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19.06.2020 von Muriel Raemy

Wo der Wandel beginnt

Immer mehr Quartiere und Gemeinden schliessen sich der Transitionsbewegung an. Ihre Bewoh­nerinnen und Bewohner zeigen, dass eine einfache und autonome Lebensweise mit Freiheit, Unabhängigkeit und Resilienz einhergeht.Wir haben uns mit Mitgliedern des Netzwerks Transition-­Initiativen in der Westschweiz unter­halten.

Artikel in Thema Systemwandel - aber wie?
Illustration: Claudine Etter
Endlich war der Augenblick gekommen, und ich sollte Ungersheim besuchen, eines der Paradebeispiele der Transition-Towns-Bewegung. Die Elsässer Gemeinde mit etwas über 2000 Einwohnern setzt auf lokale Lebensmittel- und Energieproduktion. Damit hat sie alte Berufe wiederbelebt, Stellen zurück ins Dorf geholt und gleichzeitig ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringert. Ich freute mich schon länger darauf, dieses alternative Wirtschaftsmodell – das in Frankreich enthusiastisch als eine der spannendsten neuen Formen der Lokalwirtschaft beschrieben wird – mit eigenen Augen zu sehen. Doch dann wurden wegen der Corona-Pandemie die Grenzen geschlossen.
Das sollte mich aber nicht davon abhalten, das Thema aufzugreifen. Der Pandemie haben wir schliesslich zu verdanken, dass man sich vermehrt Gedanken über die Lebensweisen von morgen macht. Kommt es zu einer Relokalisierung? Wenn ja, wie wird der Wandel beschleunigt? Zahlreiche Akteure der Schweizer Zivilgesellschaft setzen sich aktiv dafür ein, dass unsere Institutionen die Reduktion der Treibhausgasemissionen ernsthaft vorantreiben, darunter Extinction Rebellion (XR), die Gletscher-Initiative und die Klimastreik-Bewegungen. Andere Initiativen entwickeln neue Formen des Zusammenlebens. Zwar gibt es bei uns noch keine Transition-Towns wie Ungersheim in Frankreich oder Bielefeld in Deutschland, doch allein der Westschweizer Zweig des Netzwerks Transition-Initiativen, der vor etwas mehr als einem Jahr entstanden ist, zählt bereits über vierzig Initiativen.
Was ist die Idee hinter dem Netzwerk? «Lokale Projekte, die schon mehr oder weniger lang existieren, miteinander zu verknüpfen und zusammenzuführen. Wir möchten sie unterstützen, ihnen Sichtbarkeit verleihen und sie aufwerten, um der Gesellschaft, die wir uns erträumen, schneller näher zu kommen», erklärt Sylvie Jungo Ayer, Vorstandsmitglied des Westschweizer Netzwerks.

Resilienz – die Zukunft neu schreiben

In der Praxis gibt es viele florierende Projekte in allen möglichen Lebensbereichen: urbane Landwirtschaft oder relokalisierte siedlungsnahe Nahrungsmittelproduktion, alternative Bildung, Unverpacktläden, Repair-Cafés, gemeinschaftliches Wohnen, erneuerbare Energien, Lokalwährungen, Sozial- und Solidarwirtschaft. «Ich glaube, dass die Menschen, die sich engagieren, einfach die Veränderungen vorantreiben möchten, die sie sich wünschen, ohne dass der Anreiz von oben kommt. Sie möchten ihr Quartier, ihre Gemeinde oder ihre Universität nachhaltiger und lebensfreundlicher gestalten. Sie möchten zusammenarbeiten und kon­krete Aktionen ins Leben rufen, die es ermöglichen, in menschlicheren, fröhlicheren, ökologischeren und schliesslich auch resilienteren Gemeinschaften zu leben», fährt Jungo Ayer fort.
Resilienz – dieses Wort, das in den Diskussionen über die Folgen der aktuellen Gesundheitskrise immer präsenter wird, ist in der Transition-Towns-Bewegung schon lange ein zentraler Begriff. Die ursprüngliche Idee der Bewegung, die Rob Hopkins 2006 von seiner Heimatstadt Totnes in Grossbritannien aus verbreitete, bestand darin, sich auf kommende Krisen vorzubereiten, die in unseren vollständig auf Wachstum ausgerichteten modernen Gesellschaften ausgelöst werden könnten, wenn die Erdölvorräte erschöpft sind. Sebas­tian Justiniano, der für das Fundraising des Westschweizer Netzwerks zuständig ist, ergänzt: «Ob nun beim Wiederaufbau einer nachhaltigen und starken Lokalwirtschaft oder sogar bei der Schaffung von neuen Wirtschafts- oder Gesellschaftsformen: Resilienz ist der Wille, gemeinsam auf ein menschen- und naturfreundlicheres Leben hinzuarbeiten.» Die Transitionsbewegung repräsentiert folglich den Widerstand gegen den linearen Fortschritt, sie ist ein konstruktiver Bruch, der auf einer positiven Zukunftsvision beruht – jenseits von Katastrophen- und Untergangsszenarien. Sie schafft Gemeinschaften, die auf gegenseitiger Hilfe, auf Einfachheit und Teilen basieren. Diese Vorstellungen scheint ein nicht zu vernachlässigender Teil der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten zu teilen, denn die Transitionsbewegung umfasst bereits über 4000 Initiativen in 55 Ländern.

Erfolgreiche Projekte wirken ansteckend

Antonin Lederrey, soziokultureller Animator und Co-Initiator von «Vully aujourd’hui» – einer im April 2019 lancierten Transitionsinitiative in der Gemeinde Mont-Vully –, hat erfahren, welche Kraft von Transi­tionsgeschichten ausgeht. «Im Rahmen meiner Arbeit habe ich es mit vielen jungen Menschen zu tun, die ihre Werte hinterfragen. Sie werden erwachsen und finden keinen Rahmen mehr, in dem sie ihre Ideale verwirk­lichen können.» So ist die Idee entstanden, die ganze Bevölkerung zu einem Tag der Begegnung einzuladen und ihnen Transitionsbeispiele aus der ganzen Welt vor­zustellen. «Die daraus entstandene Dynamik ist unglaublich. Unsere Initiative hat heute rund 50 ‹offizielle› Mitglieder, und über 200 Personen beteiligen sich an einzelnen Projekten.» Zehn Projekte werden schon umgesetzt, darunter Kochworkshops, generationenübergreifende Aktivitäten, ein Kunsthandwerksmarkt, Projekte zu den Themen Energiesparen, Abfallentsorgung und Partizipation usw.
Die Menschen lassen sich anstecken von dem, was andere erreicht haben. «Sie sehen, dass Menschen wie sie Lösungen finden können, wenn sie sich zusammenschliessen», freut sich Lederrey. «Den Weg der Transi­tion mit Gleichgesinnten zu gehen, kann Mut machen, den eigenen Lebensstil infrage zu stellen, oder helfen, sich weniger allein zu fühlen, wenn man versucht, seine Abfälle oder seinen Energieverbrauch zu reduzieren.»

Wohin führt der Wandel?

Die Faktoren, die Transitionsinitiativen erfolgreich machen, wurden im Laufe der Jahre gesammelt und in einem Ratgeber mit dem Titel «The Essential Guide to Doing Transition» veröffentlicht (Titel der deutschen Ausgabe: «Gemeinsam die Zukunft gestalten – ein Leitfaden für Transition-Initiativen»). Ganz oben auf der Liste: klein anfangen! Der Ratgeber empfiehlt, am besten auf Ebene des Quartiers oder der Gemeinde zu beginnen. «Man kann die Welt nur da ändern, wo man sich befindet», meint Edwyge Souillard, Kommunikationsverantwortliche des Westschweizer Netzwerks. Danach kommt der Grundsatz der gemeinschaftlichen Führung. «Es geht vor allem darum, dass man lernt, auf angenehme Art und effizient zusammenzuarbeiten. Man soll gemeinsam überlegen und entscheiden, gewaltfrei kommunizieren und die Meinungen aller respektieren. Weder in der Schule noch in Unternehmen vermittelt man uns die Kompetenzen oder die Instrumente für das Schaffen einer auf Vertrauen und Empathie beruhenden Gruppenkultur.» Die weltweite Transitionsbewegung legt besonderen Wert auf Bildung und Informa­tion. Wichtig ist beispielsweise das Fachwissen von Ausbildnerinnen und Ausbildnern, die auf partizipative Prozesse spezialisiert sind. Edwyge Souillard erklärt, wie verschiedene Interessen in ein lokales Netzwerk einfliessen können: So befassen sich die einen mit Fragen betreffend Gesundheit, Wohlbefinden, Solidarität, Wohnungspreise oder Arbeitslosigkeit im Quartier, während die anderen an übergreifenden Fragestellungen wie dem Klimawandel oder der Energieversorgung interessiert sind.

Jede Initiative trägt auf ihre Art zu einer Veränderung der Gesellschaft bei. Für Sebastian Justiniano sorgt die Existenz dieser möglichen Alternativen dafür, dass das vorherrschende System langsam Risse bekommt. «Aktivistische Bewegungen und Organisationen setzen sich seit langer Zeit dafür ein, eine solidarischere, demokratischere und ökologischere Schweiz zu schaffen. Ich träume davon, dass alles, was wir bisher erreicht haben, zu einem Nachhaltigkeitsbündnis auf Ebene der Gemeinden, der Kantone und vielleicht sogar des Bundes führt.» Es gibt kein Geheimrezept, aber Erfahrungen, die ausgetauscht werden können, Emotionen, die ernst genommen werden, Werte, denen man sich anschliessen kann, und Zukunftsvisionen, auf die man bauen kann. Jede und jeder ist aufgerufen, den Wandel mitzugestalten. Man braucht nur Vertrauen und den Mut, es zu versuchen. Schliesslich gibt es nichts zu verlieren, oder?

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