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14.03.2022 von Esther Banz

Wie viel dürfen wir überhaupt noch bauen?

Wir haben vier Fachleute des Bauwesens an einen Tisch gebeten, um über ein paar grundsätzliche Fragen des klimagerechten Bauens zu diskutieren.
Zum Beispiel, ob es ein Neubau-Moratorium braucht, wie von der Klimabewegung gefordert.

Artikel in Thema bauen. wohnen. klima.

moneta: Fangen wir doch mit dem «Elefanten im Raum» an, wie es der Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber nennt: Die Bauindustrie ist, je nach Schätzung, für gut 40 Prozent der totalen CO2-Emmissionen verantwortlich. Wie stehen Sie zu der Zahl? Und ist sie in den Köpfen schon angekommen?

Peter Dransfeld: Es spielt ja gar nicht so eine Rolle, ob es nun 30 oder 50 Prozent sind – es ist klipp und klar, dass der Einfluss des Bauens enorm ist. Das war mir schon lange bewusst, ohne das genau auszurechnen.

Axel Schubert: Es lohnt sich wie immer näher hinzuschauen: In der pauschalen Zahl stecken ja auch der Betrieb von Gebäuden sowie die ganze Infrastruktur. Und Peter Dransfeld: Das sind die globalen Zahlen. Dabei ist der Anteil für Gebäude in der Schweiz noch höher. Global schiesst die Zementverwendung hoch – auf ein Niveau, auf dem die Schweiz schon lange ist. Zudem hat die Schweiz europaweit den höchsten Gebäudeanteil mit Öl- oder Gasheizungen. Und wohl die bestausgebaute Infrastruktur, nicht nur was Gleise, sondern auch was Strassen angeht. Und zu Ihrer Frage: Ich glaube, das ist noch nicht gross angekommen, gesellschaftlich und politisch. Mitunter geht es da strukturell genau in die falsche Richtung, wie mit dem beschleunigten Nationalstrassenausbau.

Friederike Kluge: Dem pflichte ich bei. Es bewegt sich allenthalben ein wenig etwas, aber insgesamt greifen die Massnahmen definitiv zu kurz. Wir riskieren, den Zeitpunkt zu verpassen, wo wir noch aktiv eingreifen können, und riskieren damit sehenden Auges die grossen Schäden, die ein solches Nicht-Handeln mit sich bringt.

Cristina Schaffner: Um die Wendung von Peter Dransfeld aufzunehmen: Es ist klar, dass wir hier in der Verantwortung sind, auch die Bauwirtschaft, damit beschäftigen wir uns als Dachverband und insbesondere unsere Mitgliedverbände schon lange. Insofern ist das gar nicht unbedingt der Elefant im Raum, den man gern übersieht – wir sind da mitten in der Arbeit. Ich glaube auch, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen. Wir haben bereits etablierte Instrumente, mit denen wir arbeiten können, zum Beispiel die SIA-Norm 101 Nachhaltiges Bauen oder der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz SNBS. Ich sehe da sehr viele Chancen, aber das Tempo ist zu gering, die Sanierungsquote zu tief. Das ist wohl der Kern der Diskussion.

Axel Schubert: Ja, das Tempo ist wichtig. Momentan wird netto null bis 2050 ja zu so etwas wie dem neuen, konservativen Mainstream. Das ist aber viel zu langsam – es markiert schon fast eine reaktionäre Position. Bezüglich netto null haben wir eine extrem hohe Dringlichkeit. Wir müssen Bauen daher nicht nur von der technischen Seite, sondern als gesellschaftspolitisches Thema anschauen. Dann kommen wir auch auf andere Lösungen.


Ein radikaler Lösungsvorschlag wäre das Baumoratorium, wie es im Klima-Aktionsplan des Klimastreiks vorgeschlagen wurde, an dem Sie, Herr Schubert, ja auch mitgeschrieben haben. Was genau wird da gefordert?

Axel Schubert: Das geforderte Baumoratorium sagt, dass – wenn wir nicht klimaneutral bauen können – wir nur noch dann bauen dürfen, wenn es für den Aufbau von nachhaltiger Infrastruktur nötig ist und entsprechend einen Beitrag an die Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft leistet.

Friederike Kluge: Da würde ich gern einsetzen. Derzeit kommt die Frage zu kurz: Wie sollten wir eigentlich heute bauen? Wie verhält man sich angesichts des Klimanotstandes? Oft gibt es nachhaltigere Alternativen, doch werden sie nicht unbedingt geprüft. Das hat nicht nur, aber auch mit Zeitdruck zu tun. Das Moratorium auf Neubauten macht auf dieses Problem aufmerksam. Ein jeder steht in der Verantwortung, in seinem Bereich zu reflektieren, wo dringend anstehende Anpassungen vorgenommen werden müssen. Vielleicht wäre es insofern ganz gut, mal innezuhalten. Zeiten des Baubooms sind keine guten Zeiten für Veränderungen, man greift auf altbekannte Strategien zurück, die aber in der aktuellen Situation nicht mehr zielführend sind.


Ein Moratorium wird bei bauenschweiz wohl kaum Unterstützung finden, aber der Verband hat sich letztes Jahr klar für das CO2-Gesetz engagiert. Und gleichzeitig befürwortet man Ersatzneubauten von Siedlungen, die man aus nachhaltiger Sicht vielleicht besser stehenlassen würde. Ist das nicht eine widersprüchliche Politik?

Cristina Schaffner: Nein, das ist kein Widerspruch. In der Bauwirtschaft wird Nachhaltigkeit mit dem etablierten «Standard Nachhaltiges Bauen» in einer breiten Vielfalt entlang der drei Säulen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft beurteilt. Wenn man das alles abwägt, kann man auch zum Schluss kommen, dass ein Ersatzneubau mehr Sinn macht als zum Beispiel eine energetische Sanierung der Gebäudehülle. Keine Ideologie soll über Baumethode oder Baumaterial entscheiden, sondern eine umfassende Prüfung der Nachhaltigkeit.

Peter Dransfeld: Dem kann ich beipflichten. In meinen Augen ist abreissen und neu bauen mitunter tatsächlich sinnvoller als eine Umnutzung, zum Beispiel bei Betonbauten mit starren Raumstrukturen. Das muss man im Einzelfall anschauen. Ich selber wohne in einem 400-jährigen Altbau, der mit einem Anbau zu einem Nullenergiehaus geworden ist.

Friederike Kluge: Es ist richtig, in der Nachhaltigkeit gibt es keine starren Regeln, keine Eindeutigkeit. Stattdessen muss man in einem komplexen System sorgfältig abwägen. Meines Erachtens könnten wir jedoch durch kreative Konzepte viel mehr Gebäude weiterverwenden. Der Ersatzneubau wird jedoch meistens aus ökonomischen Gründen bevorzugt, die Treibhausgase spielen eine untergeordnete Rolle. Und Peter Dransfeld: Wir haben nicht nur ein CO2-Problem, da greift mir derzeit die Diskussion zu kurz. Viele Ressourcen sind endlich, und wir wissen nicht wohin mit all dem Abfall.


Bevor wir im Je-Nachdem den Überblick verlieren, noch einmal die ganz schlichte Frage, die in der Moratoriumsforderung steckt: Wir sollten insgesamt viel weniger bauen, richtig?

Friederike Kluge: Auf jeden Fall müssen wir das gebaute Volumen reduzieren, und hinkommen zu qualitätsvollen, kleinen Eingriffen an der bestehenden Substanz. Wir müssen die Quadratmeter durch eine bessere Organisation intensiver nutzen, Leerstand vermeiden und Mehrfachnutzungen andenken. Wir müssen weg von der Quantität und hin zu mehr Qualität.

Axel Schubert: Ja, wir müssen substanziell weniger bauen, aus ganz verschiedenen Gründen. Es geht da letztlich um die Utopie der Wachstumsgläubigen, dass wir weitermachen können wie bisher und bloss schauen müssen, wie wir Wachstum vom CO2-Ausstoss entkoppelt bekommen. Diese Option entbehrt aber empirischer Grundlagen. Nur ein Weiter-So in Grün – das wäre zu billig. Es geht darum, diese Krise ernst zu nehmen. Wenn wir bei um 2 Grad einen globalen Tipping Point anstossen, dann steigt der Meeresspiegel langfristig um 60 Meter. Und auch in optimistischen Szenarien sprechen wir immer noch von einem Anstieg von 2 Metern bis ins Jahr 2300. Darum ein Stopp, bis klimapositives Bauen möglich ist.

Cristina Schaffner: Ich kann dem Innehalten durchaus etwas abgewinnen, um uns fit zu machen. Aber, Herr Schubert, da Sie so grundsätzlich werden: Ich finde es extrem schwierig, das so isoliert zu diskutieren. Bauen hat ja immer viele Aspekte, raumplanerische, gesellschaftspolitische und eben energetische. Da gibt es viele schwierige Herausforderungen, den begrenzten Lebensraum, die hohen Mieten bzw. den knappen Wohnraum, um nur etwas zu nennen. Wurden in der Diskussion des Moratoriums diese Aspekte ausgeblendet?

Axel Schubert: Nein, ganz im Gegenteil. Es geht bei der Moratoriumsforderung auch darum, dass wir als Gesellschaft herausfinden, wie wir uns mit dem Vorhandenen organisieren können – solange es keine klimaneutralen Lösungen gibt. Zur Wohnungsnot: Die hat unter anderem ja damit zu tun, dass der Wohnflächenverbrauch im Neubau signifikant höher ist als im Altbau. Auch hier provoziert das Moratorium, dass wir uns gesellschaftlich ein wenig neu erfinden.

Peter Dransfeld: Meines Erachtens ist es ein Irrtum anzunehmen, dass der komplette Umbau der Bauwirtschaft und die massive Reduktion des Neubauvolumens ein wirtschaftliches Problem für den Bausektor darstellen. Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen, das anzugehen wird genug Arbeit generieren. Auch die Kompetenz ist im Umbau in hohem Mass vorhanden. Das Problem sind nicht die Fachleute, sondern die Bauherren, die zu wenig bereit sind, in solche Projekte zu investieren.

Cristina Schaffner: Das ist ein wichtiger Punkt: Wie können wir die richtigen Anreize setzen? Wie bekommen wir es hin, dass die Sanierungsquote steigt? Da müssten wir natürlich auch über die Rolle der Banken reden! Diese machen sich ebenfalls Gedanken und Swiss Banking hat erst kürzlich ein entsprechendes Diskussionspapier mit vier Handlungsfeldern publiziert.

Axel Schubert: Unbedingt, die Banken sind enorm wichtig: Wir brauchen ja Eigentümer, die ihr Geld in klimaneutrale Bauten stecken. Dazu brauchen wir Investitionsprogramme und Kantonalbanken, die mit gutem Beispiel vorangehen. Wir brauchen unbedingt ein gemeinsames Engagement, über ein breites gesellschaftspolitisches Spektrum hinweg.

Cristina Schaffner: In meinen Augen wäre die Lösung: Wir bauen nicht weniger, wir bauen anders. Eigentlich ist die Schweiz ja fertig gebaut. Das heisst: Wir haben grosse Herausforderungen bei den Themen Verdichten und Sanieren. Und die werden wir nicht lösen, indem wir gar nichts mehr machen.

Friederike Kluge: Ja, aber bis wir herausgefunden haben, wie «anders» genau geht, ist der effektivste Schlüssel, weniger zu bauen. Das Problem ist, dass noch viele Personen denken, wenn ich Holz einsetze oder CO2-neutralen Beton, ist das schon nachhaltig. Dann kann ich meine 300-Quadratmeter-Villa bauen. Das ist ein echtes Problem, wir erleben gerade eine Zeit des Greenwashings.

«Mit den jetzigen Anreizstrukturen können wir von renditegetriebenen Anlegern in einem zunehmend globalisierten Immobilienmarkt gar nicht erwarten, dass sie etwas für lokale Belange oder das Klima tun.» Axel Schubert


Stichwort «Verdichten». In Zürich hat der Gemeinderat gerade beschlossen, dass es bei kommunalen Bauten keine Ersatzneubauten mehr geben soll, dass also mit dem Bestand gearbeitet wird. Unter anderem auch deshalb, weil das vielbeschworene «Verdichten» oft gar keines ist, vor allem wenn Private bauen. Da zeigt sich, dass im Ersatzneubau weniger Menschen auf gleich vielen Quadratmetern wohnen wie zuvor.

Axel Schubert: Wie schon gesagt: In Neubauten ist die personenbezogene Wohnfläche grösser als in Altbauten. Wir sollten da auch Modelle anschauen, die mit Wohnflächen anders umgehen. Erst wenn wir die Potentiale der bestehenden Bauten ausgeschöpft haben, wenn wir sachte saniert haben, dann kann man über Neubauten nachdenken. Einfach weiterbauen und sagen: «Wir machen es so grün wie möglich» – das ist der falsche Weg.

Peter Dransfeld: Zunächst gebe ich ihnen recht: Die aktuellen 55 Quadratmeter Wohnfläche pro Person sind zu viel, da müssen wir runterkommen, keine Frage. Bei Schulen ist es übrigens noch extremer, da brauchen wir heute doppelt so viel Platz wie noch vor 20 Jahren. Aber, Herr Schubert: Ich weiss nicht, wie Sie mit der Kostenfrage umgehen. Meine Erfahrung ist, dass gute Umbauten teurer sind als Neubauten, leider. Das ist ein grosses Problem, da sind wiederum die Bauherrschaften gefragt, und die Banken.


Ist das so? Sanieren ist oft teurer als neu bauen?

Axel Schubert: Ja. Guter Umgang mit dem Bestand ist oft händische Arbeit. Und die ist personalintensiv und darum teuer. Es gibt aber auch Beispiele, wo Bestandserhalt und Sanierung in der Gesamtschau – d.h. inklusive soziökonomischer Aspekte – besser als Ersatzneubauten abgeschnitten haben. Wir sollten viel öfter solch vergleichende Projektstudien anstellen.

«Es ein Irrtum anzunehmen, dass der komplette Umbau der Bauwirtschaft und die massive Reduktion des Neubauvolumens ein wirtschaftliches Problem für den Bausektor darstellen.» Peter Dransfeld

Friederike Kluge: Ich glaube, auch das kann man nicht pauschal sagen, es kommt vor allem auf die nötige Eingriffstiefe an. Und falls eine Sanierung teurer sein sollte, muss man sich vor Augen führen, dass man dabei etwas Gutes für das Klima tut. Sehen wir es als eine Art Spende für unsere Zukunft an, solange es noch keine kostendeckende CO2-Steuer gibt. Und als eine Möglichkeit, die Identität von funktionierenden Orten zu wahren und diese gleichzeitig zukunftsfähig zu machen. Einige in Altbauten genutzte Materialien oder Details können sich viele Bauherren gar nicht mehr leisten, z.B. verzierte Sandsteineinfassungen, sorgsam eingebaute Möbel aus Vollholz etc. Aber natürlich, die Auftraggeber müssen das auch wollen, sprich, finanzieren.


Ich sehe derzeit nicht, dass diese Art von architektonischem Denken auf breiter Front zur Anwendung käme. Folgt jetzt eine neue Generation von Architektinnen und Architekten, die das ändern will?

Peter Dransfeld: Im Mainstream ist es noch nicht angekommen. Das muss sich ändern, ganz eindeutig.

Friederike Kluge: Wenn ich an die Hochschulen schaue, dann sehe ich: Die junge Generation fordert nachhaltiges Bauen ein, und zwar vehement. Sonst habe ich aber auch den Eindruck, dass es noch nicht angekommen ist. Wie Preise vergeben werden, wie schiere Grösse noch als Qualitätsmerkmal angesehen wird, was in Fachzeitschriften als Baukultur diskutiert wird, das berücksichtigt den Nachhaltigkeits-Aspekt noch nicht so, wie es eben notwendig wäre. Wie können wir das entsprechende Wissen in die Breite tragen? Die Jungen sind auf jeden Fall sehr interessiert daran, sie sind aber leider nicht die Entscheidungsträger. Wenn sie zu Entscheidungsträgern werden, ist es aber schon zu spät, denn wir müssen jetzt handeln.


Täuscht der Eindruck, dass der Wandel in der Lehre vor allem von der ETH ausgeht, also eine elitäre Sache bleibt?

Friederike Kluge: Ich glaube, es ist mittlerweile an allen Schulen ein Thema, aber – wie auch an der ETH – ein relativ junges Phänomen. Es findet ein Wandel statt, aber klar, das Volumen wird in der breiten Masse gebaut. Deshalb ist es so wichtig, dass gute Gebäudeentwürfe publiziert und diskutiert werden. Und zur Frage anregen: Was kann Baukultur bedeuten, wenn wir sie ernsthaft mit Ökologie verbinden? Nachhaltiges Bauen muss aus der Nische raus und die architektonischen Konzepte grundlegend, von der ersten Skizze an, beeinflussen.

Peter Dransfeld: Wer sich für nachhaltiges Bauen eingesetzt hat, wurde von ETH-Kreisen lange belächelt. In den letzten 5 bis 10 Jahren wurde einiges nachgeholt. Wir müssen aber ganz nüchtern feststellen, dass die architektonische Elite diese Entwicklung hierzulande verschlafen, wenn nicht sogar bekämpft hat.

«Durch kreative Konzepte könnten wir viel mehr Gebäude weiterverwenden.» Friederike Kluge


Was wären denn die politischen Forderungen, um etwas in Bewegung zu bringen? Oder Forderungen an die Bauherren?

Peter Dransfeld: Wir haben einige grobe Fehlentwicklungen in der Politik. Die Förderpolitik ist in Ordnung, was zum Beispiel Sanierungen von Gebäudehüllen angeht, aber absolut ungenügend, was wegweisende Pilotprojekte betrifft. Ich sehe da eindeutig eine völlig mangelnde Vorbildfunktion der öffentlichen Bauherrschaften.

Cristina Schaffner: Da schliesse ich mich an, was die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand betrifft. Die rechtliche Grundlage wäre eigentlich seit dem 1. 1. 2021 mit dem revidierten öffentlichen Beschaffungsrecht gegeben. Seither muss bei Bauprojekten der öffentlichen Hand, zumindest auf dem Papier, nicht mehr das wirtschaftlich günstigste, sondern das «vorteilhafteste» Angebot zum Zuge kommen.

Friederike Kluge: Die derzeitigen Bestrebungen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels sind ungenügend. Um im Baubereich netto null bis 2030 zu erreichen, sind umfassende Massnahmen nötig, nicht nur was den Energiebedarf von Bauten und die graue Energie beim Bauen angeht, sondern auch bei der Nutzflächeneffizienz. All das muss von einer hohen Baukultur begleitet und mittels fairer Wettbewerbe entwickelt werden, um die Qualität und die Akzeptanz von Gebäuden zu gewährleisten. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so merke ich in meinem Berufsalltag leider, dass aus Kosten- und Zeitdruck trotz Interesse an der Nachhaltigkeit oft Entscheidungen getroffen werden, die ökologisch fraglich sind. Bauherrschaften könnten hier einen grossen Beitrag leisten. Aber es ist viel Überzeugungsarbeit nötig, wenn es nicht von den politischen Rahmenbedingungen vorgegeben wird.

Axel Schubert: «Die» Bauherrschaft gibt es nicht, das ist ein heterogenes Feld. Damit wären wir wieder beim Thema «Anreize». Wir müssen diesbezüglich auf der ganzen Klaviatur spielen: Finanzpolitik, Steuerpolitik, neue Bonus-Malus-Systeme bezüglich Wohnbelegung. Wir brauchen eine Politik der Suffizienz und eine Gemeinwohlorientierung des Bauens. Denn mit den jetzigen Anreizstrukturen können wir von renditegetriebenen Anlegern in einem zunehmend globalisierten Immobilienmarkt gar nicht erwarten, dass sie etwas für lokale Belange oder das Klima tun.

«Eigentlich ist die Schweiz fertig gebaut. Das heisst: Wir haben grosse Herausforderungen bei den Themen Verdichten und Sanieren.» Cristina Schaffner


Gibt es denn auch Erwartungen an die Verbände, Frau Kluge und Herr Schubert?

Friederike Kluge: Wir werden zwar immer politischer, aber wir merken auch, dass die politischen Hebel nicht unbedingt die sind, die wir im Alltag bei unserer Arbeit nutzen können. Den Verbänden kommt da eine wichtige Rolle zu. Aber ich habe auch die Hoffnung, dass wir Architektinnen und Architekten uns vermehrt einbringen und auf griffige Massnahmen hinarbeiten. Zu schaffen ist eine solch grosse Aufgabe nur, wenn alle anpacken.

Axel Schubert: Unverändert fordert die Klimabewegung, die Krise als solche anzuerkennen, in all ihrer Tiefe und Dringlichkeit. Verbände müssen auch mal ein Veto einlegen, wenn der Bundesrat zu zaghaft agiert oder netto null erst 2050 will. Wir müssen die Vertracktheit der Situation gemeinsam anerkennen, Diskurse eröffnen und schauen, wie wir zusammen weiterkommen. Statt zu schnell pragmatisch zu schliessen und so zu tun als hätten wir schon adäquate Lösungen. Eine weiterreichende Gesellschaftskritik ist insofern als Chance zu verstehen. Das braucht mitunter Mut. Den wünschen wir uns von der gesamten Gesellschaft – und auch von den arrivierten Verbänden.

Foto: Reto Schlatter

Peter Dransfeld ist Architekt ETH und leitet das Büro dransfeldarchitekten in Ermatingen (TG), das für seine nachhaltigen Lösungen schon vielfach ausgezeichnet worden ist. Dransfeld ist Präsident des SIA (Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein) und war bis vor kurzem Fraktionspräsident der Grünen im Kanton Thurgau.

Foto: zVg

Friederike Kluge schloss 2007 ihr Architekturstudium an der Universität Karlsruhe ab. Nach fünf Jahren bei Buchner Bründler als Architektin in Basel machte sie sich selbstständig und führt seit 2014, zusammen mit Meik Rehrmann, das Architekturbüro Alma Maki Architektur in Basel. Von 2013 bis 2019 arbeitete sie an der ETH Zürich, seit 2019 lehrte sie als Professorin für Konstruktion und Entwurf an der Hochschule Konstanz, seit 2022 an der FHNW in Muttenz. Als Teil der Gruppe «Countdown 2030» setzt sie sich für eine zukunftsfähige Baukultur ein. 

Foto: zVg

Cristina Schaffner ist seit April 2020 Direktorin des Dachverbandes der Bauwirtschaft Bauenschweiz mit rund 76 Mitgliedsverbänden aus den Bereichen Planung, Bauhauptgewerbe, Ausbau und Gebäudehülle sowie Produktion und Handel. Zuvor arbeitete sie während zehn Jahren als Senior Consultant und Mitglied der Geschäftsleitung bei furrerhugi.

Sie hat einen Master of Arts in International Affairs and Governance der Universität St. Gallen.

Foto: zVg

Axel H. Schubert, dipl.-Ing. arch., Bauassessor, Stadtplaner (FSU, SRL), ist seit 2020 als Dozent für Nachhaltigkeit am Institut Architektur der FHNW. Stationen u. a. als Stadtplaner (Planungsamt Basel, 2005–17), Co-Studiengangsleiter MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung (HSLU, 2017–18), Mitglied Labelkommission Energiestadt (2013–16) und Präsident Labelkommission 2000-Watt-Areale (2016/17). Mitinitiant Klimagerechtigkeitsinitiative Basel2030.ch, klimaverantwortungjetzt.ch; schreibt zu Planungstheorie und Leitbildkritik.

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