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15.03.2023 von Esther Banz

«Im Wald gelingt Bildung einfach so gut»

Viele Kinder wachsen heutzutage in urbanen, verkehrsintensiven Umgebungen auf, ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Dafür gibt es immer mehr pädagogische Angebote in der Natur. Warum insbesondere der Wald als Lern- und Entwicklungsort so wertvoll ist, weiss Eva Helg von den Waldkindern St. Gallen.

Artikel in Thema Holz und Wald
moneta: Frau Helg, Waldkindergärten und Waldspielgruppen sind zunehmend gefragt. Was lernen Kinder im Wald ­Besonderes?
Eva Helg Für Kinder, die meistens in Innenräumen lernen, ist das Hinausgehen in den Wald zunächst einfach eine Befreiung. Drinnen begrenzen Mauern die eigenen Bewegungen, in der Schule ist ein Kind zudem auf seinen Stuhl fixiert. Im Wald erhält es mit seinem Bewegungsdrang Raum, dort kann es auch laut und wild sein. Weil diese Aufenthalte im Wald vielfach in 
Kombination mit freiem Spiel und freier Tätigkeit angeboten werden, erfahren Kinder auch ein Gefühl von Offenheit und schier grenzenlosen Möglichkeiten. 

Gibt es weitere Gründe, weshalb Kinder nach ein paar Stunden im Wald oft so ­lebendig und erfüllt wirken?
Ein Kind macht im Wald viele positive ­Erfahrungen, körperliche und viele mehr: Es erfährt Selbstwirksamkeit, kann seine Neugierde stillen und dem nachgehen, was es interessiert – es lernt also intrinsisch.

Bauen Kinder durch ihr Spiel im Wald eine Verbindung zur Natur auf?
Nicht einfach so. Es braucht Aktivitäten, um Kindern die Natur zugänglich zu ­machen. Sobald sie diese Verbindung haben, fühlen sie sich im Wald wohl und können sich sicher und frei bewegen. Dann können sie kreativ sein, zusammenspannen und lernen, selber Probleme zu lösen. 

Wäre die Welt denn eine andere, gäbe es mehr Waldkinder?
Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen, aber unsere langjährige Erfahrung zeigt klar, dass Bildung im Wald einfach so gut gelingt. Und ja: Unsere Gesellschaft braucht vermehrt das Miteinander, Fähigkeiten wie Kooperation und Empathie, nicht zuletzt wegen der Herausforderungen durch den Klimawandel und der sich öffnenden Schere in der Gesellschaft, auch zwischen den Generationen. Und ­diese Fähigkeiten lernen Kinder draussen sehr gut, weil sie beim Spielen stark auf­einander angewiesen sind. 

Wie beeinflusst eine früh erworbene Verbindung zur Natur späteres Handeln?
Wir Menschen verdrängen ja gerne, dass wir der Natur teilweise ausgeliefert sind – Waldkinder lernen aber schon früh: Es heisst etwas, wenn es stark windet, wenn es keinen Schnee gibt, wenn wir kein Feuer machen können. Ich vermute, dass Menschen, welche die Magie und die Schönheit der Natur kennen, eher die Kraft haben, sich für sie einzusetzen – im Bewusstsein der eigenen Begrenztheit. Um anwaltschaftlich für die Umwelt zu handeln, braucht es sicher eine Verbindung zu ihr.

Umgekehrt gefragt: Fehlt einem Kind, das den Wald nicht kennt, Natur­erfahrung?
Wir haben ja diese romantische Vorstellung vom schönen Wald. Tatsächlich muss die Umgebung für Kinder nicht schön sein. Es reicht, wenn ein Ort ermöglicht, dass sie spielen können. Das kann auch ein Schutthaufen sein. Oder der Pausenplatz: Manchmal hat es da Regenwasser, manchmal Schnee, manchmal Eis. Das sind alles spannende Phänomene, die man beobachten kann, wenn man sich draussen aufhält. Meiner Meinung nach beginnt die Natur beim kleinsten grünen Halm, beim Kieselstein, bei der Wolke am Himmel.

Es muss also nicht unbedingt ein ­Aufenthalt im Wald sein?
Natürlich ist der Wald aus verschiedenen Gründen ein fantastischer und gesunder Ort für Kinder, auch für ihre körperliche und motorische Entwicklung, aber Naturerfahrungen können Kinder an vielen ­Orten machen. Wichtig ist eine Umgebung, in der sie sich relativ frei bewegen können, in der sie den Raum nutzen und umge­stalten können. In unserer Gesellschaft gibt es immer weniger solche Räume, und ich hoffe, dass die Natur wieder mehr in die Städte kommt, dass die oft eintönigen Spielplätze bunter und die Stadtparks spielfreundlicher werden.

Wie haben Sie selbst als Kind den Wald erlebt?
Meine Grossmutter ging gerne mit uns in den Frühlingswald. Ich erinnere mich, wie mir dort die Sonne ins Gesicht schien und wie es duftete. Sie hatte auch immer ein Stofftaschentuch dabei, das sie ausbreitete, und einen Apfel, mehr nicht. Wir waren einfach dort und spielten.

Eva Helg ist seit zehn Jahren in der Geschäftsleitung der Waldkinder St. Gallen tätig – ­die einst von Eltern gegründete Institution feiert dieses Jahr ihr 25-Jahr-Jubiläum. Der Verein Waldkinder St. Gallen hat verschiedene Betreuungs- und Lehrangebote fü
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