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20.06.2018 von Michael Gasser

Das Herz schlägt für die Heimbewohner

Seit zehn Jahren führt Yvonne Flückiger das Demezhaus Oberi Bäch in Huttwil BE. Zusammen mit ihren Angestellten will die Bernerin den 19 Bewohnerinnen und Bewohnern nicht nur ein Gefühl der Normalität vermitteln, sondern sich auch möglichst viel Zeit für sie nehmen.


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Porträts

22 Jahre lang führte Yvonne Flückiger zusammen mit ihrem Mann Jörg ein Dekorationsgeschäft mitten in Huttwil. Bis es sie wieder zielstrebig zum Pflegeberuf zurückzog. Flückiger ist diplomierte Pflegefachfrau, Homöopathin und unterdessen auch ausgebildete Heimleiterin. Die Neuorientierung kam ins Rollen, als sie 2003 am Rand der Berner Gemeinde ein Emmentaler Bauernhaus entdeckte, das zum Verkauf stand. «Das war Liebe auf den ersten Blick», erinnert sich Flückiger. Damals besassen sie und ihr Mann ein «hübsches Haus im Städtli», doch der Hof Oberi Bäch und dessen Potenzial wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf. «Also kauften wir ihn», sagt sie. Ein Entscheid nicht ohne Risiko. Zwar war Flückiger entschlossen, auf der ehemaligen und unbebauten Hofstatt ein Haus für Demenzkranke entstehen zu lassen, doch: Wo sollte das dafür notwendige Geld herkommen? Obschon sich Familie und Freunde bereit zeigten, ihr mit Darlehen unter die Arme zu greifen, war klar: Die Finanzierung des Projektes war alles andere als gesichert. «Also setzte ich ein Inserat auf und suchte damit nach Investoren», so Flückiger. Mit ernüchterndem Rücklauf. Selbst ihre damalige Hausbank war nicht gewillt, das Vorhaben zu unterstützen. Deshalb klapperte sie weitere Institute ab, bis sie von einem Bekannten den Tipp erhielt, es bei der Alternativen Bank Schweiz zu versuchen.

Rasch aus den roten Zahlen

«Schon bei den ersten Gesprächen mit der ABS hatte ich ein sehr gutes Gefühl. Auch, weil meine Ansprechpartner von Beginn weg offen kommunizierten», erklärt Flückiger. Und betont, wie sehr sie die transparente Lohnpolitik der ABS und deren Einstehen für nachhaltige Projekte schätzt. «Beides finde ich super», sagt die 57-Jährige mit Nachdruck. Mit dem gewährten Kredit in der Höhe von rund 2,5 Millionen Franken war es ihr möglich, das Haus ganz nach ihren Vorstellungen zu bauen. «Um die Kosten tief zu halten, haben mein Mann, der gelernter Bodenleger ist, und ich einiges an Eigenleistungen erbracht», erzählt sie. Insbesondere das über die Jahre erworbene Wissen aus dem Dekorationsgeschäft sei beim Vorhaben hilfreich gewesen, etwa beim Farbkonzept. 2007 war es dann so weit: Das Demenzhaus Oberi Bäch öffnete seine Tore. «Und obschon unser Businessplan davon ausging, dass wir während fünf Jahren rote Zahlen schreiben, waren wir bereits 2009 im Plus.»
Doch warum gerade ein Haus für Demenzkranke? «Das war eine Art Eingebung. Allerdings hatte mich das Thema schon länger fasziniert», führt die Bernerin aus. Im Vorfeld hatte sie denn auch etliche Demenzstationen besucht – und war danach von ihrem Vorhaben überzeugter denn je. Obwohl Flückiger im Haus Oberi Bäch zugleich für die Heimleitung und den Pflegedienst verantwortlich ist, macht sie keinen Hehl daraus, dass sie sich vor allem in der Pflege zu Hause fühlt. «Das Administrative gehört zu meinen Aufgaben, doch ich sitze alles andere als gern im Büro.» In den ersten Jahren nahm das Haus vorwiegend ausserkantonale Bewohnerinnen und Bewohner auf. «Weil wir ein privates Unternehmen sind, hatten viele wohl das Gefühl, wir seien teurer als staatliche Demenzhäuser. Dem war aber nicht so, im Gegenteil.» Seit das Gesetz zur Pflegefinanzierung 2010 geändert wurde, kosten alle Einrichtungen gleich viel. Ob Zufall oder nicht: Mittlerweile stammen die meisten der Bewohnerinnen und Bewohner im Haus Oberi Bäch aus der Region.

Gefragt sind Empathie, Geduld und Flexibilität

Aktuell leben 19 Demenzkranke im Haus, womit dieses voll belegt ist. Dazu gesellen sich noch zwei Tagesgäste. Betreut werden die zwischen 61 und 95 Jahre alten Bewohnerinnen und Bewohner von insgesamt 38 Pflegerinnen, die sich 20 Vollzeitstellen teilen. Dass ausser ihrem Ehegatten, der für die Haustechnik zuständig ist, derzeit kein einziger Mann im Betrieb arbeitet, erklärt Flückiger auch mit schlechten Erfahrungen. «Wer bei uns tätig sein will, sollte geduldig, flexibel und resilient sein – und über viel Empathie und Sozialkompetenz verfügen, zumal die Verfassung der Betroffenen von Tag zu Tag stark variieren kann.» Während die Heimleiterin erzählt, wandern ihre Augen immer wieder durch das Gartenareal. Sie beobachtet, was ihre Schützlinge treiben und wo es sie gerade hinzieht. «Menschen mit Demenz haben einen grossen Bewegungsdrang», weiss Flückiger.
Um sicherzustellen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner nicht einfach auf und davon spazieren, ist das Areal eingezäunt. «Uns ist es ein grosses Anliegen, dass die Leute so viel umhergehen können, wie sie möchten. Es wirkt beruhigend auf sie», sagt Flückiger. Dementsprechend seien die Türen vom Oberi Bäch selbst nachts geöffnet. Der rund 1700 Quadratmeter grosse Garten, der das Haus umgibt, zeichnet sich nicht nur durch eine blühende Naturwiese mit schönem Baumbestand und einem Mini-Biotop aus, in dem jeden Frühling Frösche auftauchen, sondern auch durch zahlreiche Spazierwege. Diese sind bewusst so gestaltet, dass sie allesamt miteinander verbunden sind. Das ist Teil des Betreuungskonzeptes. Hierzu gehören auch die Tiere: ein Hund, zwei Katzen, mehrere Ziegen und Pferde. Sie sollen dazu beitragen, das Leben der Betroffenen zu bereichern und ihnen ein Gefühl von Normalität zu vermitteln. «Ich denke, es ist viel wert, Tiere zu halten», meint Flückiger. Zwar würden diese nicht von allen gleich geschätzt, dennoch sorgen sie für Gesprächsstoff.

Mit harmonischer Farbpalette

Auch das Innere des dreistöckigen und lichterfüllten Hauses wurde mit viel Bedacht gestaltet. Die Zimmer können von den Bewohnerinnen und Bewohnern oder deren Angehörigen selbst dekoriert werden. Die allgemeinen Räume präsentieren sich nicht nur wohnlich, sondern geradezu gemütlich. Namentlich der vielen bequemen Sessel und Sofas wegen. «Weil Menschen mit einer Demenz sensibel auf Farben reagieren, haben wir uns für eine harmonische Farbpalette entschieden », erklärt Flückiger. Der kurze Einblick in den Alltag des Hauses Oberi Bäch offenbart ein Bild von Zufriedenheit und entspanntem Leben. «Bei uns gibt es nur wenige freiheitsbeschränkende Massnahmen», hält die Heimleiterin fest. Soweit wie möglich wird auf Bettgitter verzichtet und Medikamente werden äusserst zurückhaltend eingesetzt. «Dass uns das derart gut gelingt, liegt sicherlich auch an den wohldurchdachten Strukturen», ist Flückiger überzeugt. «Obschon sich die Krankheit bei jedem Betroffenen unterschiedlich äussert, kommt bei allen irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern.» Umso wichtiger sei es, dass sich jemand Zeit für diese Menschen nehme, sagt Yvonne Flückiger. Und macht klar, worauf hier das Augenmerk gerichtet wird. Ausbaupläne hegt sie keine, denn: «Das Heim ist aus meiner Sicht gut so, wie es ist.» Um ihren Qualitätsanspruch zu erfüllen und die familiäre Atmosphäre beizubehalten, werde sie auch in Zukunft so oft wie möglich in der Pflege mitarbeiten. Nicht zuletzt, um die nötige Übersicht zu behalten. Hätte Flückiger einen Wunsch frei, dann käme dieser vor allem ihren Angestellten zugute: «Ich würde mir erhoffen, dass der Pflegeberuf wieder vermehrt Anerkennung erhält.» Im Demenzhaus Oberi Bäch wird alles unternommen, damit dieser Wunsch bereits heute so weit wie möglich realisiert und umgesetzt werden kann.
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