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09.12.2020 von Esther Banz

Wir sägen an unserem Lebensast

In der Schweiz verschwinden kontinuierlich wertvolle Biotope wie Hecken und Trockenmauern – obwohl es sie für den Erhalt der Artenvielfalt braucht und sie von Gesetzes wegen geschützt sind. Barbara Fierz von Pro Natura zeigt am Beispiel des Kantons Glarus, wie das abläuft. 

Artikel in Thema Umwelt im Recht
Trockenmauern wie hier oberhalb von ­Ennenda sind ein wichtiger ­Lebensraum für ­gefährdete Tiere und Pflanzen. Die Fotos von Pro Natura dokumentieren die Ver­änderung in den letzten Jahrzehnten. Foto: zvg
An einem farbenprächtigen Herbsttag holt Barbara Fierz den Besuch am Bahnhof Glarus ab. In einer Sichtmappe trägt die Geschäftsführerin von Pro Natura Glarus Kartenmaterial mit sich, auf der Jacke das Emblem der Naturschutzorganisation, deren lokale Sektion sie vor 13 Jahren mitgegründet hat. Seither führt sie die Sektion in einer Teilzeitanstellung, feste Mitarbeitende hat sie keine. Zurzeit kennt im Kanton jede und jeder ihren Namen und ihr Gesicht – sie führte einen engagierten Abstimmungskampf gegen das revidierte Jagdgesetz.
Barbara Fierz ist froh, dass sie sich jetzt wieder anderen Themen widmen kann. Dem schleichenden Verlust wertvoller Biotope für seltene Arten etwa, der von Gesetzes wegen gar nicht passierten dürfte. Hecken, meterlange Trockenmauern aus Steinen, ja sogar mächtige Bäume verschwinden einfach – manche langsam und diskret, andere über Nacht –, obwohl sie rechtlich geschützt sind. «Gehen wir zuerst in die ‹Bleiche›», sagt Barbara Fierz mit Blick auf die Bilder, die sie mitgebracht hat, «dort hat jemand zwei alte Bergahorne gefällt, die im Inventar waren.» Wir besteigen das Miet­auto und fahren los.

In der «Bleiche», wo plötzlich zwei Bäume fehlen

Ausserhalb des Zentrums von Glarus verläuft die Strasse sanft bergwärts, in Richtung des «Stotzigen». Die mächtigen Bergahorne standen hier auf einer Fettwiese. Fierz schätzt, dass sie über 100 Jahre alt waren. Noch 1989 und 2003 gehörten sie zu einem Dutzend ähnlich alter Bäume an dieser Strasse, vor Kurzem waren es noch vier – und jetzt sind zwei weitere gefällt worden: Die Motorsäge nahm die Stämme nur eine Handbreit über dem Boden.
Beide Bäume sind im Verzeichnis der Biotope von kommunaler Bedeutung aufgeführt, das heisst: Die sind geschützt. Sie boten Vögeln, Insekten, Flechten und Moosen einen Lebensraum. Fierz: «Ein einziger Baum kann entscheidend sein für das Weiterbestehen einer seltenen Flechte.» Pro Natura Glarus war nicht darüber informiert, dass die beiden Bäume gefällt werden sollen. Weiss die Gemeinde, wer das zu verantworten hat? Und was passiert nun? Eine Anfrage beim zuständigen Amt für Bau und Umwelt bleibt unbeantwortet, Corona sei schuld, dass man das nicht innert nützlicher Frist herausfinden und kommunizieren könne. 
Barbara Fierz macht ein paar Fotos – auch von den beiden verbleibenden Bergahornen. Wie lange werden sie noch stehen? Dann gehts weiter.

In Diesbach, wo Steinmauern mysteriös verschwinden

Die nächste Station heisst Diesbach. Das Dorf zählt 210 Einwohnerinnen und Einwohner und gehört seit der grossen Gemeindereform zu Glarus Süd. Zwischen Hauptstrasse und Linth erstrecken sich landwirtschaftlich genutzte Flächen mit alten Trockenmauern. Ein Luftbild von 1990 zeigt drei 40 bis 50 Meter lange Mauern. Heute ist eine der drei komplett verschwunden, eine ist ungefähr halbiert, bei der dritten fehlt ein Teil. «Es fehlt jedes Mal mehr», sagt die Naturschützerin und inspiziert vom nahen Weg aus die verbliebenen Mauerteile. «Diese Trockenmauer verfällt nicht nur – hier wird aktiv zu ihrer Zerstörung beigetragen.»
2008 dokumentierte eine Nachbarin die mutwillige Beschädigung: Bei einem Teil der einen Trockenmauer lagen die Steine lose verstreut da. Es sah aus, als ob jemand mit Wucht hineingefahren wäre. Später fand man die zur Seite geschafften Steine. «Es gab damals eine Verfügung, der verantwortliche Bauer hätte ein Ersatzbiotop bauen müssen. Meines Wissens hat er das aber nie getan», sagt Fierz. Eine Anfrage bei den kantonalen Amtsstellen wenige Tage später bestätigt dies, und Fierz schreibt uns: «Der Ausgleich wurde damals verfügt, dessen Nichtumsetzung hatte aber keine Konsequenzen.» Der Landwirt, der die Zerstörung der Trockenmauern in Diesbach zu verantworten hat, sass damals im örtlichen Gemeinderat. Unterdessen ist die Trockenmauer weiter beschädigt. An einer Stelle liegen die ­Steine lockerer, etwas weiter hat es eine Lücke; nicht auffällig, es wirkt, als hätte jemand einfach ein paar Steine entfernt. 

Glarus ist kein Einzelfall

Je nach Art des Biotops liegt es in der Verantwortung des Kantons oder der Gemeinden, solcher Zerstörung Einhalt zu gebieten. Bei illegalen Eingriffen in Biotope kann eine Wiederherstellung oder Ersatz verfügt werden. Auch die Kontrolle der verfügten Massnahmen obliegt den Verwaltungen. Wenn aber weder die Gemeinden noch der Kanton den Schutz und die Pflege der Biotope gewährleisten – so wie es gesetzlich verlangt wäre –, ist es an den Naturschutzorganisationen, Druck zu machen. Dass es tatsächlich in so vielen Fällen an ihnen hängen bleibt, war nicht die Meinung, als das Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (NHG) ausgearbeitet und verabschiedet wurde.
Der Kanton Glarus ist kein Einzelfall – die Bäume in Glarus und die Trockenmauern in Diesbach stehen exemplarisch für die sukzessive Zerstörung von Lebensräumen bedrohter Arten in der ganzen Schweiz (die freilich mit den Meliorationen und der Intensivierung der Landwirtschaft schon seit Jahrzehnten im Gang ist). Speziell an Glarus aber ist, dass die Gemeinden im Kanton (ausser Glarus selbst) noch immer kein kommunales Verzeichnis ihrer schützenswerten Biotope führen – gemäss NHG müssten sie seit mehr als 25 Jahren eines haben. Es fehle auch an Wissen zu den eigenen biologisch wertvollen Lebensräumen, sagt Barbara Fierz und: «Es braucht klar mehr personelle Ressourcen beim Kanton und insbesondere bei den Gemeinden entsprechende Fachpersonen.»

Im Paradies, in dem die Schösslinge fehlen

Auf dem Weg zurück nach Glarus will Barbara Fierz noch das Gebiet oberhalb des Schwandner Weilers Thon zeigen, ein Bijou von einer lebendigen, kleinteiligen Kulturlandschaft am südöstlichen Fuss des 2900 Meter hohen Vrenelisgärtli. «Ja, es ist schön hier», sagt die Anwältin für die Natur, «aber schauen Sie sich die Hecken und Trockenmauern genauer an. Es geht ihnen nicht gut.» Auf den zweiten Blick wird ersichtlich: Die ursprünglichen Mauern zerfallen zum Teil stark, darauf wachsen Hecken. Was nicht unbedingt schlecht wäre, «man entscheidet sich hinsichtlich des Erhalts je nach Zustand der beiden entweder für die Hecke oder für die Mauer. Doch diese Hecken wurden radikal zurückgeschnitten, schon im Frühjahr sahen sie so aus. Ich sehe keine diesjährigen Schösslinge.» 
Eine zu stark und zu oft gestutzte Hecke, die nicht mehr wächst, bietet Vögeln keine Nistplätze mehr, etwa den selten gewordenen Neuntötern, die auf Dornenbüsche angewiesen sind. Der so wertvolle Lebensraum ist für manche in ihm heimische Arten keiner mehr. Es wird still und öde in dieser Landschaft, die oberflächlich noch ansprechend aussieht. Geschulte Augen und Ohren nehmen es sofort wahr. Andere wollen es nicht wahrhaben.
Fehlt einfach das Bewusstsein? Auf die Frage, warum ausgerechnet Landwirte zerstören, was ihre Vorfahren gebaut und gepflegt haben, antwortet Fierz: «Das frage ich mich selbst auch. Vor allem bei den Bäumen. Bei ­Trockenmauern oder Hecken geht es wohl um die leichtere Bewirtschaftung mit immer grösseren Maschinen. Manchmal aber auch – bei den Hecken – um den Schattenwurf, der den Ertrag verringert.» Vielleicht wollen sich viele Landwirte nicht ‹von oben› sagen lassen, was sie auf ihrem Land tun dürfen und was nicht? «Das kann mit ein Grund sein», sagt Fierz. «Tatsache ist jedenfalls, dass der Erhalt der Biodiversität in der Landwirtschaft noch immer viel zu wenig ernst genommen wird.»
Auf dem Fussmarsch hinunter in den Weiler sagt Fierz nüchtern: «Mit jedem Verlust an Biodiversität sägen wir an unserem Lebensast.» Und wir sind gewaltig am Sägen.» Die Zerstörung von Kulturlandschaft birgt für die Naturschützerin noch eine andere Gefahr: «Ursprüngliche Landschaften und gepflegte Kulturlandschaften berühren uns und sind identitätsstiftend. Wir Menschen suchen diese Orte auf und fühlen uns wohl und geborgen darin. Wenn man die Landschaften zerstört, zerstört man auch einen Teil der Geschichte der Menschen, die darin leben.»
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