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18.03.2020 von Marius Brülhart

Wenn Erbschaften die Vermögensungleichheit verringern

Der Umfang der vererbten Vermögen wächst rasant. Dieses Jahr sind es geschätzte 95 Milliarden Franken. Viele Beobachter sehen darin eine Entwicklung, die Vermögensungleichheiten zementiert, ja verstärkt. Dem ist jedoch nicht unbedingt so.

Artikel in Thema Erben

In der Schweiz werden dieses Jahr geschätzte 95 Milliarden Franken vererbt und verschenkt. Das ist beispielsweise doppelt soviel wie die Summe aller ausbezahlten AHV-Renten. Während die AHV explizit darauf abzielt, Einkommensunterschiede zu reduzieren, werden Erbschaften gemeinhin als Treiber der wirtschaftlichen Ungleichheit betrachtet. Die Initianten der eidgenössischen Erbschaftssteuervorlage von 2015 priesen ihre Idee denn auch in erster Linie als «Gegensteuer» zu einer immer ungleicheren Verteilung der Vermögen. Die Vorlage wurde deutlich verworfen. Könnte es nun sein, dass die Initianten nicht nur mit ihrer Einschätzung der Volksmeinung, sondern gar mit ihrer zentralen Prämisse falsch lagen? Befeuern Erbschaften die Vermögensungleichheit überhaupt?

Seit der Diskussion von 2015 wurden zwei auf Schweizer Daten beruhende Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Die Berner Soziologen Ben Jann und Robert Fluder haben Steuerdaten aus dem Kanton Bern über den Zeitraum 2002–2012 ausgewertet. Die Studie dokumentiert, dass 18 Prozent der Erbschaften an Erben fliessen, die ohnehin schon zum Top-1-Vermögensprozent gehören. Die Autoren schliessen aufs Matthäus-Prinzip: «Wer hat, dem wird gegeben». Es ist allerdings denkbar, dass Erbschaften die Vermögenungleichheit verringern, auch wenn Reiche im Schnitt mehr erben als Arme. Nehmen wir ein einfaches Zahlenbeispiel. Ein «armer» Erbe mit 50‘000 Franken Vermögen erhält 100‘000 Franken, und sein reicher Nachbar mit 5 Millionen Franken Vermögen erbt eine Million. Der Reiche erbt zehnmal mehr als der Arme: Wer hat, dem wird gegeben. 

Kurzfristig wirken Erbschaften ausgleichend

Aber das Vermögen des Armen hat sich dank der Erbschaft verdreifacht, während das Vermögen des Reichen um bloss 20 Prozent gewachsen ist. Das Verhältnis ihrer Vermögen ist somit von 100:1 auf 40:1 geschrumpft. Die Vermögensungleichheit ist gemäss aller gängigen Ungleichheitsmasse – Gini-Index, Perzentil-Verhältnisse, und wie sie alle heissen – kleiner geworden, und dies obwohl der absolute Unterschied um 900‘000 Franken gewachsen ist.

Gemäss der Berner Daten haben Erben im Top-1-Vermögensprozent satte 18 Prozent aller Erbschaften erhalten. Der Anteil dieser gleichen Gruppe an den gesamten steuerbaren Vermögen liegt in der Schweiz mittlerweile jedoch bei noch satteren 40 Prozent. Die Top-1-Prozenter halten also einen grösseren Teil am Vermögenskuchen als ihnen vom Erbschaftskuchen zukommt. Das bedeutet wiederum, dass sich Erbschaften ausgleichend auf die Vermögensverteilung auswirken.

Zu eben diesem Befund kommt die zweite Schweizer Studie jüngeren Datums. Peter Moser vom Statistischen Amt Zürich hat Zürcher Steuerdaten über den Zeitraum 2006–2015 ausgewertet. Er beobachtet, dass die Vermögensdisparitäten unter Steuerzahlern im Alterssegment 57-67 markant zurückgehen. Da dies ein besonders stark von Erbschaften betroffener Lebensabschnitt ist, schliesst Peter Moser auf eine ausgleichende Wirkung der Erbschaften. Auch gemäss Studien aus Dänemark und Schweden fällt das Reich-Arm-Gefälle bei den Erbschaften weniger stark aus als bei den Vermögen.

Langfristig ergibt sich ein anderes Bild

Eine auf schwedische Daten gestützte aktuelle Studie zeigt hingegen auf, dass arme Erben ihr Erbe rascher konsumieren als reiche Erben. Über einen Zeitraum von zehn Jahren nach dem Erbgang konsumieren die meisten Leute ihr gesamtes Erbe – ausser Erben im Top-1-Vermögensperzentil. Deren geerbte Vermögen sind auch zehn Jahre nach dem Erbgang noch weitgehend intakt. Diese Unterschiede beim Vermögensverzehr führen dazu, dass Erbschaften in der langfristigen Betrachtung die Vermögensungleichheit vergrössern. Somit erscheinen Erbschaften durchaus wieder als Treiber von dynastischer Vermögenskonzentration und langfristiger Ungleichheit.

Inwiefern diese Befunde auf die Schweiz zutreffen, wissen wir nicht. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass Erbschaften die Vermögensungleichheit nicht gar so stark befeuern, wie landläufig angenommen.

Literatur

Jann, Ben; Fluder, Robert (2015): «Erbschaften und Schenkungen im Kanton Bern, Steuerjahre 2002 bis 2012». University of Bern Social Sciences Working Papers, No 11.

Moser, Peter (2019): «Vermögens­entwicklung und -mobilität. Eine ­Panelanalyse von Steuer­daten des Kantons Zürich 2006 – 2015». Statistik.info 2019/02.

Piketty, Thomas (2014): «Capital of the Twenty-First ­Century». Harvard University Press.
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