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04.12.2019 von Mathias Morgenthaler

Wer es allen recht machen will, vergisst sich selbst

Im Beruf konzentrieren sich viele darauf, Erwartun­gen zu erfüllen und durch Anpassung Karriere zu machen. Dadurch bleiben sie weit ­unter ihren Möglichkeiten.

Artikel in Thema Mensch, KMU!
«Nimm dich nicht so wichtig!» – diese Lektion lernen viele schon in jungen Jahren. Das führt leider oft dazu, dass sie später bei der Arbeit kein Gefühl dafür haben, wo sie in ihrem Element sind. Wer es allen recht machen will, vergisst sich selbst. Und wer sich fremd ist in dem, was er tut, vergeudet sein Potenzial und kann für andere auf Dauer nicht viel Gutes tun. Eigenverantwortung ist die Basis für jede soziale Verantwortung. Doch wie vermeidet man es, sich zu sehr nach den Erwartungen von Eltern, Lehrkräften und Arbeitgebern auszurichten und eine Anpassungskarriere zu durchlaufen? Wie findet man zu seinem persönlichsten Beitrag, zu einer stimmigen Tätigkeit?
Ich habe auf der Basis von über tausend Interviews und ein paar hundert Coachings im Buch «Out of the Box» zehn Thesen formuliert, die bei der Suche nach der eigenen Berufung als Orientierung dienen können. Zwei davon sollen hier vorgestellt werden.

1 – Vernunft wird überschätzt

Unsere Vernunft ist als Werkzeug von unschätzbarem Wert. Sie hilft uns, ein Ziel auf mehrere Etappen herunterzubrechen, in Szenarien zu denken, aus Fehlern zu lernen. Wenn es aber darum geht, in Bewegung zu kommen, sich aus einer misslichen Situation zu befreien, einen Wurf zu wagen, dann ist die Vernunft oft eine schlechte Ratgeberin. Ohne den Bauch und das Herz, ohne Intuition und Sehnsucht kommen wir nicht aus den Startlöchern. Am Anfang vieler Erfolgsgeschichten stehen mutige, oft unvernünftige Entscheidungen. So beschloss Richard Reed, seine gut bezahlte Stelle aufzugeben und mit zwei Freunden etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und Smoothies herzustellen, obwohl die drei keine Ahnung von diesem Business hatten. Wären sie vernünftig gewesen, gäbe es heute keine Innocent-Smoothies.

Menschen, die ihren Impulsen folgen, ohne alles mehrfach zu hinterfragen und abzusichern, berichten in erstaunlicher Häufigkeit von wegweisenden Begegnungen im richtigen Moment oder anderen erstaun­lichen Zufällen. «Das Leben antwortet mit Zufällen, wenn ein Wunsch aufsteigt, der stark genug ist», hat die Schauspielerin Hanna Schygulla erkannt. Man könnte ergänzen: Wenn wir einen Wunsch frühzeitig mit vernünftigen Argumenten abwürgen, geben wir dem Zufall keine Chance.

2 – Die besten Jobs sind niemals ­ausgeschrieben

Die meisten Menschen sind überzeugt, dass man sich für einen Beruf entscheiden und um eine Stelle bewerben muss. Das ist nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Mit Blick auf die meisten Karrieren von Unternehmerinnen und Unternehmern müsste man entgegenhalten: Die besten Jobs sind niemals ausgeschrieben, sondern sie werden geschaffen von Leuten, die wissen, was sie wollen, oder mutig genug sind, sich mit voller Hingabe einem Problem oder einer Leidenschaft zu widmen. Je ambitionierter und selbstbewusster jemand ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er oder sie in ein vorgegebenes Stellenprofil passt; und desto vielfältiger sind die Möglichkeiten, sich entlang von Herzensangelegenheiten mit Personen oder Unternehmen zu verbinden und so selber einen massgeschneiderten Beruf zu entwickeln.

Das bedeutet nicht, dass man zwingend sein Glück in der Selbstständigkeit suchen muss – für manche ist eine Kombination aus Anstellungsverhältnis und freiberuflicher Tätigkeit ideal, andere arbeiten projektweise für verschiedene Arbeitgeber, ohne sich länger zu binden. Entscheidend ist, selber die Verantwortung für die berufliche Situation zu übernehmen und immer wieder zu überprüfen, ob man wirklich etwas bewegen und gestalten kann bei der Arbeit oder ob man primär sich selber verbiegen und Theater spielen muss.
Für Angestellte gilt: Wenn man sich nicht darauf beschränkt, ein vorgegebenes Jobprofil auszufüllen, sondern seinen ganz persönlichen Mix an Talenten und Interessen einbringt, wächst der Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit.

Literatur

Alle zehn Thesen sind nachzulesen in:
Mathias Morgenthaler, Out of the Box – Vom Glück, die eigene Berufung zu leben, Verlag Zytglogge, 2017, oder online.
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