167
05.03.2025 von Roland Fischer

Wir müssen reden!

Medizin tut heutzutage oft mehr, als gut ist – auch in der Schweiz. Unnötige Untersuchungen und Behandlungen bringen selten Nutzen, oft aber Risiken. Trotzdem spricht kaum jemand darüber. Denn das moderne Gesundheitssystem belohnt Handeln und bestraft Zurückhaltung. 

Artikel in Thema Geld und Gesundheit
Foto: zvg

Man könnte fast meinen, es gäbe da eine Verschwörung. Wir wüssten eigentlich, dass in Spitälern und Arztpraxen viel zu viel behandelt wird – oft ohne wirklichen Nutzen, mitunter sogar zum Schaden der Betroffenen –, aber wirklich darüber reden will man lieber nicht. Auf die Frage eines Journalisten, weshalb so viele unnötige MRI-Untersuchungen gemacht würden, antwortet der Orthopäde Josef E. Brandenberg in der Luzerner Zeitung: «Da spielt vieles zusammen. Es wäre falsch, mit unbegründeten Vermutungen Patienten, Ärzte, Spitäler oder die Industrie zu Sündenböcken zu stempeln. Besser ist es, auf das Problem aufmerksam zu machen. Das führt vielleicht zum Umdenken.»

Keine Sündenböcke, in Ordnung. Aber das Umdenken lässt eben auch auf sich warten, wenn man die Dinge nicht beim Namen nennt. Wo also liegt der Hund begraben? Dass wir es hier nicht einfach mit einer medizinischen Randnotiz zu tun haben, macht Brandenberg auch gleich deutlich: Seiner Ansicht nach könnte man in der Orthopädie auf sage und schreibe 80 Prozent der MRI-Untersuchungen verzichten. Da wäre also einiges einzusparen – aber es geht nicht nur ums Geld. Gerade MRI-Untersuchungen führen häufig zu Überdiagnosen: Es werden harmlose Anomalien entdeckt, die dann entsprechende Therapien nach sich ziehen. Weil diese keinen Nutzen bringen, fallen die Nebenwirkungen umso stärker ins Gewicht. Doch um das zu verhindern, müsste man am Grundverständnis der modernen Medizin rütteln. Diese ist als Ritual nämlich ganz auf «Da kann man was tun» gebaut, während noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts das diagnostische Gespräch im Mittelpunkt der ärztlichen Behandlung stand – die Therapiemöglichkeiten waren oft überschaubar. So schaukelt sich das Phänomen der Übertherapie gewissermassen auf zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin bzw. Patient, beide sind gefangen in den gegenseitigen Erwartungen. Einfach abwarten und nichts tun, darauf hoffen, dass die Selbstheilkraft zu wirken beginnt oder dass eine Verhärtung sich wieder lockert – das gilt nicht mehr als legitime medizinische Massnahme.

Medizinische Routine als teurer Selbstzweck
Das betrifft keineswegs nur die Orthopädie – das Phänomen gibt es in allen Fachrichtungen. Ein Artikel im Fachmagazin JAMA Internal Medicine legte unlängst beispielsweise dar, wie gerade ältere Menschen mit Diabetes mellitus oft unnötig stark behandelt werden. Da wird die Ausfahrt aus der intensivmedizinischen Betreuung also systematisch verpasst. In einem begleitenden Kommentar wird eine ganze Reihe von Gründen genannt, zuallererst das Fehlen von Fachliteratur. Es gebe zwar Unmengen an medizinischen Studien, die die Wirksamkeit einer Therapie aufzeigen, doch werde kaum in Forschung investiert, die das untersucht, was die Autoren «Deintensification of Routine Medical Services» nennen.

Es fehlt also an harten Fakten, die Fachleuten einen Weg aus dem aktiven Therapieren aufzeigen, weder was das Wie, noch was das Wann angeht. Also hält man an Therapien fest, auch wenn die medizinische Routine längst zum (teuren) Selbstzweck geworden ist. Weil die Faktenlage so dünn ist, wird in Fachkreisen heftig über das tatsächliche Ausmass des Problems gestritten. Klar ist, dass quer durchs medizinische Spektrum übertherapiert wird, und dies, wenn die Schätzungen auch nur ungefähr zutreffen, in einem alarmierenden Ausmass. Um nur einige Zahlen zu nennen: Man geht davon aus, dass Wiederholungs-EKGs in 52 Prozent der Fälle überflüssig sind, Magenspiegelungen in 60 Prozent, Brustkorb-CTs in 46 Prozent und Gebärmutterentfernungen gar in 70 Prozent der Fälle. Der Sachverständigenrat, der 2018 die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens analysierte, nannte Übertherapie «das zentrale medizinische und ökonomische Problem».

Paradoxerweise könnte sich gerade das grosse Sparpotenzial, das hier deutlich wird, als zusätzliche Hürde erweisen. Im JAMA-Kommentar heisst es, sowohl Patientinnen und Patienten wie auch die Ärzteschaft würden durchaus sensibel auf die Möglichkeit reagieren, dass Behandlungen aus Kostengründen beendet werden. Und weil Ärztinnen und Ärzte solchen Unterstellungen lieber aus dem Weg gehen, halten sie wiederum an laufenden Therapien fest, statt den Menschen, die sie behandeln, zur Absetzung von Medikamenten zu raten. Dass das aktuelle System viele Fehlanreize setzt, ist inzwischen allen Beteiligten bewusst – entsprechend ist eine Machtlosigkeit spürbar. So befürchteten einer andere Studie zufolge 42 Prozent der US-Ärzteschaft, dass eine weniger intensive Behandlung ihre Leistungskennzahlen verschlechtern könnte, und fast ein Viertel sorgte sich um rechtliche Haftung, wenn sie Medikamente reduzieren würden.

Weniger ist manchmal mehr
Aber es tut sich etwas: Das Problem wird von Ärztinnen und Ärzten zusehends als dringlich erkannt – auch in der Schweiz. Der Verein Smarter Medicine will unnötige ärztliche Behandlungen reduzieren und so die Qualität im Gesundheitswesen verbessern. Eine der schlagkräftigsten Massnahmen: Alle medizinischen Fachgesellschaften sollen eine Liste der fünf unnötigsten Therapien in ihrem Gebiet veröffentlichen. Vorbild ist die 2011 entstandene «Choosing Wisely»-Initiative aus den USA. Ihr erklärtes Ziel ist es, nicht nur beim Fachpersonal auf ein «weniger ist manchmal mehr» hinzuwirken, sondern auch die Diskussion zwischen Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten sowie der Öffentlichkeit zu fördern.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Patientinnen und Patienten das Gespräch über die richtige Therapie mit den Ärztinnen und Ärzten auf Augenhöhe führen können – eine Herausforderung nicht nur für die «Choosing Wisely»-Bewegung. Aber vielleicht reicht es ja schon, die Menschen in Behandlung zu ermächtigen, kritische Fragen zu stellen.

Klar ist: Wir müssen reden! Dass das Arzt-Patienten-Gespräch der Schlüssel zu einer besseren Behandlung ist, kommt in dem Zusammenhang immer wieder zur Sprache. Smarter Medicine-Mitinitiant Daniel Scheidegger bemängelte in der Schweizer Familie, dass «die sprechende Medizin fast keine Lobby» habe – im Gegensatz zu den mächtigen politischen Hebeln, über die Spitäler und Pharmaunternehmen verfügten.

Scheidegger nimmt auch die Patientinnen und Patienten in die Pflicht – oder gar die Medien? Die Berichterstattung über prominente Sportlerinnen und Sportler und ihre Verletzungen führe zu falschen Vorstellungen dessen, was Medizin zu leisten im Stand sei, beziehungsweise was man von ihr erwarten dürfe. «Noch am selben Abend berichten die Medien, dass die Ärzte mittels MRI die Diagnose Kreuzbandriss gestellt haben und der Sportler morgen operiert wird.» Scheidegger kritisiert zu Recht, dass nirgends die Diskussion geführt wird, ob das auch für Hobbysportlerinnen und -sportler sinnvoll ist – also: Ein Schmerz im Knie, und man will sofort ein MRI. Und dann greift Angebot und Nachfrage: Weil es so viele Röntgenzentren gibt, bekommt man problemlos einen Termin. Auch Orthopädinnen und Orthopäden sind auch nicht rar, der Operationstermin rasch gemacht. Und überall klingelt die Kasse.

Es braucht mehr als eine Liste unsinniger Behandlungen
In England wurden die Top-Five-Listen kürzlich von Empfehlungen zu Vorschriften erhoben. Die Folge: Der nationale Gesundheitsdienst erstattet die Kosten nicht, wenn Ärztinnen und Ärzte solche Behandlungen trotzdem vornehmen. Zweifel sind allerdings angebracht, ob dies nicht zum Schaden mancher (gerade wenig vermögender) Patientinnen und Patienten ist, bei denen eine Top-Five-Behandlung sehr wohl angezeigt gewesen wäre. Die Autorinnen und Autoren des JAMA-Kommentars geben zu bedenken, dass es nicht damit getan sein wird, einfach die notorisch unsinnigsten «one-time diagnostic procedures» zu identifizieren. Denn ein erheblicher Anteil der Gesundheitsversorgung besteht aus langfristigen medizinischen Interventionen für chronische Erkrankungen. Es braucht daher dringend Orientierungshilfe über das Beenden oder zumindest Reduzieren solcher Interventionen. Sonst läuft die medizinische Maschinerie einfach weiter und weiter. Und die Kasse: Sie klingelt und klingelt.

Artikel ausdrucken