseres gemeinnützigen Status könnte eine externe Unterstützung, zum Beispiel durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, dazu beitragen, eine Schlüsselposition in unserer Struktur zu profes­sionalisieren und das Modell zu verbreiten.» Der Präsident von Neonomia hofft, eine kritische Masse von etwa 50 Genossenschafterinnen und Genossenschaftern zu erreichen, um zu beweisen, dass dieses Modell den Unternehmergeist stärkt. «Plattformen wie Uber stellen keine existenzfähige Lösung für unternehmerische Tätigkeiten dar. Wir erfinden unsere Arbeitsbedingungen neu, um ein Einkommen und ein nachhaltiges wirtschaftliches Umfeld zu sichern.»