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19.06.2019 von Muriel Raemy

«Was die Natur leistet, ist nicht bezifferbar»

Die Berechnung des monetären Wertes von Ökosystemleistungen gewinnt an Bedeutung. Für den Biologen Martin Schlaepfer greift das zu kurz – er verfolgt einen komplementären Ansatz.

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Foto: Carole Parodi

moneta: Herr Schlaepfer, Sie sind Biologe, Uni-Dozent und Mitgründer des Umweltfachleute-Netzwerks GE-21, das für die Leistungen der Natur sensibilisieren will. Wie gehen Sie dabei vor?

Martin Schlaepfer: Wir untersuchten beispielsweise die herausragende Rolle der Bäume für unser Wohlbefinden. Was sie alles für uns leisten, auch ihre verborgenen Werte, erläutern wir aktuell im Bericht «Unsere Bäume». Diese vielseitigen Leistungen der Natur gilt es unserer Meinung nach bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen.

 

Was leisten die Bäume konkret alles?

Wir können aufzeigen, dass sie auf vielfältige Weise kostenlos zum Wohlergehen von Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft beitragen. Ein Beispiel: Indem Bäume Schatten spenden und Hitzeinseln reduzieren, fördern sie die soziale Interaktion und bringen Leben in die Quartiere. Ausserdem verringern Bäume die durch den Regen bedingte Erosion, sie binden Kohlendioxid und reinigen die Luft, indem sie schädliche Partikel herausfiltern. Mittels der Kartierung, die wir vorgenommen haben, konnten wir Gebiete identifizieren, die sich für zukünftige Begrünungsmassnahmen eignen.

 

Es ist wohl nicht einfach, den Wert dieser Ökosystemleistungen in Franken zu beziffern, um so auch aufzuzeigen, was verloren geht, wenn die Natur immer mehr unter Druck kommt – wie haben Sie das gemacht?

Wir haben darauf verzichtet. Stattdessen haben wir alle von den Bäumen erbrachten Ökosystemleistungen formuliert, aufgelistet und quantifiziert – zum Beispiel haben wir ermittelt, welcher Prozentsatz des Schattens gesamthaft vom Laub der Bäume gespendet wird. Die Bedeutung der Bäume in Worten und in Zahlen aufzuzeigen – auch ohne sie in Geldwert auszudrücken –, ermöglicht, die Bäume dem kurzfristigen Gewinndenken zu entziehen und zu verhindern, dass sie regelmässig grossen Bauprojekten zum Opfer fallen. Meines Erachtens ist es falsch, Dinge, die für das Leben auf der Erde grundlegend sind, mit einem monetären Wert versehen zu wollen.

 

Dennoch sammeln, analysieren und erarbeiten Biologen laufend Daten, mittels derer das Leben auf der Erde gemessen und quantifiziert wird.

Die Arten zu zählen, reicht nicht aus. In den Naturwissenschaften fehlt beispielsweise eine Art Fiebermesser für die Natur. Wir wissen, dass bestimmte Lebensräume und Arten verschwinden, doch macht dies das ökologische System tatsächlich dysfunktional? Die Natur ist resilient. Ich stelle diese Frage bewusst provokativ. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir zu weit gehen, dass wir dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Dennoch befinden wir uns mit dieser Wahrnehmung im Bereich des Halbquantitativen oder gar der Intuition.

 

Finden Sie internationale Indikatorsysteme zum Zustand der Ressourcen oder der Biodiversität also fragwürdig? *

Nein, ganz im Gegenteil. Diese Indikatoren sind unabdingbar, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Menschen weltweit auf die Zerbrechlichkeit unserer Ökosysteme zu lenken und aufzuzeigen, wie sie voneinander abhängen und welche Folgen unser Handeln für sie hat. Doch die Zusammenhänge sind komplex, und es ist schwierig, die direkte Verbindung zwischen dieser oder jener Art und unserem Wohlergehen aufzuzeigen. Zudem beantworten auch alle Indikatoren zusammen nicht die Frage, wie viel Natur für unser Überleben notwendig ist. Das ist die Krux: Es gibt keine Zweifel daran, dass wir von einer gesunden und resilienten Natur abhängen – aber wie beweisen wir das, mit welcher Art von Berechnung? Das ist die zentrale Frage, für die wir Lösungen erarbeiten.


* Beispielsweise die neun planetaren Grenzen, die 2009 von einem Forschungsteam unter der Leitung von Johan Rockström identifiziert wurden. Seither wurde eine zehnte Belastbarkeitsgrenze definiert. Ein Kurzfilm des Bafu erklärt das Konzept. Zu erwähnen sind auch die 20 Ziele des «Strategischen Plans zur Biodiversität 2011–2020», der in Nagoya verabschiedet wurde, die sogenannten Aichi-Ziele.

Martin Schlaepfer ist Biologe und Dozent für nachhaltige Entwicklung an der Universität Genf. Er leitet aktuell Kurse über nachhaltige Finanzierung, Ökosystemdienstleistungen und nachhaltige Entwicklung.
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