Virtuell unterwegs

Seltsam leer ist es in den frisch gepflasterten Strassen von Pompeji. Kein Mensch weit und breit zwischen den ziegelgedeckten hellen Häusern, nur der Vesuv schaut unter einem blauen Himmel am Ende der Gasse herüber. Ich wende mich nach rechts und trete etwas unbeholfen in einen Hauseingang, werfe einen kurzen Blick in die Räume und stolpere zurück auf die Strasse, die eigenartig vibriert. In der Luft liegt ein dumpfes Rumpeln, doch der Vesuv bricht nicht aus – er ist nicht real. Fast zehn Jahre ist es her, dass man am Max-Planck-Institut in Tübingen durch ein virtuelles Pompeji tapsen konnte, ein Gemeinschaftsprojekt mit der ETH Zürich. Der elf Tonnen schwere «Cyberwalk», ein ausgedehntes Laufband, sollte Besuchern das Gefühl geben, die Simulation der berühmten Römerstadt auf eigenen Beinen zu erkunden. Seitdem hat die Technik der virtuellen Realität (VR) einen gewaltigen Sprung gemacht.

Dank einer neuen Generation von bezahlbaren Datenbrillen – allen voran Oculus Rift, HTC Vive oder Microsoft Hololens – ist die virtuelle Realität dabei, die Labore zu verlassen. Sensoren, Prozessoren und Grafikdarstellungen sind inzwischen so gut, dass es solcher Hilfsmittel wie des Cyberwalks nicht mehr bedarf, um in virtuellen Räumen das Gefühl des Gehens und eine echte Präsenz zu empfinden. In The Void, einer gigantischen Halle im US-Bundesstaat Utah, können Test-Gamer bereits mit ihrem ganzen Körper in ein Actionspiel abtauchen, Wände detonieren lassen, durch Flure hechten. Ein Boom virtueller Welten kündigt sich an. Doch was macht das mit den Menschen? Werden sie einfach so zwischen echter und virtueller Realität hin und her wechseln, als sei nichts gewesen? «Wir merken in Experimenten schon jetzt, dass die Leute eine ‹Rekalibrierung› brauchen», sagt Marc Latoschik, VR-Forscher an der Universität Würzburg. Die Präsenz, also das Gefühl, in einer VR wirklich da zu sein, ist bereits so überzeugend, dass sich Probanden schnell an sie gewöhnen. Allerdings spielt die gegenwärtige Technik für virtuelle Räume der menschlichen Wahrnehmung einen Streich. Eines der bekanntesten Phänomene ist die Entfernungskompression: Objekte erscheinen in der VR näher, als sie tatsächlich sind. Ein Tisch, der im zugrunde liegenden Modell zehn Meter entfernt ist, wirkt auf Teilnehmer, als sei er nur sechs, sieben Meter entfernt. Das wiederum verändert die Wahrnehmung der eigenen Geschwindigkeit und damit der Zeit.

Mehr noch: Wer sich über viele Stunden in einem virtuellen Raum aufhält, nimmt die Eindrücke mit hinüber in die echte Welt. Der Hamburger VR-Forscher Frank Steinicke etwa begab sich 2014 in einem Selbstversuch für24 Stunden in ein virtuelles Büro, samt Couch und Arbeitstisch, unterbrochen nur von kurzen Toilettenpausen, beaufsichtigt von seinem Kollegen Gerd Bruder. Steinicke vermischte im Verlauf des Experiments immer wieder Ereignisse und Gegenstände aus beiden Welten, wie Bruder und Steinicke in ihrem Laborbericht festhielten. Auch wurde er immer wieder «seekrank». «Bewegungsschwindel ist derzeit eine der grössten Herausforderungen für Langzeiterlebnisse in virtueller Realität», sagt Betty Mohler vom Max-Planck-Institut in Tübingen. Vor allem jüngere Menschen – die noch wachsen – und ältere scheinen stärker auf die minimalen Verzögerungen zwischen eigenen Bewegungen und dem dazu passenden Umschwenken des Bildes in der Datenbrille zu reagieren. Allerdings liegt diese Verzögerung bei neuen Modellen nur noch bei wenigen Millisekunden. Solange das eigene körperliche Empfinden und die virtuellen Bilder noch wahrnehmbar auseinanderklaffen, werde VR zu einer gewissen Verwirrung führen, sagt Mohler, samt Rekalibrierung und Schwindelanfällen.

Die Formbarkeit der Wahrnehmung geht indes noch weiter. Mel Slater vom Event Lab der Universität in Barcelona berichtet etwa, dass Personen den Arm ihres Avatars – der Darstellung ihres Körpers in der VR – selbst dann noch als ihren eigenen empfanden, wenn dieser dreimal so lang war wie in Wirklichkeit. In anderen Experimenten hat man Probanden einen Avatar gegeben, der ein anderes Geschlecht oder eine andere Hautfarbe hatte. In Gesprächen nach den Versuchen zeigte sich, dass diese Erfahrung die Einstellung der Teilnehmer für die Wahrnehmung anderer Menschen sensibilisierte.

Marc Erich Latoschik interessiert sich denn auch besonders dafür, welches positive Potenzial in einer derart veränderten Wahrnehmung steckt. Er bereitet mit anderen Forschern und der Berliner Charité derzeit ein Projekt für Patienten auf Intensivstationen vor. Die Umstände dort können bei den frisch Eingelieferten so viel Stress auslösen, dass sie in einen komaähnlichen Zustand fallen, ein sogenanntes Delir. In diesem nehmen Komplikationen und Sterblichkeit deutlich zu. «Wir wollen die Menschen mithilfe virtueller Realität von der stressenden Umgebung der Intensivstation abkoppeln», sagt Latoschik. Bei Schlaganfall-Patienten, die das Gehen wieder trainieren müssen, helfe der Einsatz von VR bereits. Anstatt auf dem Klinikflur auf und ab zu gehen, vermittelt ihnen eine Datenbrille einen Waldspaziergang. Virtuelle Welten könnten sicher auch dazu führen, dass man sich in anderen Sphären verliere, sagt Latoschik. «Wir können sie aber auch dafür nutzen, Wohlfühlräume verschiedenster Art zu schaffen.»