Es ist noch nicht lange her, da konnte man die Hierarchie in einem Unternehmen an den Parkplätzen und an der Grösse des Büros ablesen. Ohne Blick ins Organigramm erkannten auch Externe ohne Mühe, wer der Direktion angehörte und wer die wichtigen Entscheidungen fällte. Wer es nach ganz oben geschafft hatte, kultivierte die Statussymbole und unterstrich damit die eigene Macht. Heute gilt ausgeprägte Hierarchie vielerorts als rückständig. Wöchentlich erscheinen Medienbeiträge über ganze Unternehmen, die künftig auf Cheffunktionen verzichten, und über börsenkotierte Konzerne, die das mittlere Management abschaffen und alle Angestellten zu Mitunternehmerinnen und -unternehmer machen wollen. Ist das bloss eine neue Management-Marotte oder wird die Organisation von Arbeit gerade auf grundlegende Weise verändert?
Entwicklung der Mitarbeitenden als Firmenzweck im Handelsregister
Fragen wir nach in der IT-Branche bei den Pionieren des Hierarchieabbaus. «In vielen Organisationen dominiert das Streben nach Macht», sagt Jonathan Möller. «Wenn Chefs ihre Macht absichern, indem sie Entscheidungen monopolisieren und andere klein halten, begünstigt das aber weder die Entwicklung der Mitarbeitenden noch die Kundenzufriedenheit.» Möller hat immer nur in Unternehmen gearbeitet, die er selbst gegründet hat – und sich als Chef jeweils möglichst rasch wieder abgesetzt. Bei seiner achten Firma Foryouandyourcustomers, die Digitalisierungslösungen anbietet, hat er die Entwicklung der Mitarbeitenden als einen zentralen Firmenzweck im Handelsregister eintragen lassen. Das Unternehmen ist dezentral organisiert; in mehreren Zellen mit maximal 25 Personen bringen Mitarbeitende eigenverantwortlich ihre Stärken ein. Zentral gesteuert wird möglichst wenig. «Wir vertrauen darauf, dass unsere Leute selbst am besten wissen, was sie gut können und gerne tun», sagt Möller.
Auch das IT-Unternehmen Liip hat die Macht der Chefs früh beschnitten. Dessen Mitgründer Christian Stocker erinnert sich, wie die vier Liip-Gründer sich nach kräftigem Firmenwachstum eingestehen mussten, dass es unmöglich war, alle wichtigen Entscheidungen «ganz oben» zu treffen. Vor acht Jahren bildeten sie daher kleine Teams à 5 bis 15 Personen, die bis auf die Löhne praktisch alles selbst entscheiden konnten. Für Stocker ein befreiender Moment: «Ich war glücklich, wieder in Projekten mitzuarbeiten, also das tun zu dürfen, was ich liebe.»
Umstellung als «Auswilderung von Zootieren»
In den letzten Jahren haben Elemente der Selbstorganisation auch ausserhalb der IT- und Start-up-Branche Fuss gefasst, etwa bei der Swisscom, Migros, Axa, Roche oder Novartis. Nicht überall zeitigte der Abbau von Hierarchiestufen und der Aufruf zu unternehmerischem Handeln die erhofften positiven Effekte. In vielen Unternehmen verunsicherte die Umstellung; zudem leistete das mittlere Management, das Privilegen verlor, zum Teil heftigen Widerstand.
Wenn Mitarbeiter situativ mehr Verantwortung übernehmen und ohne formelle Macht führen, ist das anspruchsvoll und anstrengend. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat die Einführung von Selbstorganisation mit der «Auswilderung von Zootieren» verglichen: Menschen, die von jungen Jahren an gelernt haben, Erwartungen zu erfüllen und sich unterzuordnen, sollen nun auf Knopfdruck plötzlich mutig gestalten und Verantwortung übernehmen. Das kann man weder befehlen noch durch Einführung eines neuen Organigramms erzwingen.
«Besser argumentieren und mehr überzeugen»
Als Iris Menn im Jahr 2018 die Verantwortung für Greenpeace Schweiz übernahm, war die Organisation noch belastet von einer Phase des Stellenabbaus. Die frühere Geschäftsleitung war als Flaschenhals für Entscheidungen wahrgenommen worden, die Stimmung schlecht. Deshalb gaben die Mitarbeitenden der neuen Chefin gleich zu Beginn zu verstehen, dass sie künftig mitentscheiden und einbezogen werden wollten. Das fiel bei Menn auf fruchtbaren Boden: «Wir können uns gerne auf den Weg machen», sagte sie, «aber wir führen nicht einfach eine neue Struktur ein. Entscheidend ist, dass wir ein Organisationsmodell entwickeln, das uns in unserem Daseinszweck unterstützt, und dass wir an unserer Kultur und den Prozessen arbeiten, bevor wir eine Struktur festlegen.»
So wurden in einem Entwicklungsprozess aus getrennten Abteilungen interdisziplinäre Kampagnenteams und aus starren Jobprofilen Rollen mit klaren Aufgaben und Entscheidungsbefugnissen. «Für mich als Chefin bedeutete dies, dass ich viel weniger selbst entscheiden, aber besser argumentieren und mehr überzeugen musste», sagt Iris Menn. Damit konnte die erfahrene Managerin gut leben. «Ich bin überzeugt davon, dass die Qualität von Entscheidungen höher ist, wenn diese dort getroffen werden, wo die Expertise zum Thema sitzt», sagt Menn und ergänzt, das bedinge, dass Führungskräfte loslassen und vertrauen könnten.
Abbildung von Verantwortlichkeiten ist herausfordernd
Eine Herausforderung für Unternehmen, die von der hierarchischen Organisationsform abrücken, ist die Abbildung von Verantwortlichkeiten. Gibt es fixe Abteilungen, Teamleiter und eine Geschäftsleitung, sind die Zuständigkeiten rasch geklärt. Übernehmen Mitarbeitende je nach Projekt verschiedene Rollen und Entscheidungsbefugnisse, wird es ungleich komplexer. Der Berner IT-Unternehmer Bastiaan van Rooden schafft hier seit einiger Zeit Abhilfe. Mit seinem Produkt Peerdom hat er so etwas wie das «Google Maps der Unternehmensorganisation» geschaffen: Eine Software, die Organisationen hilft, ihre Rollen, Kommunikations- und Entscheidungswege abzubilden und so Organigramme zu schaffen, die eine einfache Orientierung in den neuen Strukturen ermöglichen. Nebst NGOs wie Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen nutzen auch Abteilungen bei Roche, Lufthansa und Bayer die Change-Management-Software. «Unsere Software hat den Vorteil, dass sie sich flexibel an die Realität des jeweiligen Unternehmens anpassen lässt», sagt van Rooden. Er rät Unternehmen, Veränderungen nicht hinter verschlossenen Chef-Türen zu beschliessen und dann «top-down» durchzusetzen, sondern permanent mit jenen zu kommunizieren, die es betrifft. Das schaffe Vertrauen, und Vertrauen sei ein Produktivitäts-Booster.
Es braucht klar ersichtlichen Sinn
Der frühere McKinsey-Berater Frédéric Laloux, Autor des Standardwerks «Reinventing Organizations», weist darauf hin, dass Selbstorganisation nur gelinge, wenn es in einem Unternehmen einen klar ersichtlichen Sinn gebe, der alle Mitarbeitenden leite und motiviere. Und wenn die Führung darüber hinaus Demut an den Tag lege: «Starke Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass deren Leader allen Personen auf Augenhöhe begegnen, gut zuhören und Einladungen aussprechen anstatt Anweisungen zu erteilen», sagt Laloux und fügt an: «Es steht und fällt alles mit dem Menschen- und Organisationsbild der obersten Führungsetage.» Wenn es die oberste Führung ernst meint mit dem Kulturwandel, können auch grosse Unternehmen in kurzer Zeit sehr agil werden. So hat beim Sportartikel-Giganten Décathlon der Abbau von zwölf auf vier Hierarchiestufen und die Einladung an alle 82'000 Mitarbeitenden, selbst die Initiative zu ergreifen, dazu geführt, dass innerhalb von vier Jahren mehr neue Filialen eröffnet werden konnten als in den 40 Jahren davor, in denen alles von der Zentrale aus geplant und gesteuert worden war.
Das Beispiel zeigt: Unternehmen mit klassisch hierarchischer Organisation sind auf Dauer schlicht zu langsam und zu wenig flexibel, um in der digitalisierten Welt eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn das Denken und Entscheiden einigen Wenigen vorbehalten ist und alle anderen bloss Dienst nach Vorschrift leisten, wird wertvolles Potenzial vergeudet. Unternehmen tun allerdings gut daran, sorgfältig zu prüfen, welche Organisationsform zu ihnen passt und wie sie alle Betroffenen in die Transformation einbeziehen können. Und: Demokratischere Organisationsformen verlangen auf allen Ebenen ein höheres Mass an persönlicher Reife und Reflexionsbereitschaft als strikt hierarchische Unternehmen.