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22.09.2021 von Florian Wüstholz

Wenn Firmen Gesetze schreiben

Das Silicon Valley ist der Treiber der globalen Gig-Economy. Uber, DoorDash oder Amazon geben alles daran, ­ihre Vision der Arbeit voranzutreiben. Sie haben volle Kriegskassen und ­keine Hemmungen, ­Arbeitskämpfe zu unterdrücken.

Artikel in Thema Gig-Economy
Illustration: Claudine Etter
Es war der wohl teuerste Abstimmungskampf über ein einzelnes Gesetz in den USA. Über 200 Millionen Dollar verpulverten die Gig-Economy-Unternehmen Uber, Lyft, DoorDash und Instacart im letzten Jahr, um ein Gesetz im Bundesstaat Kalifornien durchzudrücken. Das Ziel: Die eigenen Fahrerinnen und Lieferanten sollten weiterhin als Selbständige gelten und damit kein Anrecht auf Sozialleistungen erhalten.
Nebst klassischer Werbung wurden die eigenen Arbeiterinnen und App-Nutzer gezielt mit Propaganda geflutet. In den Apps erschienen Hinweise auf die Abstimmung. Lieferantinnen von Instacart mussten Sticker in die ausgelieferten Einkaufstaschen legen. Und die Arbeiter von DoorDash wurden gezwungen, Plastiktüten der Ja-Kampagne zu verwenden. Die gigantische Maschinerie hatte Erfolg: Am 3. November 2020 stimmten fast 59 Prozent in Kalifornien für die «Proposition 22».

Steuerung ja, soziale Verantwortung nein

Mit dem neuen Gesetz sicherten sich die Liefer- und Transportfirmen eine massgeschneiderte Ausnahme von der 2019 in Kalifornien beschlossenen «Assembly Bill 5». Diese sah eigentlich vor, dass Arbeitende in der Gig-Economy als Angestellte gelten und entsprechend behandelt werden müssen. Das hätte das Geschäftsmodell von Uber und Co. auf die Probe gestellt. Denn sie profitieren davon, die Mitarbeitenden algorithmisch zu steuern und gleichzeitig keine soziale und arbeitsrechtliche Verantwortung für sie übernehmen zu müssen. So erstaunt es nicht, dass die Unternehmen vor der Abstimmung drohten, sich bei einer Ablehnung aus Kalifornien zurückzuziehen, weil ihnen ohne das neue Gesetz ein «irreparabler Schaden» zugefügt würde.
Besonders frappant: Die Firmen schrieben das Gesetz gleich selber mit und erreichten, dass eine nachträgliche Änderung fast unmöglich wird. Um es abzuwandeln, wäre eine Mehrheit von sieben Achteln nötig  – eine bisher noch nie da gewesene Hürde. So zeigten die Gig-Economy-Unternehmen eindrücklich, wie sehr sie der Politik und der Gesellschaft bereits ihren Stempel aufdrücken können.

Das Risiko tragen die Arbeitenden

Das Silicon Valley bietet mit seinem hyperindivi­dualisierten, technokratischen und urbanen Charakter den perfekten Nährboden für die Gig-Economy. Mangels staatlicher Infrastruktur und Regulierung und dank schier endlos verfügbarem Risikokapital können die Firmen ihre Umwelt ganz nach eigenem Gutdünken gestalten und ausbeuten. Google und Apple haben eigene Buslinien, um die Arbeitenden zu transportieren, weil ein öffentlicher Verkehr fehlt. Wer nicht bei den Techunternehmen arbeitet, muss selber nach Lösungen schauen.
Dabei ist die Gig-Economy ein Produkt der Finanz- und Schuldenkrise. Airbnb wurde 2008 gegründet, ein Jahr später folgte Uber. Die neu gegründeten Plattform­unternehmen profitierten davon, dass viele Arbeitende in den USA durch die Rezession ihren Job oder ihr Haus verloren hatten, und sie besassen die nötigen technischen Mittel, um die Situation optimal auszubeuten. Denn sie bieten eine schnörkellose Plattform und unkomplizierte Erwerbsmöglichkeiten. Typisch für die Gig-Economy ist auch die Rückkehr zu einer Lohnform, die als ausgestorben galt: dem Stücklohn. Die Mitarbeitenden von Uber werden pro Fahrt und diejenigen von DoorDash pro Lieferung bezahlt, es gibt weder geregelte Arbeitszeiten noch einen fixen Stundenlohn. Schiebt ihnen der Algorithmus keine Aufträge zu, gehen sie leer aus. So lassen sich die unternehmerischen Risiken geschickt auf die Arbeitenden abwälzen und diese gleichzeitig kontrollieren und disziplinieren.
So befördert die Gig-Economy auch den Trend zur massenhaften Überwachung und Datafizierung des Lebens. Sämtliche Interaktionen der Arbeitenden und Plattformnutzerinnen werden aufgezeichnet, algorithmisch gesteuert und bewertet. Nur, wer sich an die Vorgaben hält, erhält längerfristig Zugang zu den Dienstleistungen. Ein Verständnis des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das im Silicon Valley als alternativlos gilt.

Flexibilisierte Arbeit breitet sich aus

Die «Proposition 22» ist also nicht bloss ein Gesetz in einem einzelnen Bundesstaat. Sie läutet womöglich eine neue Ära ein. Immerhin gehen Schätzungen davon aus, dass 36 Prozent der Arbeitenden in den USA in der Gig-Economy tätig sind. Gleichzeitig stülpen die Unternehmen ihre eigene Vision der Arbeit dem Rest der Gesellschaft über. Bereits träumen Investoren von Uber öffentlich davon, wie die Gig-Economy bald in allen möglichen Arbeitsbereichen Einzug halten könnte: in der Landwirtschaft, im Unterricht, auf Baustellen, in der Pflege, im Finanzbereich oder in Restaurants. Sie würden am liebsten das Zeitalter der geregelten Arbeit beenden. Die mit der Gig-Economy verbundenen Arbeits- und Abstimmungskämpfe sind deshalb auch über die Grenzen des Silicon Valley hinaus von grösster Relevanz, gilt doch die Gig-Economy als «Labor der flexibilisierten und digitalisierten Arbeit». Bereits kündigten erste Supermärkte und Unternehmen an, ihre eigenen Lieferdienste durch «Selbständige» zu ersetzen. Das Narrativ ist dabei altbekannt: Man wolle «einen effizienteren Ablauf schaffen». Auch für die Politik hat die «Proposition 22» Signalwirkung: Bereits werden ähnliche Gesetze in anderen Bundesstaaten aufgegleist. Die Lobbyisten der Gig-Economy haben auch beste Verbindungen zur Regierung von Joe Biden, der eigentlich versprach, Arbeitende in der Gig-Economy besser zu schützen.

Gewerkschaftliche Organisation kaum möglich

Der Kampf gegen diese Entwicklungen erweist sich in den USA als besonders schwierig. Gewerkschaften haben dort seit jeher einen schweren Stand: Das «union busting» – die systematische Bekämpfung und Zerstörung von Gewerkschaften – wurde in den USA quasi erfunden. Techkonzerne wie Amazon oder Google wehren sich vehement gegen die gewerkschaftliche Organisa­tion von Arbeitenden und bemühen sich, jegliche Versuche im Keim zu ersticken. Im April scheiterte zum Beispiel eine wegweisende und medial beachtete Kampagne zur Gewerkschaftsbildung bei Amazon in der Kleinstadt Bessemer, Alabama. Im dortigen Versandzentrum stimmte am Ende eine Mehrheit der Angestellten gegen die Bildung einer Gewerkschaft.
Wie Uber und Co. bei der «Proposition 22» setzte Amazon auch in Bessemer auf Einschüchterung und die blanke Macht des eigenen Kapitals. Teure Beraterinnen und Berater wurden eingestellt, Angestellte mussten an Informationsanlässen teilnehmen und wurden dort darauf eingeschworen, gegen das Vorhaben zu stimmen. Es ist auch bekannt, dass der zweitgrösste Arbeitgeber der USA die eigene Belegschaft rund um die Uhr digital überwacht – eine Tatsache, die die freie Meinungsäusserung nicht fördert.
Da Arbeitende in Plattformunternehmen wie Uber und Co. nicht als Angestellte gelten, ist ihre gewerkschaftliche Organisation zusätzlich erschwert. Ihre Verhandlungsmacht ist entsprechend gering, sodass die Gig-Economy-Unternehmen sie schlicht ignorieren können. So schreibt das Gig Workers Collective im Nachgang der Abstimmung in Kalifornien: «Unsere Organisation war immer schon unkonventionell, da wir nicht als Angestellte gelten und nicht über den rechtlichen Schutz verfügen, um uns gewerkschaftlich zu organisieren. Trotzdem haben wir einen Weg gefunden, die Macht der Arbeitenden aufzubauen und uns zur Wehr zu setzen.» Immerhin mussten Uber und Co. eine Rekordsumme in Propaganda stecken, um ihre Interessen an der Urne durchzusetzen.

Niedergang der Demokratie?

Solche Beispiele zeigen, wie sich die Gewerkschaften und Arbeitenden in den USA in einer hoffnungslosen Zwickmühle befinden. Sie können sich entweder auf den schweren und wenig aussichtsreichen Kampf gegen Gesetze wie die «Proposition 22» einsetzen. Oder sie können mit den Unternehmen kooperieren und einen Kompromiss akzeptieren, um Schlimmeres zu verhindern. Nach dem durchschlagenden Erfolg der «Proposition 22» sind immer mehr Gewerkschaften bereit, den zweiten Weg einzuschlagen und das System der Gig-Economy nicht mehr anzugreifen, um kleine Verbesserungen wie eine Gesundheitsvorsorge zu erkämpfen.
Die «Proposition 22» zeigt auch, wie die Player der Gig-Economy mit Angstmacherei und Erpressung ihre eigene Denkweise durchsetzen und damit die demokratische Macht untergraben können. Die Organisation Gig Workers Rising schreibt gar, dass die Unternehmen die Bevölkerung gezielt hinters Licht geführt hätten: «Der Erfolg der ‹Proposition 22› ist eine Niederlage für unsere Demokratie, welche die Tür für andere Versuche von Konzernen öffnet, ihre eigenen Gesetze zu schreiben.»
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