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09.12.2020 von Esther Banz

«Beim Vollzug fehlen die Ressourcen»

Trotz Umweltschutzgesetzen werden Wasser, Böden, Insekten vergiftet und gehen wertvolle Biotope verloren. Wie wirksam ist das Schweizer Umweltrecht? Ein Gespräch mit der Rechtsanwältin Cordelia Bähr.

Artikel in Thema Umwelt im Recht
Illustration: Claudine Etter
moneta: Cordelia Bähr, Sie vertreten die Klima­seniorinnen, verfassten eine Beschwerde gegen die Finanzmarktaufsicht und die Schweizerische Nationalbank wegen mangelhafter Berücksichtigung von Klimarisiken, befassen sich aber auch mit Pestiziden und Wasser …
Cordelia Bähr: Ja, das Umweltrecht ist sehr vielseitig, und als Umweltrechtsanwältin muss ich mir auch immer wieder neues Sachwissen aneignen.

Welches sind die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen zum Schutz der Umwelt?
Das sind in der Bundesverfassung Artikel 73, 74 und 76 bis 79: Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Wasser, Wald, Natur- und Heimatschutz sowie Fischerei und Jagd. 

Und das Klima?
Es gehört derzeit thematisch zum Umweltschutz und ist in der CO2-Gesetzgebung geregelt. In der Verfassung ist das Klima aber nicht erwähnt; das will die Gletscher-Initiative ändern. Der in Art. 74 BV verankerte Umweltschutz hat übrigens einen rein menschenzentrierten Ansatz. 

Was heisst das?
Es geht nicht um den Schutz des Klimas oder überhaupt der Umwelt an sich, sondern um den Schutz der Menschen in ihrer Umwelt – das betrifft beispielsweise Luft, Boden, Lärm, Abfälle. In der Bundesverfassung steht es so: «Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen.» Die natürliche Umwelt – wie das Klima – ist also mitgeschützt. 

Und im Naturschutz?
Der Bund muss gemäss Verfassung Vorschriften zum Schutz der Natur erlassen, um ihrer selbst willen also. Mit Naturschutz ist der Biotop- und Artenschutz gemeint. 

Haben die Arten also ein Grundrecht, ein Recht auf Leben?
Nein, in der Schweiz können nur wir Menschen uns auf die Grundrechte berufen, die in der Verfassung ­verankert sind, wie beispielsweise das Recht auf Leben. 

Die Luft so sauber, das Wasser so rein, die Landschaft so schön ... Unser Natur- und Umweltschutz hat ein gutes Image. Zu Recht?
Das ist ein Mythos, der bröckelt. Der schlechte Zustand der Biodiversität und die schleichende Zerstörung der ­Lebensräume von Tieren und Pflanzen werden von der Öffentlichkeit immer mehr wahrgenommen und zeigen, dass das Instrumentarium mangelhaft ist. In der EU muss übrigens jeder Mitgliedsstaat den Zustand seiner Gewässer innert einer bestimmten Frist verbessern, bis ein «guter Zustand» erreicht wird. Ein vergleichbares Gesetz gibt es hierzulande nicht – und unsere Gewässer sind nicht in besserem Zustand als jene in europäischen Ländern. 

Ist die Natur hierzulande generell unzureichend geschützt? 
So pauschal kann man das nicht sagen. Ein guter Schutz braucht immer gute Rechtsgrundlagen und eine gute Umsetzung. Es ist ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren, das schliesslich bestimmt, was wir draussen in der Natur sehen. Besonderen Schutz geniessen sicherlich die in der Verfassung explizit erwähnten Moore sowie die in einem Inventar erfassten Landschaften und Natur­­denkmäler. Trotzdem stehen die Moore unter Druck, und ­je länger, je mehr auch der Wald, der lange als Positiv­beispiel für den Schweizer Umweltschutz galt.

Inwieweit gibt es im Naturschutz auch eine Abwägung mit wirtschaftlichen Interessen? 
Dieses Abwägen findet statt, zum Beispiel wenn der Bau eines Wasserkraftwerks geplant ist. Es geht aber nicht nur um wirtschaftliche Interessen, sondern beispielsweise auch um jene an der Energieversorgung. Meistens ­erachten die Behörden solche Nutzungsinteressen als wichtiger als den Naturschutz. Eine Gesamtschau hierzu wäre ­interessant. 

Manchmal verschwinden Hecken oder Trockenmauern, die für die Artenvielfalt wichtig sind, langsam und unbemerkt – obwohl sie explizit geschützt sind. Wie kann das sein?
Die Behörden müssen darüber wachen, dass das nicht passiert. Aber beim Vollzug fehlen die Ressourcen. Es bräuchte in den Gemeinden und den Kantonen viel mehr Stellen­prozente. Dass sie diese oft nicht haben, ist ein grosses Problem. Viele Umweltorganisationen übernehmen hier wichtige Aufgaben, indem sie etwa die Behörden auf Missstände hinweisen.
Cordelia Bähr. Foto: zvg
Der Vollzug der Umwelt- und Naturschutzgesetze wird also teilweise mit Spendengeldern finanziert, obwohl er eine Staatsaufgabe ist? 
Die Grenze zwischen dem Vollzug des Rechts und dem Natur- und Umweltschutz als Kernaufgabe der Umwelt­organisationen lässt sich nicht so genau ziehen. Klar ist: Das sollte nicht sein. Volk und Parlament wollten diese ­Gesetze zum Schutz der Umwelt, also müsste deren Vollzug finan­ziell gewährleistet sein. 

Es gibt auch ein Umweltstrafrecht. Wo gilt es?
Es umfasst die Bereiche Abfälle, Stoffe und Organismen, Gewässerschutz, Natur- und Landschaftsschutz, Handel mit geschützten Arten, Wald, Jagd, Fischerei und Umwelt­abgaben. Häufige Fälle im Umweltstrafrecht sind die Ver­unreinigung von Gewässern durch unsachgemässen Umgang mit Treibstoff oder Gülle, etwa wenn ein ­Bauer verseh­entlich Gülle in einen Fluss laufen lässt. Das Strafrecht bietet viele Möglichkeiten, die aber oft ein stiefmütterliches Dasein fristen.

Warum?
Bei einer Strafanzeige kommen Polizei und Staats­anwaltschaft ins Spiel. Das ist eine recht drastische ­Mass­nahme, vor der viele potenzielle Anzeigeerstatter ­zurückschrecken. 

Werden aus diesem Grund viele Straftaten gar nicht gemeldet?
Man versucht es dann eher auf anderem Weg, als ­Privatperson beispielsweise mittels Aufsichtsbeschwerde, mit der man eine Behörde auf Missstände hinweisen kann. Es gibt aber keinen Anspruch darauf, dass die Behörde die Aufsichtsbeschwerde tatsächlich behandelt, und ­entsprechend auch keinen Gerichtsentscheid, der die Verantwortlichen zu etwas verpflichtet. 

Welche Bedeutung hat das Verbands­beschwerderecht?
Eine sehr grosse. Es involviert die Umweltverbände in Verfahren und legitimiert sie, Verfügungen anzufechten, die sich negativ auf die Umwelt auswirken – beispiels­weise die Erlaubnis, ein Gewässer zur Stromerzeugung zu nutzen. Diese Legitimation ist der eigentliche Kern des Verbands­beschwerderechts. Sie ermöglicht den Umwelt­verbänden, Beschwerde am Gericht zu erheben. 

Gilt das für alle Verfahren, in denen es um Umweltfragen geht?
Nein, es muss ein Konnex zum Naturschutz bestehen. Und beim Umweltschutz muss der Bau einer Anlage im Raum stehen, welche die Umwelt erheblich belasten würde. Ansonsten gilt das Verbandsbeschwerderecht beim ­Um­weltschutz – beispielsweise bei der Klimapolitik – nicht. 

Wie sähe unsere Umwelt ohne Verbands­beschwerderecht aus?
Ihr Zustand wäre bestimmt weniger gut. Der Natur- und Umweltschutz wäre gänzlich von den Behörden abhängig. Es gäbe keinen Gegenpol etwa zu Energiekonzernen, die Kraftwerke bauen wollen. Es gäbe niemanden, der ans Gericht gehen könnte, um zu überprüfen, ob das Gesetz richtig angewandt wird. Seit 2018 kann das Verbands­beschwerderecht übrigens auch bei Zulassungsverfahren für Pestizide angewandt werden – der WWF ist dafür ­erfolgreich bis vor Bundesgericht gegangen. 

Das Verbandsbeschwerderecht ist momentan ­also unser bestes Mittel zum Schutz der Umwelt? 
Absolut! Es gibt der Umwelt die Stimme, die sie selbst nicht hat. Die Verfahren würden sonst ziemlich einseitig ­verlaufen. Man stelle sich vor, bei einer Ehescheidung würde nur eine Partei zu Wort kommen.

Können nicht auch Private gegen ein geplantes Wasserkraftwerk vorgehen, um die Umwelt zu schützen?
Nein, für den Umweltschutz vor Gericht gehen und eine Verfügung anfechten können einzig die Verbände. 

Sie könnten als Anwältin in den verschiedensten Bereichen arbeiten. Warum engagieren Sie sich für die Umwelt?
Weil sie uns existenziell betrifft. Ich möchte auf eine Zukunft hinarbeiten, in der Mensch und Umwelt miteinander leben können.

Über Cordelia Bähr

Die auf Umwelt- und Menschenrechte spezialisierte Rechtsanwältin Cordelia Bähr (39) studierte in Zürich und London und ist seit 2016 Partnerin bei Bähr Ettwein Rechtsanwälte. Zusammen mit der inzwischen verstorbenen Ursula Brunner ersuchte sie 2016 im Namen der Klimaseniorinnen den Bundesrat, mehr gegen den Klimawandel zu unternehmen. Er lehnte ab. Nach mehrjährigen Gerichtsverfahren gelangen sie nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Der Fall hat das Potenzial, im Bereich der Klima- und Menschenrechte Geschichte zu schreiben (siehe auch Interview mit Rosmarie Wydler-Wälti). Cordelia Bähr lebt mit ihrer Familie in Zürich.
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