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18.03.2020 von Peter Schneider

Erben und Erben lassen

Ein Vermögen zu erben, widerspricht dem Leistungsprinzip. Aber das ist nicht die ­einzige Ambivalenz, die mit dem Erben verbunden ist. Ein Essay über Neid, Gerechtigkeit und sentimentale Bedenken gegenüber Erbschaftssteuern. Und über das Erben als Tabu und Beziehungsdelikt.

Artikel in Thema Erben
Illustration: Claudine Etter
Wer über das Erben nachdenkt, kommt leicht vom Hundertsten ins Tausendste. Hier darum nur eine kleine Auswahl der Facetten des Erbens. Vor dem inneren Auge des neidischen Betrachters erscheinen zum Beispiel verwöhnte und/oder rebellische Grossbürgerkinder, deren Coolness für einen selber stets unerreichbar war. Ob in der Kindheit und Jugend verwöhnt oder, im Gegenteil, aus ideologischen Gründen knapp gehalten, brauchten sie sich niemals Sorgen um die Finanzierung ihrer Existenz zu machen, weil sie einmal ein Vermögen erben würden, gegen das keine noch so gute Pensionskasse würde anstinken können. Dieser Neid ist gewissermassen prophylaktisch, er härtet einen immunisierend gegen das ab, was man empfinden wird, wenn der Erbfall erst einmal eingetreten ist.

Neid kann sich aber rückwärtsgewandt selbst noch auf diejenigen erstrecken, die es sich leisten konnten («leisten»?), ein grosses Erbe auszuschlagen, wie Ludwig Wittgenstein oder wie der Bankierssohn Aby Warburg, der – so die Legende – schon früh auf sein Erbe verzichtet hatte, und zwar zugunsten der Zusage, dass ihm die Familie den Aufbau seiner (tatsächlich legendär gewordenen) Bibliothek finanzierte. Wenn man an den Zigaretten-Erben Jan Philipp Reemtsma denkt, der mit dem geerbten und gut angelegten Geld das Hamburger Institut für Sozialforschung gründete und Arno Schmidts Mäzen wurde, schwant einem, dass der Neid auf die immensen Vermögen, die vererbt und geerbt werden, vielleicht verständlich, aber das daraus sich nährende Generalressentiment nicht zwangsläufig gerechtfertigt ist. Es gibt eben auch Erben, die etwas Vernünftiges mit ihrem Vermögen anfangen; solche, die nicht als «rebels without a cause» anfangen und als Unternehmer mit kaltem Herzen und kühlem Verstand enden, die in China zu Billigstlöhnen produzieren lassen, weil sie schliesslich kein Geld zu verschenken haben. Aber trotzdem ...

In einer Leistungsgesellschaft ist Erben immer ein Makel

Denn Letztere gibt es – Gott sei Dank, sagt der Neid – eben auch: Erben, die ihr Erbe nicht verdient haben. Damit sind wir bei der Frage der Gerechtigkeit. (Nietzsche würde sagen: Das Prinzip der Gerechtigkeit ist ohnehin nur die Fortsetzung des Ressentiments mit anderen Mitteln. Und die dumm-naturalistische Fraktion der Evolutionstheoretiker könnte – apropos «Vererbung» – die polemische Frage anfügen: Seit wann ist die Genetik gerecht? Beides ist selbstverständlich kurzschlüssiger Bullshit.) Item: Wie kann man sich ein Erbe überhaupt «verdienen»? Gehört es nicht zur Definition eines Erbes, dass man es nicht selbst verdient hat, sondern dass man gratis zum Nutzniesser fremder Leistung wird?

In der Perspektive einer reinen Meritokratie ist ein Erbe immer ein dysfunktionaler Makel. Jede soll nur das haben und nur nach dem beurteilt werden, was sie selbst erarbeitet und geleistet hat. Dieser Satz klingt irgendwie gut und gerecht – freilich auch verdächtig nach: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. (Im Original stammt der Satz aus dem zweiten Brief des Apostel Paulus an die Thessalonicher, zustimmend zitiert wird er sowohl von August Bebel als auch Adolf Hitler und Josef Stalin und sogar von Franz Müntefering.) Ist nicht gerade das Unverdiente des Erbes eine Erinnerung an die Grausamkeit einer zur absoluten Maxime erhobenen Leistung? Ja. Erinnert es aber nicht auch unan­genehm an feudale Zustände und an demokratischer Kontrolle entzogene Vermögens- und damit Machtkonzentration? Ja. Und so schwankt man zwischen der Forderung nach Abschaffung der Erbschaftssteuer und der nach Einführung einer Erbschaftssteuer von 100 Prozent.

Wenige profitieren übermässig viel

Damit sind wir bei der politischen Frage, wie ein sozialer und demokratischer Staat wenn schon nicht gerechterweise, so doch wenigstens vernünftigerweise mit den immensen Beträgen, die jährlich vererbt werden, umgehen soll. Die Juso des Kantons Zürich forderten in einem Papier von 2018 «eine Erbschaftssteuer von 100 Prozent» mit der Begründung, dass die «Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung zeigen, dass das reichste Prozent der Steuerpflichtigen über 40 Prozent des Gesamtvermögens aller Schweizer und Schweizerinnen besitzt. Von diesen Vermögen wurden 2015 in der Schweiz 76 Milliarden vererbt ... Das sind zehn Mil­liarden mehr als das Staatsbudget der Eidgenossenschaft. Erben also alle Schweizerinnen und Schweizer jedes Jahr 10 000 Franken? Nein. Ein Drittel der Bevölkerung wird nie etwas erben. Und drei Viertel der vererbten 76 Milliarden gehen an nur zehn Prozent. Diese Milliardenerbschaften zerstören die Chancengleichheit.» Sehr beiläufig steht in diesem Beitrag ausserdem noch der Satz: «Über einen angemessenen Freibetrag sowie Ausnahmen bestehend aus kleineren Besitztümern mit sentimentalem Wert kann noch diskutiert werden.»

2015 wurde über die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer von 20 Prozent für Vermögen über zwei Millionen abgestimmt. Die Initiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV» wurde mit 71 Prozent der Stimmen verworfen. Offenbar hatten nur 29 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger keine sentimentalen Bedenken hinsichtlich Vermögen, die über die Zwei-Millionen-Grenze hinausgingen. Der Rest schien in Zürcher Vermögensmassstäben gedacht zu haben. Wer hier das Haus seiner Eltern mit vier Mietwohnungen in passabler Lage erbt, ist leicht von einem Tag auf den anderen nicht etwa nur eine, sondern gleich fünf Millionen reicher. Da fragt man sich dann: Könnte das im Grunde nicht jeder und jedem von uns passieren? Nun ja ... Eher nein ... Aber gegen Überlegungen wie diese lässt sich schlecht argumentieren.

« Erben erinnert unangenehm an feudale Zustände und an demokratischer ­Kontrolle entzogene Vermögens- und ­damit Machtkonzentration. »
Peter Schneider

Über Erbschaften wird nur ungern gesprochen

Damit wären wir bei der Psychologie des Erbens. Zur Psychologie des Erbens gehört zunächst, was man das Tabu des Erbens nennen könnte: Man spricht ungern über ein ererbtes Vermögen oder ein zu erwartendes ­Erbe. Auf ein Erbe zu rechnen, erscheint wie eine Spe­kulation mit und auf den Tod. Von seinem bereits er­erbten Erbe zu sprechen, wiederum verbietet sich, um nicht den Neid der anderen zu wecken; nach der Grösse eines ererbten Vermögens zu fragen, ist taktlos. Der Gefragte könnte denken, die Frage sei eben nicht nur eine Frage, sondern ein impliziter Vorwurf wegen des unverdienten Spekulationsgewinns, der zudem noch ohne den Einsatz des eigenen Vermögens zustande gekommen ist.

Optimal hingegen ist es, wenn ein Onkel aus Amerika stirbt, von dessen Existenz die Nichte erst in dem Moment erfährt, da sie ein paar Millionen und ein Loft in Manhattan von ihm geerbt hat. Auf diese Weise Alleinerbe zu werden, bedeutet Freude ohne Trauer, Dankbarkeit ohne schlechtes Gewissen: So eine Erbschaft ist wie ein Lottogewinn. Man kann nichts dafür, dass es ­einen getroffen hat. Ebenso wenig kann einem jemand einen Vorwurf daraus drechseln. Man sollte darauf so wenig neidisch sein wie auf die (hier streifen wir sogar kurz noch die Biologie) von den Eltern geerbte oder auf welchen genetischen Umwegen auch immer entstandene Schönheit eines Mitmenschen.

Zuweilen ein vergiftetes Geschenk

Die Erb-Realität aber sieht in der rauen Erb-Wirklichkeit oft anders aus. Erben ist oftmals ein Beziehungsdelikt. Man könnte auch sagen: eine postume Familienaufstellung. Geschwistereifersucht, Enttäuschungen, Trauer; Überforderung mit dem, was das ­Erbe mit sich bringt; die Ambivalenzen, die im Verhältnis zum erblassten Erblasser lagen; die Abrechnung, wer den Toten am meisten geliebt und sich am meisten um ihn gekümmert hat, und der Vergleich dieser Hinwendung mit dem Anteil am ererbten Vermögen – all das kommt im Erbe zusammen und macht aus ihm manchmal ein vergiftetes Geschenk.
Was aber in einem Erbe darüber hinaus liegen mag (damit streifen wir die Metaphysik und kommen zum Schluss), ist der Wunsch des Verstorbenen, dass mit seinem Tod nicht alles ein Ende hat. Dass etwas weitergeht. Wenn es schon kein feinstoffliches Weiterleben nach dem Tod gibt, dann doch wenigstens ein grobstofflich materielles.
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