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04.12.2019 von Esther Banz

« Ich verbessere lieber »

In der Modeindustrie herrscht nach wie vor Ausbeutung. Das zeigt der neuste Firmencheck von Public Eye: Von 45 befragten Unternehmen kann nur eines glaubhafte Hinweise liefern, dass die Arbeiterinnen und ­Arbeiter in den Produktionsbetrieben fair bezahlt werden: das mittelgrosse Unternehmen Nile vom Bielersee.­ Warum gelingt ihm, womit andere sich so schwertun?

Artikel in Thema Mensch, KMU!
Illustration: Claudine Etter
In der kleinen Nile-Filiale am Zürcher Limmatquai herrscht mitten an einem Freitagnachmittag Hochbetrieb. Frauen nehmen Pullover, Hosen, Blusen von den Bügeln und verschwinden zur Anprobe hinter Vorhängen in Kabinen. Die hinterste ist auch ein Durchgang: Er führt, wie eine Verkäuferin aufmunternd versichert, in den ersten Stock, «zu unserem jungen Chef».

Marc Willy empfängt den Besuch in einem altehrwürdigen Raum – hier lässt sich in aller Ruhe die Kollektion der kommenden Saison betrachten und anfassen, aktuell die Frühlings-/Sommer-Kollektion 2020. Der 33-jährige casual gekleidete CEO bittet an einen grossen Tisch, sein Laptop ist bereits aufgeklappt. Er wird dem Besuch von Stoffen, Techniken, Abwasser, Stapellängen, Kontrollen, Zertifikaten, Audits, Verhaltenskodexen, Eckpreisdaten erzählen und erklären, warum Nile im Firmencheck 2019 der Clean Clothes Campaign (CCC), die in der Schweiz von der NGO Public Eye koordiniert wird, so positiv heraussticht.

Eine Herzensangelegenheit – und ein immenser Aufwand

Man möchte meinen, es müsste selbstverständlich sein, dass Unternehmen die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten ernsthaft verbessern wollen. Aber in der Modeindustrie ist das Gegenteil der Fall: Im Firmencheck konnte ausser Nile keine der befragten Firmen glaubhaft aufzeigen, dass sie in den Ländern, in denen sie ihre Mode herstellen lassen (das Hauptsitzland ausgenommen), wenigstens einem Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter einen Existenzlohn zahlen – was bedeuten würde, dass die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung, Bildung, Gesundheit und Transport einer vierköpfigen Familie abgedeckt sind und noch kleine Rücklagen für Unvorhergesehenes bleiben.

Warum und wie schafft Nile, was die meisten anderen grossen und mittelgrossen Textilunternehmen nur leer versprechen? Der seit einem Jahr alleinige CEO des Bieler Unternehmens will keine Vergleiche anstellen. Mit Blick auf seine eigene Firma sagt er: «Bei uns ist die soziale Verantwortung und die ökologische Nachhaltigkeit nicht an eine Stabsstelle delegiert: Weil beides für mich eine Herzensangelegenheit ist, kümmere ich mich persönlich darum.» Der Aufwand sei immens, sagt Willy, er verbringe unzählige Stunden mit Recherchen, Tabellen, Auswertungen und leiste auch Überzeugungsarbeit. «Mir war klar: Wenn ich das pushen will, muss ich mich selber in die Details reinknien.» Er definierte eine erste Priorität: Nile arbeitet nur mit Produzenten zusammen, die bereits erfolgreich von Zertifizierern geprüft sind. Und er fordert deren Audits an, «um einen möglichst tiefen Einblick zu haben».

Langjährige Zusammenarbeit als Schlüssel zum Erfolg

Lange Zeit gaben sich Modefirmen, die beispielsweise in China produzieren, mit dem Kontakt zur Näherei zufrieden. Sozial und ökologisch handeln heisst als Textilunternehmen aber, sich für die ganze Produktionskette verantwortlich zu sehen – und da kommt die Näherei erst ganz am Schluss. Ihr vorgelagert sind beispielsweise Baumwollproduzenten, Färbereien, Druckereien, Garnspinnereien und Webereien. Nile hat die Namen von allen Betrieben, mit denen ihre Nähereien zusammenarbeiten – das sei nicht üblich und zeuge von Vertrauen, sagt Marc Willy: «Wir verdanken es langjähriger Zusammenarbeit.» Dass Nile mit nur wenigen Produzenten zusammenarbeitet und dies zum Teil schon seit vielen Jahren, streicht auch Public Eye hervor. Für die NGO ist das ein sehr wichtiges Indiz dafür, dass Nile es mit den Existenzlöhnen ernst nimmt: «Der Preis scheint für Nile nicht das alleinige oder gar das wichtigste Kriterium bei der Auswahl seiner Produzenten zu sein, den Respekt der Arbeitsrechte gewichtet die Firma ebenfalls hoch», sagt Elisabeth Schenk, Co-Autorin des Firmenchecks bei Public Eye.

Tatsächlich hat Nile verschiedenste Instrumente, um sicherzustellen, dass seine Produzenten und deren Lieferanten ihre soziale Verantwortung ernst nehmen: Es gibt einen Kodex, den alle Produktionsbetriebe unterzeichnen müssen. Neben dem Existenzlohn definiert er das Diskriminierungs- und Ausbeutungsverbot, die Arbeitszeiten und mehr. Die Produzenten kommen ferner nicht umhin, alle vorgelagerten Lieferanten mit Adresse anzugeben sowie unangemeldeten Kontrollen zuzustimmen. Auch muss jeder Betrieb das Nile-Formular «Arbeitsbedingungen» aushängen, auf dem ein E-Mail-Kontakt zu Nile angegeben ist; Beschwerden gehen direkt an Marc Willy. Ausserdem fragt Nile nach den Lohnlisten der Produzenten – und erhält sie, was laut Willy nur wegen des bestehenden Vertrauensverhältnisses möglich sei. Im Gegenzug könnten die Betriebe auf eine weitere langjährige Zusammenarbeit zählen: Sie müssen nicht befürchten, dass die höheren Produktionskosten, die aus den sozialen Anforderungen resultieren, für sie zu einem Nachteil werden.

Erst darüber reden, wenn es wirklich gut ist

Das Familienunternehmen Nile gibt es seit 1983. Zuerst produzierte es noch in der Schweiz. Als es hierzulande immer weniger Hersteller gab, sei Nile zunächst nach Italien und Ungarn ausgewichen, erzählt Willy, der selber seit 2008 im Betrieb tätig ist. Schliesslich verlagerte das Unternehmen die Produktion nach China – wie viele andere auch. Und dort ist Nile geblieben, auch als die Löhne stiegen und viele andere weiterzogen. In Schanghai betreibt Nile ein eigenes Büro mit fünf Angestellten, drei von ihnen seien stets in den nahe gelegenen Fabriken unterwegs.

Stabilität, langjährige Zusammenarbeit und der Sinn für Nachhaltigkeit kämen nicht nur von ihm, sagt der Firmenchef, «diese Werte teilen auch andere wichtige Personen im Unternehmen, so etwa unsere Chefdesignerin Edith Hansmann, die von Anfang an dabei war».
Unüblich für diese Branche ist zudem, dass Nile seine ethischen Ansprüche, auch die ökologischen, bis anhin nur sehr diskret kommuniziert hat. Warum die Zurückhaltung? Er habe zuerst einen guten Sockel erarbeiten wollen, eine lückenlose Dokumentation jedes Arbeitsschritts für jedes Programm der Kollektion, sagt Marc Willy und ergänzt: «Erst wenn wir richtig gut sind, werden wir erzählen, wie gut wir sind. Ich arbeite lieber an der Verbesserung als am Zeigen.»

Der Firmencheck der Clean Clothes Campaign

Schon 2014 untersuchte die Clean Clothes Campaign – ein Netzwerk von 250 NGO, Gewerkschaften und anderen Organisationen in Europa und Asien –, zu welchen Bedin­gungen Arbeiterinnen und Arbeiter Kleider produzieren, die bei uns verkauft werden.

Das Resultat gibt einen Eindruck davon, wie ausbeuterisch Mode meist hergestellt wird. Der diesjährige ­Bericht (pdf) knüpft an den Firmencheck von 2014 an, die ihm zugrunde liegende ­Frage lautet: Welches der 45 Textilunternehmen, 19 von ihnen aus der Schweiz, hat Fortschritte gemacht? Wer arbeitet darauf hin, dass der ­eigene Profit nicht auf Menschenrechtsverletzungen beruht?

Das Resultat zeigt, dass die guten Absichts­erklärungen, die viele Modeunternehmen nach dem ­Firmencheck von 2014 äusserten, fast nur leere Versprechen waren. «Keine Schweizer Firma ausser Nile machte ­vorwärts. Wir haben in dieser Branche eine Krise der ­Glaubwürdigkeit», sagt die Kam­pagnenverantwortliche Elisabeth Schenk, «die Mil­liardengewinne übersteigen teilweise das Bruttoinlandprodukt der Länder, in denen produziert wird. Und dieselben Unternehmen tun zu wenig, damit Regierungen die Mindestlöhne ausreichend anheben.»

Public Eye will die «Mauer des Schweigens» durchbrechen, fordert rechtsverbindliche Vereinbarungen und führt die Kampagne fort, auch mittels Crowd -research: Dabei können freiwillige Interessierte selber zu den unterschiedlichsten Firmen recherchieren.

Weitere Infos: publiceye.ch/mode
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