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19.09.2018 von Esther Banz

Grippe oder chronische Krankheit?

Wie ein heftiges Fieber, das die Schweiz streifte, und nicht mehr – so lautet eine weitverbreitete Meinung zur Finanzkrise von 2008. Dabei wirkt sie auch in der Schweiz bis heute tief greifend nach, wie eine Umfrage unter Wirtschaftsprofessoren, bei NGOs und Gewerkschaften zeigt.

Artikel in Thema Finanzkrise
Illustration: Claudine Etter

«Arme Schweiz» titelte die deutsche Wochenzeitung «Zeit» im Oktober 2008. Die Krise der UBS werde zur Schicksalsfrage. Zehn Jahre später wissen wir: Alles nochmals gut gegangen, die UBS wurde von Bund und Nationalbank erfolgreich gerettet. Als darauf der Schweizer Franken immer stärker wurde – vor allem infolge der anhaltenden Krise im Euroraum –, hatte die exportorientierte Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM) Mühe, wettbewerbsfähig zu bleiben, und es gab zweimal Entlassungen und Kurzarbeit. Zu einem hohen oder kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen 2008 und 2018 kam es indes nicht. So viel ist allgemein bekannt.
Kann man die Finanzkrise aus Schweizer Perspektive mit diesen Themen als erledigt abhaken, ist alles gesagt? Mitnichten. «Das vordergründige Bild täuscht», sagt Bettina Fredrich. Sie leitet bei Caritas die Fachstelle Sozialpolitik. «Nachdem insbesondere im gewerblich-industriellen Bereich etliche ihre Stelle verloren hatten, wurde es vor allem für die Niedrigqualifizierten unter ihnen schwierig, wieder Fuss zu fassen. Es gibt für sie seither deutlich weniger Stellen auf dem Markt.» Die Arbeitslosenquote vermittle denn auch ein einseitiges Bild, sagt Fredrich und verweist auf die Aussteuerungen. Hier zeigt sich: Wurden vor der Krise in einem Jahr mehr, dann wieder weniger Arbeitslose ausgesteuert, so steigt ihre Zahl seit 2008 kontinuierlich an. 2017 verloren beinahe 40 000 Menschen ihr Anrecht auf Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung – das sind doppelt so viele wie 2008. «Die meisten finden wir später in der Sozialhilfe wieder», stellt Bettina Fredrich fest. Dass Leute, die im Niedriglohnbereich ihren Job verlieren, trotz brummender Wirtschaft nicht mehr zurück in den Arbeitsmarkt finden, beobachtet sie als generelle Entwicklung: «Jobs verschwinden aufgrund des technologischen Fortschritts oder weil sie ausgelagert werden – die Finanzkrise hat diesen Prozess beschleunigt.»

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

Für Mattea Meyer, SP-Nationalrätin und Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH), zeigt sich zehn Jahre nach der Krise, dass die Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz weiter aufgegangen ist und die soziale Unsicherheit zugenommen hat: «Die Finanzkrise hat Abbauprojekte nach sich gezogen. Am stärksten davon betroffen sind die, die ohnehin wenig haben – Arbeitslose, Alleinerziehende, Asylsuchende.» Auf der andern Seite konnten die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ihr Vermögen seit 2007 um sagenhafte 145 Milliarden Franken steigern. Allein im Jahre 2017 handelt es sich gemäss «Bilanz» um eine Zunahme von 9,8 Prozent respektive 60 Milliarden Franken auf 674 Milliarden Franken. Die letztjährige Vermögenszunahme entspreche nahezu dem, was der Bund jährlich für alle seine Einwohnerinnen und Einwohner ausgebe (68 Mrd. Franken), rechnet Mattea Meyer vor, die auch Mitglied der Finanzkommission des Nationalrates ist.
Auch die Ungleichheit bei den Einkommen habe aktuell noch einmal zugenommen, sagt Kristina Schüpbach vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, die die Zahlen alljährlich für den «Verteilungsbericht» zusammenträgt und auswertet. Zwar hätten neue Gesamtarbeitsverträge und die Anhebung von Mindestlöhnen etwas Verbesserung gebracht, aber bei den mittleren und tiefen Löhnen bleibe den Menschen am Ende des Monats doch nicht unbedingt mehr Geld im Portemonnaie: Höhere Mietzinsen und höhere Krankenkassenprämien bei reduzierten Prämienverbilligungen würden schwer zu Buche schlagen.
Die Bilanz zur Gegenwart nach zehn Jahren Finanzkrise in der Schweiz: Die Reichen sind noch reicher geworden – ein Prozess, der im Wesen des Kapitalismus liegt und der durch die Finanzkrise offenbar noch beschleunigt wurde –, während bei den Normalsterblichen wegen Aussteuerungen, höheren Mieten und Zwangsabgaben sowie zusammengestrichenen Sozialleistungen immer mehr von Armut betroffen sind.

Bedrohter gesellschaftlicher Zusammenhalt

Einer, der untersucht, was es ökonomisch, politisch und auch sozial bedeutet, wenn die Einkommens- und Vermögensschere sich immer weiter öffnet, ist der Franzose Thomas Piketty, Autor des Buches «Das Kapital im 21. Jahrhundert». Sein neuster immenser Datenschatz ist das Online-Nachschlagewerk «World Inequality Database», die «open-source» in verschiedenen Sprachen abrufbar ist. Pikettys Team hat herausgefunden, dass die Ungleichheit fast überall zunimmt, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Er warnt: «Sofern sie nicht adäquat beobachtet und angegangen wird, kann sie zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen führen.» Sogar die UBS schreibt in einer Studie zur Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz: «Immer weiter steigende Topeinkommen können zu sozialen Spannungen führen oder eine liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gefährden. Und wenn sich wirtschaftliche Eliten herausbilden, welche insbesondere Steuer- und Verteilungspolitik massgeblich zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchen, gefährdet dies nicht zuletzt demokratische Ideale moderner Gesellschaften.»
Bettina Fredrich sieht bereits Anzeichen dieser Art: «Tatsächlich funktioniert die solidarische Umverteilung im Land immer weniger, es herrscht ein Steuerwettbewerb, von dem vorab die Reichen profitieren, etwa auch indem man in fast allen Kantonen die Erbschaftssteuer abgeschafft hat. Gleichzeitig ist man immer weniger gewillt, diejenigen zu unterstützen, die ausscheiden. In der Sozialhilfe wird kontinuierlich abgebaut.» Die Ungleichheit verstärke sich auch dadurch, dass die Möglichkeit, aufzusteigen, klein sei: «Die Bildung spielt da eine wichtige Rolle. Entgegen der landläufigen Meinung ist die Bildungsmobilität in der Schweiz sehr gering. Das muss sich ändern.»

Der Mittelstand verschuldet sich

In die Zukunft blickt auch Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich. Er weist auf ein weiteres Erbe der Krise hin: die tiefen Zinsen. «Ich dachte immer, die Sparer würden sich dann mal wehren und sagen: ‹Es reicht, ich will wieder Zins!› Aber nein, nichts passierte. Stattdessen verschuldete sich der Mittelstand hierzulande: Viele nutzten die Gelegenheit und kauften ein Haus oder eine Wohnung. Wenn die Zinsen dereinst schnell raufgehen sollten, hätten wir die nächste Finanzkrise, das kann ich mit Sicherheit sagen.»
Eine andere langfristige Folge der Finanzkrise würden viele erst im Alter zu spüren bekommen, sagt Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi von der Universität St. Gallen. Er ist der Meinung, dass die andauernd tiefen und teilweise negativen Zinsen grosse wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen haben werden: «Das Sparen in sicheren Anlagen lohnt sich kaum mehr und die Renditeversprechen der zweiten Säule lassen sich nicht mehr aufrechterhalten.» Bei den Renten derjenigen, die jetzt pensioniert werden, seien zwar erst die überobligatorischen betroffen und die meisten obligatorischen geschützt, aber: «Weil die Guthaben schwach verzinst werden, wächst das Alterskapital weniger schnell. So werden die Renten auch im Obligatorium künftig stark betroffen sein. Das gilt umso stärker, je jünger man ist.»

Verlorenes Vertrauen und vertändelte Zeit

Auch Föllmis Professorenkollege Martin Kolmar, in St. Gallen Direktor des Institutes für Wirtschaftsethik, beschäftigt sich mit den Folgen der Krise. Er teilt mit allen bisher Zitierten die Sorge um die Konsequenzen sozialer Ungleichheit, die sich weiter verstärkt hat. Eine weitere Sorge gilt dem Vertrauensverlust: «Die UBS profitierte von umfangreichen Rettungsmassnahmen des Staates. In einer solchen Situation geht nicht nur Vertrauen in das Finanzsystem verloren, sondern kann Vertrauen in die Gerechtigkeit der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen insgesamt beschädigt werden. Die Wirklichkeit ist komplex, und Erklärungen sind nie monokausal, aber eine der Quellen der aktuellen gesellschaftlichen Destabilisierungen liegt sicherlich im Finanzsystem.»
Und es gibt einen weiteren Aspekt, der Martin Kolmar Bauchweh bereitet. Unerwartet beendete er seine Antwort auf die Frage nach den Folgen der Finanzkrise in der Schweiz mit diesen beiden Sätzen: «Ein tragischer Nebeneffekt der Finanzkrise ist, dass sie den Blick auf die für unsere Generation definierenden Probleme verstellt: den Klimawandel und den Verlust an Biodiversität. Es wird schneller ernst, als selbst Pessimisten dachten, und wir vertändeln wieder und wieder kostbare Zeit.»

Kommentar der ABS

Die Folgen der Krise halten uns auf Trab

Text: Simon Rindlisbacher

«Trotz schwierigem Marktumfeld hat die ABS ein gutes Ergebnis erzielt.» Das schrieben wir in den letzten Jahren immer wieder, wenn wir über die wirtschaftliche Situation der ABS berichteten. Beim aktuellen Halbjahresergebnis haben wir auf diese Formulierung zwar verzichtet, dennoch ist sie nach wie vor richtig: Denn die Folgen der Finanzkrise 2008 beschäftigen uns bis heute.

Zum einen haben die Zentralbanken die Leitzinsen radikal gesenkt, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems abzuwehren. Davon war und ist die ABS unmittelbar betroffen, denn in der Folge sanken unter anderem die Kreditzinsen, die unsere wichtigste Einnahmequelle sind. Um konkurrenzfähig zu bleiben, mussten wir mit dem Markt mitgehen und auch unsere Zinsen nach unten anpassen. Die Folge: Obschon die ABS Jahr für Jahr mehr Geld ausleiht, verdient sie heute etwa gleich viel wie 2008. Umgekehrt gesagt, heisst das: Um ihre Einnahmen zu halten, muss die ABS wesentlich mehr Kredite vergeben als vor zehn Jahren. Keine einfache Aufgabe, denn die ABS leiht ja nicht irgendwem Geld aus, sondern folgt dabei strengen Nachhaltigkeitskriterien. Zudem muss sie die Risiken im Auge behalten und jeden Kredit mit genügend Eigenmitteln unterlegen. Bis jetzt ist das erfreulicherweise gut gelungen, auch da uns unsere Aktionärinnen und Aktionäre die dazu notwendigen Eigenmittel zur Verfügung stellten.

Zum anderen wurden Banken infolge der Krise strenger reguliert. In der Schweiz wurden mehrere neue Gesetze erlassen, etwa um Steuerflucht zu verhindern, Anlegerinnen und Anleger zu schützen oder das Risikopolster der Banken – die Eigenmittel – zu stärken. Diese Vorschriften sind sinnvoll, aber aufwendig umzusetzen. Wie alle Banken muss die ABS laufend neue Prozesse und Formulare einführen und die Mitarbeitenden schulen. Das Bankgeschäft ist dadurch komplexer und teurer geworden.

Und schliesslich beschäftigt uns, dass wir von der Krise indirekt profitiert haben: Die Zahl unserer Kundinnen und Kunden nimmt seit 2008 stark zu. Aus den Beratungsgesprächen wissen wir, dass nicht wenige zur ABS wechseln, weil sie das Vertrauen in die konventionellen Banken verloren haben. Dieser Zuspruch ist schön, hat aber einen kleinen Haken: Die Summe der Kundeneinlagen wächst schneller als die Summe der vergebenen Kredite. Immer mehr Geld bleibt bei der ABS beziehungsweise auf ihrem Konto bei der Nationalbank liegen und verursacht dort Kosten. Diese stiegen stark an, als die Nationalbank vor drei Jahren Negativzinsen einführte. Unsere Lösung ist bekannt: Wir führten auf verschiedenen Konten selbst Negativzinsen ein.

Bis jetzt ist es der ABS gut gelungen, diese verschiedenen Herausforderungen zu meistern, die alle im Nachgang der Krise entstanden sind. Wirklich erfreulich ist, dass die Krise gezeigt hat, dass das Geschäftsmodell der ABS funktioniert und krisenresistent ist. Eine Studie der Global Alliance for Banking on Values kommt zum Schluss, dass sozial und ökologisch ausgerichtete Banken grundsätzlich krisenresistenter sind. Drei Aspekte tragen dazu bei: erstens, dass diese Banken auf die Realwirtschaft fokussieren anstatt auf die Finanzwirtschaft; zweitens, dass ihre Kredite zum grössten Teil auf dem Geld der eigenen Sparkundschaft basieren und nicht auf Krediten, die sie an den Finanz- und Kapitalmärkten aufnehmen; und drittens, dass Banken wie die ABS, zumindest im Vergleich zu den grössten Banken der Welt, mehr und besseres Eigenkapital besitzen. Gemäss der Studie sind das alles wichtige Zutaten für einen stabilen Finanzmarkt.
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