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22.09.2021 von Pieter Poldervaart

Gig-Unternehmen sind für die ABS doppelt verdächtig

Maximale Flexibilität der Beschäftigten und Auslagerung des unternehmerischen Risikos, das sind die zwei Motoren von Gig-Unternehmen. Geht das auf Kosten der Gig-Worker, haben entsprechende Firmen kaum Chancen, im ABS-Anlage­universum zu landen. Dennoch sind Ausnahmen möglich.


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Gig-Economy
Dienstleistungen wie die Auslieferung von Waren lassen sich besonders gut in Gig-Economy-Modelle auslagern, um Kosten zu sparen. Die ABS wendet in ihrer Unter­nehmensanalyse aber keine speziell für die Gig-Economy ­entwickelten Kriterien an, sondern achtet generell auf ­sozialverträgliche Arbeitsbedingungen.
Foto: iStock
Verletzung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): So lautet das wichtigste Argument, warum die Fachstelle Unternehmensanalyse der ABS 2018 den Online-Giganten Amazon schon in der allerersten Screening-Runde ablehnte. Tatsächlich gibt schon ein kurzes Surfen im Web zahlreiche Hinweise darauf, wie rücksichtslos sich der US-Konzern gegenüber seinen Beschäftigten verhält – gegenüber den Festangestellten, wohlgemerkt. Noch prekärer ist es für jene, die für die Tochter Amazon-Flex als Ich-AG Pakete vom Verteil­zentrum zur Kundschaft transportieren. Diese Form des Mini-Unternehmertums ist in den USA, in vielen Regionen Deutschlands und anderen Ländern schon eingeführt. Zwar werden in unserem nördlichen Nachbarland den Fahrerinnen und Fahrern auf Abruf 25 Euro Stundenlohn vergütet. Doch der überdurchschnittliche Lohn täuscht: Sämtliche Kosten inklusive Anmeldung beim Gewerbeamt, Treibstoff, Unterhaltskosten am privaten Fahrzeug und Erwerbsausfall bei Unfall, Krankheit oder Ferien übernimmt die freiberuflich arbeitende Person selbst, der Nettolohn beträgt unter dem Strich um die 10 Euro. «Wenn schon das Mutterhaus punkto Sozialleistungen derart schlecht abschneidet, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Tochter sie in Sachen Nachhaltigkeit übertrumpft», bilanziert Lutz Deibler aus seiner 15-jährigen Tätigkeit als Leiter der ABS-Fachstelle Unternehmensanalyse. Denn solche Firmen würden oft gerade deshalb gegründet, um sich beispielsweise den Pflichten eines Gesamtarbeitsvertrags zu entziehen. 
Lutz Deibler leitete 15 Jahre lang den Bereich Unternehmens­analyse bei der ABS. Foto: Wolf AG, Olten

Flexible Jobs nach «Tupperware-Modell»

Doch unmöglich sei es nicht, dass die neue, unverbind­liche Arbeitsform auch sozial fortschrittlich sei und ­deshalb in der Nachhaltigkeitsanalyse überzeuge. Lutz Deibler nennt das Beispiel von Natura & Co, einem brasilianischen Kosmetikkonzern, der in den letzten fünf Jahren Konkurrenten wie The Body Shop und Avon schluckte. Aufgrund der überwiegend natürlichen Inhaltsstoffe, des Verzichts auf Gentechnik und Tier­versuche sowie der Klimaneutralität gilt das Unternehmen als grüner Musterschüler der Branche. Neben den 35 000 Festangestellten engagieren sich sage und schreibe zehn Millionen Verkäuferinnen und Berater im Direktvertrieb. «Je nach Definition kann man dies als Gig-Economy verstehen», sagt Lutz Deibler. Aber weil Natura & Co zumindest bei den freien Beraterinnen und Beratern hohe Sozialstandards durchsetze, erhalte die Firma vier von fünf ABS-Nach­haltigkeitspunkten. In vielen Ländern Lateinamerikas ist die Vertriebsform der «Tupperware-Party» etabliert. Häufig sind es ­allein­erziehende Mütter, denen solche zeitlich frei wähl­baren Engagements einen Verdienst ermöglichen. 

Schlecht bezahlte Services

Eine allgemeine Nachhaltigkeitsanalyse von Gig-Unternehmen plant die ABS nicht. Bisher fehlen schlicht Unternehmen, die überhaupt Chancen hätten, ins Portfolio zu gelangen. Sinnvoller sei es, im Einzelfall zu prüfen, ob die Firma den strengen ABS-Kriterien entspreche, meint Lutz Deibler. Gegen eine insgesamt nachhaltige Gig-Economy spricht, dass sie sich derzeit vor allem in Servicebranchen wie Warenlogistik, Taxi und Hotellerie durchsetzt, die traditionell unterdurchschnittliche Arbeitsbedingungen anbieten.

Die Tochter wählt grün

Neben sozialen und ökonomischen Kriterien beurteilt die ABS bei der Auswahl der Aktien und Obligationen auch ökologische Faktoren. Dass die mehrheitlich fossil agierende Ener­gias de Portugal (EDP), einer der wichtigsten Energieversorger Europas, nicht zum Zug kommt, liegt auf der Hand. Die 2007 gegründete Tochter EDP Renováveis hingegen konzentriert sich auf Energie aus Wind, Wasser und Strom. Entsprechend kam sie bei der ABS-Prüfung schlank durch und könnte womöglich sogar Einzug in den ABS-Anlagefonds halten. Das Beispiel zeigt, dass im Bereich Ökologie eine Tochterfirma durchaus fortschrittlicher sein kann als das Mutterhaus. 
Im Fall der EDP Renováveis scheint die ­Tochter sogar ihre Mutter auf grüne Pfade zu führen: Das Stammhaus EDP plant, bis 2030 aus der Kohle auszusteigen und die CO2-Emissionen um 90 Prozent zu ­senken. 

Weitere Infos zu Ausschlusskriterien der ABS:
abs.ch/ausschlusskriterien

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