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01.12.2022 von Roland Fischer

«Glück ist immer an Sinn gekoppelt»

Matthias Binswanger ist einer der bekanntesten Wachstumskritiker der Schweiz. Der Wirtschaftsprofessor verhandelt das Problem aber nicht nur aus ökologischer Perspektive, für ihn hat Wachstum viel mit Glück zu tun. Beziehungsweise mit dem Unglück, dass die Wirtschaft zusehends sinnlos weiterwächst.

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Illustration: Claudine Etter
moneta: Herr Binswanger, ihr Buch «Die Tretmühlen des Glücks» erschien 2006, ihr Forschungsinteresse galt damals spezifisch dem Thema Geld und Glück. Es ist einiges passiert inzwischen – ist Glück immer noch zentral für Sie, wenn Sie über die Wirtschaft nachdenken? Ihre letzten Bücher drehten sich ja mehr um Wachstum und Wettbewerb.

Mathias Binswanger: Unbedingt, schliesslich hängt das alles zusammen. Wir wissen inzwischen, dass Wirtschaftswachstum in hochentwickelten Ländern nicht mehr glücklicher macht, zudem haben wir auch ein grösseres Bewusstsein für die Kollateralschäden des Wirtschaftswachstums wie die Klimaerwärmung entwickelt. Die Frage ist also nur noch drängender geworden, ob es Wirtschaftswachstum denn wirklich braucht.

Irgendwie hat man aber das Gefühl, dass diese Grundsatzfrage nicht wirklich gestellt wird. Warum halten wir also an etwas fest, das uns nicht glücklich macht?
Zunächst muss man festhalten: Bis zu einem gewissen durchschnittlichen Einkommensniveau funktioniert das ja. In ärmeren Ländern korreliert wachsender Wohlstand mit der Zufriedenheit der Bevölkerung. Ist aber einmal ein bestimmtes Niveau erreicht, bleibt die durchschnittliche Lebenszufriedenheit trotz weiterem Wirtschaftswachstum konstant – der Glaube an mehr Glück oder Zufriedenheit durch noch mehr materiellen Wohlstand wird dann zur Illusion.

Wann war dieser Punkt denn erreicht, bei uns?
Ich würde sagen, irgendwann im Laufe der 1960er-Jahre. Seit den 1970er-Jahren ist Wachstum als «Glücksversprechen» für immer weniger Menschen ein glaubhaftes Ziel. Es gibt aber auch noch eine Vorgeschichte, die wir kennen sollten.

Nämlich?
Das kapitalistische System, in das wir eingezwängt sind, hat sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Vorher war die Wirtschaft im Wesentlichen landwirtschaftlich geprägt. Der nutzbare Boden war begrenzt, deshalb gab es klare Grenzen und im Normalfall kein Wirtschaftswachstum pro Kopf. Grenzen gab es aber auch für die Nachfrage. Wenn die Menschen einmal satt waren, gab es keinen Grund, immer noch mehr Nahrungsmittel zu produzieren

Eine statische Sicht auf die Wirtschaft?
Ja, und vor allem eine, die auf gegenwärtige Bedürfnisse ausgerichtet ist. Erst mit dem Konzept der Investition kommt die Zukunft mit ins Spiel und damit die Wachstumsdynamik. Man investiert ja auf einen späteren Zeitpunkt hin, mit dem Versprechen, dass sich die Investitionen auszahlen werden. Lange war das für die Bevölkerung unmittelbar nachvollziehbar, man spürte die Entwicklung hin zu einem besseren Leben: bessere Gesundheit, längere Lebenserwartung.

Und dann kam der Bruch, in den 1970er-Jahren. Ist es ein Zufall, dass im selben Moment Bücher wie «Die Grenzen des Wachstums» erschienen?
Nein, das ist bestimmt kein Zufall. Seither hinterfragt man eben nicht nur die Möglichkeit eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums auf einem begrenzten Planeten, sondern auch überhaupt die Sinnhaftigkeit dieses Wachstums. Man begann zu spüren: Aus einer Bedürfnisdeckungsgesellschaft war unmerklich eine Bedürfnisweckungsgesellschaft geworden.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir das Beispiel Auto: Wenn es nur darum ginge, das Mobilitätsbedürfnis zu befriedigen, dann wäre der Markt längst gesättigt, denn das haben wir erreicht. Wir bräuchten nicht immer noch leistungsstärkere, schnellere, luxuriösere Autos. Aber es geht da offenbar auch um etwas anderes: Dinge können nicht nur ein bestehendes Bedürfnis erfüllen, sie können auch neue entstehen lassen – zum Beispiel indem sie zu Statussymbolen werden.

Also eben doch: Es macht doch glücklich, einen «geilen Wagen» zu kaufen – zumindest manche Leute?
Genau, die Leute, die sich das leisten können. Aber insgesamt wird ein solches System nicht die Zufriedenheit einer Gesamtbevölkerung steigern. Auch wenn ein Land als Ganzes reicher wird, gibt es nach wie vor die «unten», die hinaufschauen und ihre relative Armut spüren. Und so nach etwas streben, das sie eigentlich gar nicht brauchen.

Das kann ich nachvollziehen. Mich irritiert etwas anderes – dass Sie nämlich suggerieren, es wäre eigentlich Aufgabe der Wirtschaft, auf das Glück aller hinzuwirken. So sehen das heute nur noch die wenigsten, würde ich behaupten. Profitmaximierung ja, aber Glück für alle?
Das läuft auf die Frage hinaus, was Glück überhaupt bedeutet. Und wie man es messen könnte. Der englische Sozialreformer Jeremy Bentham versuchte eine solche Messung im 18. Jahrhundert. Das funktionierte aber nicht und führte konzeptionell in eine Sackgasse. Seither geht es in der modernen ökonomischen Theorie um die Maximierung des Nutzens, aber nicht mehr direkt um Glück. Die Bedürfnisse der Menschen sollen optimal befriedigt werden. Doch da schwingt schon noch die Idee mit, dass damit auch das subjektive Wohlbefinden aller gesteigert würde.
    
Und wie reagiert die ökonomische Theorie auf den empirischen Befund, dass dieses Wohlbefinden irgendwann stagniert?
Das wird weitgehend ausgeblendet, weil man davon ausgeht, dass alle Handlungen der Wirtschaftssubjekte der Maximierung des eigenen Nutzens dienen. Den systemischen Zwang zum Wachstum der heute real existierenden Wirtschaften kann man so nicht erkennen. In der Realität ist es aber so: Wenn der Konsum zurückgeht, dann bekommen einige Unternehmen Probleme, manche müssen schliessen, die Arbeitslosigkeit steigt und der Konsum geht weiter zurück. Das führt dann rasch in eine Abwärtsspirale und direkt in die ökonomische Krise: Also muss man weiterwachsen, um diese Abwärtsspirale zu verhindern.

Wo liegen denn die Wurzeln dieser Dynamik?
Unternehmen müssen Gewinne erzielen und stehen in Konkurrenz zueinander. Den wesentlichen Zusammenhang hat schon Marx erkannt: Konkurrierende Betriebe versuchen sich jeweils zu übertrumpfen, mit Investitionen auf eine effizientere und bessere Produktion hinzuwirken, mehr zu verkaufen als die anderen. Da gibt es keinen Stillstand. Wir haben dieses Schema durchaus verinnerlicht: Letztlich ist das die Grundlage der ökonomischen Fortschrittserzählung.

Und wenn wir uns andere wirtschaftspolitische Ziele setzen würden? Verschiedentlich wurden ja schon andere Indikatorensysteme vorgeschlagen, die nicht einfach die Wirtschaftsleistung, sondern auch das Wohlbefinden messen.
Es gibt viele Versuche, die Indikatoren anzupassen. Aber damit ist das Problem nicht gelöst. Welche alternativen Kennzahlen man auch noch berücksichtigt, ist ja ein wenig willkürlich – und zudem bleibt das BIP immer ein zentraler Parameter. Wenn man wirklich etwas ändern will, muss man bei den börsenkotierten Unternehmen ansetzen. Solange die Wirtschaft in diesem Konkurrenz-Denken verhaftet und den Shareholdern verpflichtet bleibt, wird der Wachstumszwang noch verstärkt. Da nützt dann auch die beste oben aufgesetzte Corporate Social Responsability nichts.

Und wenn nun doch einzelne Unternehmen ausscheren und damit Vorbildfunktion entwickeln?
Das wird kaum funktionieren, fürchte ich, so wie das System derzeit wirkt. Denn sobald sich ein Unternehmen derart exponiert, wird der Börsenkurs sinken – über kurz oder lang wird es damit zum Übernahmekandidaten. Rasch kommen Investoren auf den Plan, die das Unternehmen als «unterbewertet» ansehen und die Macht übernehmen, um es wieder «auf Kurs» bringen.

Wie also kämen wir denn sonst aus der Mühle?
Gute Frage. Genossenschaften können eine Lösung sein – aber das bleibt wohl in der Nische, das funktioniert nur da, wo der Investitionsdruck klein ist. Man muss sich das eben klar machen: Es ist das System als solches, das diesen Wachstumskurs verlangt, nicht der Kapitalist mit seiner Gier. Wenn Gewinnziele definiert werden, dann läuft alles weitere ja quasi automatisch und anonym, auch Unternehmer und Manager werden durch die Anforderungen des Systems getrieben.

Ziemlich pessimistische Aussichten. Anderer Vorschlag: Was wäre, wenn wir alle weniger arbeiten würden? Wäre das eine Lösung?
Vielen Menschen würde das wahrscheinlich guttun. Und streng ökonomisch gedacht würde es sogar Sinn machen. Wenn mehr Geld nicht zu mehr Zufriedenheit führt, dann wäre es rational, meine Zeit für andere Tätigkeiten und Dinge aufzuwenden, die mich hoffentlich glücklicher machen.

Und was machen wir denn am besten mit der freien Zeit? Einfach mehr konsumieren oder im Instagram-Feed hängenbleiben ist ja auch keine Lösung. Auch die Freizeit ist ja häufig Konsumzeit.
Ja, das ist das andere grosse Problem heute: Man muss wissen, was einen eigentlich glücklich macht. Häufig ist das den Menschen gar nicht klar. Das Streben nach mehr materiellem Wohlstand ist im heutigen Wirtschaftssystem gewissermassen systemrelevant. Das eigene Glück ist da gar nicht unbedingt die Richtlinie.

Sollten wir also alle zu Hedonisten werden, brauchen wir mehr Genuss als Lebensmaxime – oder gehen wir dem System dann erst recht auf den Leim?
Wenn damit nicht nur die Befriedigung materieller Bedürfnisse gemeint ist: Warum nicht? Die Frage so grundsätzlich zu stellen wäre auf jeden Fall wichtig – und es gibt ja auch eine jahrtausendealte philosophische Tradition, die fragt, was ein gutes Leben ausmacht. Die Ökonomie hat diese Frage ein wenig verdrängt, stattdessen geht man einfach davon aus, dass es ungewolltes Wachstum gar nicht geben kann. Dass also, solange die Wirtschaft wächst, auch die Menschen zufriedener werden, weil sie den Wachstumskurs sonst ja gar nicht mit Ersparnissen zur Finanzierung von Investitionen unterstützen würden.

Das klingt verdächtig nach dem notorischen Homo oeconomicus, der immer schön rational die optimalen Entscheidungen trifft.
Ja. Unterdessen mussten aber auch die Ökonomen zugeben, dass es den in dieser Form nicht gibt, dass die Menschen also auch irrationale Seiten haben. Und ein Resultat davon ist eben, dass Menschen leicht in Tretmühlen hängen bleiben. Status haben wir schon erwähnt, dazu kommen die Moden, die ja immer rascher wechseln. Die Wirtschaft hat vielerlei Möglichkeiten ersonnen, unserer Unzufriedenheit anzustossen. Also sind wir dauernd damit beschäftigt, Dinge zu optimieren, die gar nicht wirklich wichtig sind.

Wobei uns ja angeblich die digitalen Mittel helfen sollen. Können wir heute besser entscheiden als früher?
Nun ja, wir können viel besser und mehr vergleichen als früher, das auf jeden Fall. Aber entscheiden wir auch besser? Denken Sie nur einmal daran, wie viel Aufwand wir in die Buchung des «perfekten» Hotelzimmers stecken. Was man dabei gern vergisst: Wenn ich die richtige Person an meiner Seite habe, macht das schäbigste Hotelzimmer mehr Freude als eine Luxussuite mit der falschen Begleitung.

Wie könnten wir denn lernen, das besser zu machen? Wie optimiert man sein Leben ohne Comparis, Booking und Co?
Indem man wieder eine gewisse Ehrlichkeit gegenüber sich selbst entwickelt und sich fragt, was bestimmte Formen der Zeitverwendung (-verschwendung) wirklich bringen. Wir lernen derzeit jedenfalls sehr viel, das uns hilft, im Berufsleben erfolgreich zu sein. Aber wir lernen wenig darüber, wie man sinnvoll lebt. Dabei wissen wir doch eigentlich, dass Glück immer an Sinn gekoppelt ist.

Also dann, zum Schluss: Können Sie diesbezüglich etwas zur Lektüre empfehlen?
Wie schon erwähnt – die philosophische Tradition geht da weit zurück. Also lohnt vielleicht der Blick zurück zu den alten Griechen. Man hat sich nämlich schon damals mit denselben Fragen beschäftigt. Aristoteles zum Beispiel hat in «Politik» über den Unterschied eines Wirtschaftens, das immer nach mehr strebt, und einer an den Bedürfnissen orientierten Hauswirtschaft nachgedacht. Das liest sich auch heute noch mit Gewinn.

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er ist Autor des 2006 erschienenen Buches «Die Tretmühlen des Glücks», das in der Schweiz zum Bestseller wurde. Sein neuestes Buch aus dem Jahr 2019 heisst: «Der Wachstumszwang – Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben». Gemäss dem Ökonomen-Ranking der NZZ gehört Mathias Binswanger regelmässig zu den einflussreichsten Ökonomen in der Schweiz.


Alternativen zum BIP: Wie misst man Wohlbefinden?

Als Klassiker der alternativen Indikatorensysteme kann das Bruttonationalglück Bhutan gelten, das als Befragung der Bevölkerung angelegt ist (also nicht als objektive Datenerhebung eines statistischen Amts). Es versucht so, die Zusammenfassung vieler Indikatoren zu einem aggregiertem Glücksindex. Einen ähnlichen Weg gingen in der Folge Ecuador und Bolivien mit der Verankerung des indigenen Prinzips des «Sumak kawsay» (gutes Leben) in der ecuadorianischen und der bolivianischen Verfassung (2008 resp. 2009). Auch die meisten Indikatoren zur nachhaltigen Entwicklung versuchen das Wohlbefinden des Menschen zentral miteinzubeziehen. Daneben gibt es eine Vielzahl neuer Wohlfahrtsmasse: beispielsweise den Index der menschlichen Entwicklung der UNO (Human Development Index, HDI) oder den Better Life Index der OECD. In der Schweiz hat das Bundesamt für Statistik ein Indikatorensystem Wohlfahrtsmessung ausgearbeitet, das 40 Indikatoren umfasst.

Angesichts der Flut von Berichten ist die Lage inzwischen ein wenig unübersichtlich, unzählige Regierungen oder zivilgesellschaftliche Initiativen auf internationaler wie regionaler Ebene haben sich in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt, wie man die Konjunkturen des Glücks bemessen und befördern könnte. Genannt seien hier die Europäische Kommission 2011 («Das BIP und mehr – Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel») oder die Empfehlungen der Stiglitz-/Sen-/Fitoussi-Kommission 2009 zuhanden der damaligen französischen Regierung. (rf)

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