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22.09.2021 von Florian Wüstholz

«Keine Bewertung ist auch eine Information »

Bewerten und bewertet werden sind essenzielle Handlungen in der Gig-Economy. Was auf der Oberfläche wie blosses Feedback wirkt, dient der Sortierung und ­Disziplinierung und macht die Gig-Economy überhaupt erst möglich, erklärt Soziologe Markus Unternährer.

Artikel in Thema Gig-Economy
Markus Unternährer ist Soziologe an der Univer­sität Luzern. Er forscht zu den Fragen, wie unser Alltag zu Daten gemacht wird, wie Algorithmen beobachten und welche ­Ordnungen sie erzeugen.
Foto: Florian Wüstholz

moneta: Markus Unternährer, was haben Sie im Internet zuletzt bewertet?
Markus Unternährer: Ich glaube, das war ein Kauf im Online-Auktionshaus Ricardo. ­Eine typische Standardbewertung: positiv, tipptopp, gerne wieder. Auf Ricardo sind fast alle Bewertungen positiv. Sie besagen einfach, ob der Kauf ordnungsgemäss ­ablief oder nicht.
Etwas anders sieht das bei Gig-Economy-Unternehmen wie Uber oder Airbnb aus. Dort können die Fahrt, das Gesamt­er­lebnis, die Ausstattung oder die Sauberkeit auf einer Skala von eins bis fünf bewertet werden. Was ist die Funk­tion dieser Bewertungen?
Vordergründig stellen sie in einem anonymen und digitalen Raum Vertrauen her. Hat ein Airbnb-Gastgeber gute Bewertungen, schafft das für Gäste Sicherheit. Und wenn ich via Uber andere herumchauffiere, weiss ich, dass nur vertrauenswürdige Personen, die von anderen Fahrerinnen gute Bewertungen erhielten, in mein ­Auto einsteigen.
Und was läuft im Hintergrund ab?
Das Bewertungssystem suggeriert eine ­Objektivität, an der sich die Nutzenden ­orientieren sollen. Tatsächlich dienen die Bewertungen vor allem den Algorithmen und dem Unternehmen. Sie sind essenziell für das Businessmodell. Uber übt damit Kontrolle über die Fahrerinnen und Fahrer aus. Ihnen drohen zum Beispiel Konsequenzen, wenn ihr Durchschnittswert unter 4,7 sinkt. So treibt Uber diese zu Extraleistungen an und legt ihnen zum Beispiel nahe, Getränke oder eine Lade­station für Smartphones anzubieten, um eine Fünf zu erhalten.
Bewertungen entscheiden also darüber, ob Fahrerinnen und Fahrer weiterhin Geld verdienen können? 
Genau. Darüber hinaus werden die Daten dazu genutzt, Unterschiede zwischen den Nutzenden zu erzeugen und Angebot und Nachfrage zu koordinieren. Wer einen guten Score hat, wird möglicherweise zuerst für einen Auftrag angefragt. Ähnlich in Online-Shops: Ob eine Festplatte 4,7 oder 4,8 Sterne hat, ist für die Konsumierenden kaum relevant. Doch die Algorithmen nutzen Bewertungen, um personalisierte oder nach Popularität und Qualität ­ge­ordnete Empfehlungen auszuspielen.
Ohne Bewertungen also keine Gig-Economy?
Das ist zu einfach gedacht. Aber tatsächlich sind die Plattformen darauf angewiesen, dass wir wertvolle Daten über die sozialen Interaktionen generieren. Diese können genutzt werden, um das Angebot algorithmisch zu optimieren. In einem gewissen Sinn verrichten wir mit unseren Bewertungen also Gratisarbeit für Uber und Co.
Was macht es mit uns, wenn wir uns ständig gegenseitig bewerten?
Das ist schwierig zu sagen. In der Folge «Nosedive» der dystopischen Serie «Black Mirror» haben alle einen Score, und jede soziale Interaktion wird bewertet. Gleichzeitig stehen gewisse Orte und Dienst­leistungen nur denen offen, die einen bestimmten Score erreichen. Der Clou ist, dass sie vor der Interaktion bereits wissen, dass sie bewertet werden. Andererseits stellt sich heraus, dass gewisse Bewertungen und damit gewisse Indivi­duen mehr wert sind als andere. Das verändert das Verhalten natürlich markant.
So weit sind wir aber in der Realität doch noch nicht.
Nein, aber die Gig-Economy geht in diese Richtung. Und mit den US-amerikanischen Credit-Scores oder der Bonitätsprüfung in der Schweiz gibt es ganz ähn­liche Systeme.
Inwiefern?
Solche Bewertungsmechanismen be­einflussen die ökonomischen und sozialen Chancen von Individuen. Wer über eine schlechte Bonität verfügt, hat weniger Chancen, einen Kredit zu erhalten und zum Beispiel ein Geschäft zu eröffnen.
Wäre es also am einfachsten, sich Bewertungen ganz zu entziehen?
Das funktioniert nicht. In all diesen ­Netzwerken ist es nicht unbedingt ein gutes Zeichen, wenn man keine Spuren hinterlässt. Wer auf Airbnb keine Bewertungen hat, bekommt keine Gäste. Und ohne Kreditgeschichte muss ich auf andere Art beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin. Wir können uns zwar einzelnen Be­wertungen entziehen, indem wir Uber oder Airbnb nicht nutzen, aber nicht dem gesamten System. Denn nicht bewertet zu werden oder keine Bewertungen abzugeben, ist auch eine Information.
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