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14.03.2022 von Katharina Wehrli

Die Krux mit der grauen Energie

Wenn die Schweiz das Netto-null-Ziel erreichen will, muss sich der material- und energieintensive Bausektor radikal verändern. ­Ansätze für ressourcenschonendes Bauen sind durchaus vorhanden. Nur, wie können sie sich durchsetzen?

Artikel in Thema bauen. wohnen. klima.
Illustration: Claudine Etter
In der Schweiz wird enorm viel gebaut: Jährlich entstehen rund 50 000 neue Wohnungen. Nicht überall werden diese auch gebraucht. Während in den Städten und Agglomerationen neue Wohnungen teuer vermietet oder verkauft werden, stehen sie im Mittelland oft leer. Denn das Angebot wird heute nicht nur von der Nachfrage, sondern vor allem von den tiefen Zinsen getrieben. Mangels rentabler Alternativen investieren ins­titutionelle Anlegerinnen und Anleger wie Banken, Versicherungen, Pensionskassen immer stärker in Immobilien. Wohnimmobilien sind eine sichere und rentable Anlage – im Jahr 2020 warfen sie in der Schweiz gemäss Wüst Partner eine durchschnittliche Rendite von 3,2 Prozent ab –, und sie gewinnen wegen der steigenden Bodenpreise stetig an Wert. Neben den Negativzinsen ist dies ein Grund dafür, dass sich das Bauen für Investorinnen und Investoren lohnt, selbst wenn die Wohnungen eine Weile lang leer stehen.

Die verdrängte Seite des Baubooms

Was aber bedeutet die intensive Bautätigkeit fürs Klima? Fördert sie die Transformation des Gebäudeparks in Richtung netto null? Die Antwort mag überraschen. Einerseits sind viele Neubauten energetisch top: Dank guter Dämmung benötigen sie viel weniger Heizenergie als ältere Häuser, und viele werden mit erneuerbarer Energie betrieben. Manche sind sogar «klimapositiv» und produzieren etwa mit Solarzellen mehr Energie, als sie selber brauchen. Andererseits benötigt Bauen viel Energie für Herstellung und Transport der Baumaterialien und den Antrieb der Baumaschinen. Solange diese sogenannte graue Energie nicht aus erneuerbaren Quellen stammt, verursacht sie Treibhausgase. Gemäss einer Empa-Studie sind Baumaterialien für knapp 10 Prozent der Schweizer Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Bislang wurde die graue Energie wenig thematisiert; energiepolitische Diskussionen und staatliche Fördermassnahmen fokussierten auf die Betriebsenergie von Neubauten und auf die dringend notwendigen ener­getischen Sanierungen von älteren Häusern. Aber die graue Energie ist ein entscheidender Hebel für den Klimaschutz, denn sie macht über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes 40 bis 50 Prozent seines Energieverbrauchs aus. Besonders ins Gewicht fällt sie, wenn für einen Neubau Häuser abgerissen werden, weil dann die graue Energie des abgerissenen Gebäudes verloren geht und der Bauschutt energieintensiv recycelt oder deponiert werden muss. Die Bauwirtschaft produziert heute 74 Millionen Tonnen Abfall pro Jahr, das sind 85 Prozent der gesamten Abfallmenge der Schweiz.

Andere Materialien, weniger Fläche

Damit die Schweiz das Netto-null-Ziel erreicht, muss sich der Bausektor grundsätzlich verändern. Aber wie? In der Architektur- und Planungsszene findet seit einiger Zeit eine intensive Auseinandersetzung über klimaneutrales Bauen beziehungsweise die sogenannte Netto-null-Architektur statt. So engagiert sich etwa die Gruppe Countdown 2030 für ein radikales Umdenken, damit Nachhaltigkeit auf jeder Ebene der Planungs- und Bauprozesse entscheidungsrelevant wird.
Zu den klimaschonenden Ansätzen, die heute an den (Fach-)Hochschulen erforscht werden und die immer mehr Eingang in die Bauwirtschaft finden, gehören Baumaterialien, deren Herstellung weniger CO2 freisetzt als Beton (siehe «Holz, Lehm und Beton vereint»). Auch Wohnungen mit weniger Fläche pro ­Person sparen Boden, Material und Energie. Hier können die gemeinnützigen Wohnbauträger als Vorbild dienen, denn genossenschaftliches Wohnen braucht nur 75 Prozent der Fläche von konventionellen Mietwohnungen, im Vergleich zu Wohneigentum sogar nur 40 Prozent.

Sanieren und erweitern statt abbrechen und neu bauen

Am ressourcenschonendsten aber ist, wenn nicht abgerissen und neu gebaut, sondern die bestehende Bausubstanz erweitert und an heutige Bedürfnisse angepasst wird. Pionierin auf diesem Gebiet ist die Basler Architektin Barbara Buser: Seit 30 Jahren verfolgt sie radikal das Prinzip, bestehende Gebäude «weiterzubauen», also aufzustocken oder anzubauen, und dabei wenn möglich gebrauchte Bauteile zu verwenden. Bekannt wurden ihre Umnutzungsprojekte in Basel (Gundeldinger Feld, Unternehmen Mitte); sie gründete die Basler Bauteilbörse und ist Mitgründerin des Baubüros in situ sowie der Denkstatt sàrl. Gemäss Buser braucht es heute eine totale Umkrempelung der Bauwirtschaft, und zwar gemäss der Regel «reduce, reuse and recycle»: «Man muss weniger von allem machen, weniger neu bauen, weniger transportieren, weniger Material brauchen», erklärt sie. «Das Zweite ist ‹reuse›, also mit dem arbeiten, was wir haben. Wir haben nämlich Milliarden von Kubikmetern an gebauter Umwelt, und die muss man nutzen, am besten so, wie sie grad sind. Denn sobald man verändert, entsteht wieder Abfall, und man braucht neue Ressourcen. Recycling sollte nur im Notfall angewendet werden, denn auch hier geht Energie verloren.»
Wie das gehen kann, zeigt beispielsweise das jüngste und mehrfach ausgezeichnete Projekt des Baubüros in situ: Bei der Aufstockung einer Werkhalle auf dem Winterthurer Sulzerareal konnten durch die Verwendung von 70 Prozent gebrauchter statt neuer Bauteile 500 Tonnen CO2 beziehungsweise rund 60 Prozent der Treibhausgasemissionen eingespart werden – und das bei gleichen Kosten im Vergleich zu einem Neubau mit neuen Baumaterialien. 100 Prozent Wiederverwendung wären zwar technisch möglich, aber teurer, denn die Wiederverwendung von vielen Bauteilen ist mit einem Mehraufwand verbunden. Dazu Buser: «Im Moment sind dies alles Pionier- und Pilotprojekte, Einzelanfer­tigungen, wie ein Massanzug, und das kostet einfach mehr als Prêt-à-porter.»

Und die Politik?

Was braucht es, damit ressourcenschonendes Bauen günstiger wird und sich durchsetzen kann? Ein hängiges Postulat der Zürcher GLP-Nationalrätin Barbara Schaffner verlangt vom Bundesrat, darzulegen, «welche Massnahmen ergriffen werden müssen, damit der Hochbau kompatibel mit dem Ziel netto null 2050 wird». In ihrer Begründung betont Schaffner, dass eine Dekarbonisierung des Gebäudesektors nur möglich sei, wenn auch die graue Energie gesenkt werde. Der Bundesrat soll klären, mit welchen regulatorischen oder finanziellen Massnahmen der Einsatz von CO2-armen Baumaterialien sowie Recycling und «reuse» von Baustoffen gefördert werden könne. 
Der Bericht des Bundesrats soll Mitte 2023 vorliegen. Wird er zu einer umfassenden Gesetzesvorlage für eine Dekarbonisierung des Bausektors führen? Schaffner erwartet nicht, dass es eine Vorlage aus einem Guss gibt. «Wahrscheinlich muss man es aufteilen auf verschie­dene Revisionsschritte auf verschiedenen Gesetzesebenen.» Das klingt nach einem langen Prozess. «Nicht unbedingt», entgegnet Schaffner. «Es kommt drauf an, für welche Massnahmen man sich entscheidet. Für eine finanzielle Förderung gibt es schon heute Möglichkeiten, und zwar über die Teilzweckbindung im CO2-Gesetz. Vor allem die Kantone können aus diesem Topf Förderprogramme finanzieren. Der Bund kann übergeordnete Vorgaben machen und Pilot- und Forschungsprojekte unterstützen.»
Grundsätzlich liegt der Baubereich aber in der Hoheit der Kantone – sie machen die Bauvorschriften –, und dort hat sich in jüngster Zeit einiges bewegt. Nach Basel Stadt (2017) haben im Herbst 2021 auch Glarus und Zürich ein weitgehendes Verbot von neuen Öl- und Gasheizungen beschlossen. Diese Gesetzesänderungen zielen aber ausschliesslich auf die Betriebsenergie. Den Versuch, die graue Energie von Gebäuden zu reduzieren, hat bislang noch kein Kanton unternommen.
In der Zürcher Baudirektion ist man sich des Pro­blems bewusst. In einem «Hochparterre»-Interview Anfang dieses Jahres sagte Baudirektor Martin Neukom: «Aus energetischer Sicht lohnen sich Neubauten nicht. Baut man neu und energieeffizient, verbraucht das Haus zwar wenig Energie im Betrieb. Dafür fällt die graue Energie für Abbruch, Aushub, Herstellung und Bau umso mehr ins Gewicht.» Angesprochen auf eine mögliche «Netto-null-CO2-Bilanz» im Zürcher Planungs- und Baugesetz sagte Neukom weiter: «Die Bilanzfrage ist wichtig, und sie wird kommen. Aber wir sind damit noch im Frühstadium. Bauen ist schon kompliziert, wir müssen wissen, was wir regulieren wollen, auch um Rebounds zu vermeiden.» Energie- oder CO2-Bilanzen, die den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden abbilden, können künftig auf nationaler wie kantonaler Ebene die Grundlage für Fördermassnahmen und Regulierungen bilden, so wie das Fachleute seit Längerem fordern.

Graue Energie bilanzieren und reduzieren

Nicht nur die öffentliche Hand, auch privatwirtschaftliche Akteure können aufgrund von Energiebilanzen finanzielle Anreize setzen. Rund 30 Schweizer Banken bieten heute ihrer Hypothekarkundschaft vergünstigte Konditionen an, wenn das Bau- oder Reno­vationsvorhaben bestimmte energetische Standards erfüllt. Die meisten stützen sich dabei auf den «Minergie»-Standard, der bis vor Kurzem ausschliesslich die Betriebsenergie abbildete. Seit Anfang 2022 müssen nun alle «Minergie»-zertifizierten Neubauten auch die Treibhausgasemissionen bei der Erstellung ausweisen; ein Grenzwert soll zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt werden.
Einen Schritt weiter als andere Banken geht die ABS: Auch sie bietet Zinserleichterungen auf Hypotheken für energieeffiziente und umweltschonende Bau- und Sanierungsvorhaben an. Dabei stützt sie sich seit fast 20 Jahren auf ein eigenes, umfassendes Immobi­lien-Rating, das neben der Betriebs- auch die graue Energie und weitere Umweltkriterien bewertet (siehe «Nicht ehrgeizig, sondern existenziell»).
Auch einzelne Bauunternehmen treiben die Bilanzierung und Reduktion der grauen Energie voran. Losinger Marazzi, ein auf Grossprojekte spezialisiertes Generalunternehmen, das zum internationalen Konzern Bouygues Construction gehört, will den Investoren künftig eine CO2-Bilanz anbieten, in der die Emissionen bei der Produktion der Materialien, beim Bau und beim Betrieb der Immobilie zusammengerechnet werden. Ziel ist, die Erstellungsenergie bereits bei der Planung mitzudenken und zu reduzieren. CEO Pascal Bärtschi zeigte sich im Gespräch mit der Zeitschrift «Werk, Bauen + Wohnen» überzeugt, dass Immobilien mit schlechter CO2-Bilanz künftig an Wert verlieren würden.

Braucht es eine neue Lenkungsabgabe oder gar einen Shutdown?

Den mächtigsten Hebel, um den Wandel in der Bauwirtschaft zu beschleunigen, sieht Architekturpionierin Barbara Buser im Energiepreis: «Man müsste die Energiepreise erhöhen, und zwar mit einer Abgabe, die zurückgelenkt wird, um die Arbeit zu verbilligen. In der Schweiz kostet Arbeit im Vergleich zu Material und Energie sehr viel. So lohnt es sich heute finanziell nicht, eine Wand wieder in ihre Backsteine zu zerlegen, weil diese Arbeit zu teuer ist – ökologisch sinnvoll wäre sie aber, denn Backstein enthält sehr viel graue Energie.»

« Wir haben Milliarden von Kubikmetern an gebauter Umwelt, und die muss man nutzen, am besten so, wie sie grad sind. »

Nur, neue Lenkungsabgaben lassen sich im Moment politisch kaum durchsetzen, wie die Ablehnung des revidierten CO2-Gesetzes im vergangenen Jahr gezeigt hat. Dem hält Barbara Buser entgegen: «Es bräuchte einfach eine bessere Kommunikation. Man muss das Thema anders aufarbeiten, bekannt und beliebt machen.» Sie verweist auf die schweizweit erste Lenkungsabgabe auf Strom, die Basel vor gut 20 Jahren eingeführt hat. Einen weiteren Anreiz sähe sie in der Ausweitung des Zertifikathandels, nämlich wenn CO2, das dank ressourcenschonender Bauweise eingespart wird, in Form von Zertifikaten weiterverkauft werden könnte.
Ansatzpunkte, um klimaschonendes Bauen zu fördern, sind also vorhanden. Aber was ist jetzt prioritär? Wo muss man zuerst ansetzen, damit die Bauwirtschaft die ökologische Wende rechtzeitig schafft? «Überall. Sofort. Gleichzeitig», antwortet Buser. «Wir haben keine Zeit mehr. Meine Idee wäre, dass man – wie bei Corona – einfach sagt: Jetzt legen wir alles still und denken nach. Und alle, die etwas CO2-Neutrales bringen können, dürfen bauen, alle anderen dürfen nicht mehr.»
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