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13.03.2019 von Roland Fischer

Arbeit, nicht Menschen hierarchisieren

Bietet Holacracy einen Ausweg aus der Ungleichheitsfalle der aktuellen Arbeitswelt? Nach­gefragt bei zwei Firmen, die das Modell anwenden.

Artikel in Thema Frauen und Geld
Wie kann man Unternehmensstrukturen gendergerechter machen? Braucht es dazu womöglich mehr als einfach guten Willen und einen Kulturwandel, sondern gleich eine komplett neue Art der Unternehmensführung? Seit ein paar Jahren macht eine Idee Furore, die in der Wirtschaftswelt wahlweise als grosses Heilsversprechen oder als Schaumschlägerei aus dem Silicon Valley gehandelt wird: Holacracy.

Die beste Idee gewinnt

Gerhard Andrey, seit 2017 im Verwaltungsrat der Alternativen Bank Schweiz, kennt beide Einschätzungen zur Genüge – und findet beide verkehrt. Die Holacracy-Idee werde wahnsinnig missverstanden, stellt der Mitgründer der Digitalfirma Liip gleich mal klar, wenn man ihn anruft. Aber sie ist auch nicht so einfach zu verstehen. In der Holacracy formieren sich Teams und die entsprechenden Rollenverteilungen immer wieder neu, je nach Kompetenzen. Es gibt also keine fixen Karriereleitern, keine Chefposten im klassischen Sinn.
«In Holacracy gewinnt immer die bessere Idee – nicht die Tradition, der Bedenkenträger oder die Vorgesetzte», formuliert es Andrey. Natürlich gebe es auch in der Holacracy Macht und Autorität, sie würden aber nicht kumulativ wie in klassisch hierarchischen Strukturen funktionieren. Was aber auch bedeutet, dass es einflussreichere Rollen gibt – und damit auch einflussreichere Teammitglieder. Was zur entscheidenden Frage führt, ob diese Schaltstellen im Holacracy-Modell leichter von Frauen eingenommen werden können.

Machtballung wird verhindert

Beim Materialmarkt Offcut kam Holacracy ins Spiel, «als es um die Organisation des nationalen Netzwerkes ging», sagt Dominik Seitz von Offcut Schweiz. Es mussten Strukturen gefunden werden, «die den Standorten auch in einem engen Verbund grösstmögliche Autonomie und eine Mitgestaltungsmöglichkeit gaben». Pikanterweise haben die Gründerinnen Simone Schelker und Tanja Gantner dabei einem Mann die Leitung der Dachorganisation überlassen. Gantner sagt, die Frauen seien bei Offcut Basel immer in der Überzahl gewesen, ohne bewusste Entscheidung, dasselbe gelte für Offcut Zürich.
Andrey glaubt unbedingt, dass Holacracy Frauen bessere Chancen bietet. Er nennt als Beispiel eine der Standardrollen in der Holacracy-Struktur, sogenannte «lead links»: «Im General Company Circle – dem Kreis, der die gesamte Organisation umfasst – sind elf Frauen und dreizehn Männer ‹lead links›, bei einem Frauenanteil von 29 Prozent über die gesamte Firma.» Allerdings störe ihn der reine Fokus auf die Genderfrage: «Es wird zu selten über Macht gesprochen, denn darum geht es wirklich. Egal, in wessen Händen, zu viel davon ist grundsätzlich heikel. Holacracy organisiert Macht dezentral und verhindert Machtballung.» Er ist überzeugt, dass mit der Holacracy-Idee die «Ego-Bewirtschaftung» effektiv gemindert werde, das habe er im Arbeitsalltag schon oft beobachten können: «Es öffnen sich geschützte Räume, um tatsächlich Probleme zu lösen. Gerade stilleren Mitarbeitenden, die zwar gute Ideen haben, sich sonst aber kaum zu Wort melden, kommt das sehr zupass.»

«Egal, in wessen ­Händen, zu viel Macht ist grundsätzlich ­heikel.»

Effizienter oder gerechter? Oder beides?

Andrey sagt aber auch, dass es ganz verschiedene Kulturen bei der Umsetzung der Holacracy-Idee gebe. Das ist denn auch einer der Hauptkritikpunkte an der schönen Idee: Dass Holacracy nicht unbedingt mit Gerechtigkeit, sondern in erster Linie mit Renditedenken zu tun habe. Dass das Modell vor allem deshalb so heiss gehandelt werde, weil es verspreche, Unternehmen in einer sich rasch wandelnden Wirtschaftswelt agil zu machen. Das betont auch Andrey: Veränderungen seien gewissermassen einprogrammiert ins Holacracy-System: «Die Organisation kann sich schnell und ohne Top-down-Entscheidungen an veränderte Umstände anpassen.» Das Bild eines Vogelschwarms repräsentiere diese dezentrale Führung wohl am besten. Geht es also nicht um die Bedürfnisse der Angestellten, sondern um eine Massnahme zur Effizienzsteigerung? Die – gewissermassen nebenbei – tatsächlich ein paar verkrustete Genderstrukturen aufbrechen kann?
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