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06.12.2021 von Muriel Raemy

«Das Pferd muss seine Einwilligung geben»

Auf dem Anwesen der École-atelier Shanju in Gimel im Naturpark Jura vaudois leben Pferde, Hunde, Ziegen, Schweine, Esel, Hühner und Menschen zusammen. Die Gründerin der Schule, Judith Zagury, leitet zudem das Shanju-Lab, eine Plattform für wissenschaftliche Forschung und künstlerisches Schaffen im Dialog mit Tieren.

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Judith Zagury ist Regisseurin, Reiterin, Reitkunst- und Pferdespezialistin. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit bei Shanju, wo sie u. a. «Paradoxes and Présences» (2016), «Être bête(s)» (2017) und «HATE» (2018), eine Performance, die weiterhin durch Europa tourt, geschaffen hat. 2019 verlieh die Fondation vaudoise pour la culture den «Prix de l’éveil» an die École-Atelier cole-Atelier Shanju.
Foto: zvg
moneta: Judith Zagury, gemäss Ihrer Website stehen bei Shanju das Vertrauen und der Respekt zwischen Mensch und Tier im Mittelpunkt. 
Judith Zagury: Ja. Durch meine Arbeit mit Kindern und Tieren beschäftigt mich die Frage zutiefst, welche Beziehungen Menschen und Tiere zueinander aufbauen. Damit meine ich freiwillige Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit und Respekt beruhen und in denen man auf die Bedürfnisse des oder der anderen eingeht. Ich möchte ein immer tieferes Verständnis der Verbindung zwischen Tier und Mensch entwickeln und dieses weitergeben.
Was machen Sie konkret?
Shanju ist eine Schule und eine Erlebniswerkstatt mit Kursen und Ferienlagern in den Bereichen Zirkus, Theater, Reiten und Begegnung mit Pferden. Die Kinder und die Tiere sind in direktem Kontakt. Sie suchen sich gegenseitig aus und entwickeln – wenn sie denn zusammenfinden – Spielformen, Kunststücke und Szenen. Alles hängt vom Charakter, von spontanen Ideen und von der Lust und Laune der Tiere ab. Im Shanju-Lab treten wir in Dialog mit der Wissenschaft: mit Vorträgen, Treffen und verschiedenen Kooperationen zu Tierethik und Verhaltensforschung. Das Lab ist auch unser Raum für künstlerisches Schaffen. Hier entstehen szenische Performances, bei denen sich Mensch und Tier die Bühne teilen.
Sie wohnen auch auf dem Anwesen von Shanju. Wie kann man sich das Zusammenleben mit den verschiedenen Tieren konkret vorstellen? 
Die verschiedenen Arten leben nicht getrennt voneinander, ihre Lebensräume sind offen: Die Ziegen klettern auf meine Terrasse, wenn sie Aufmerksamkeit suchen. Der Ziegenbock beobachtet das Treiben der Hühner, die Gänse laufen ihm hinterher, die Hunde spielen gern mit den Schweinen. Wir versuchen, den Tieren ein Leben zu bieten, das ihren natürlichen Bedürfnissen bestmöglich Rechnung trägt – auch wenn sie paradoxerweise in Gefangenschaft leben.
Indem die Tiere in die Kurse mit den Kindern eingebunden sind, «arbeiten» sie. Wie können Sie dennoch ihren freien Willen respektieren? 
Über die vorhin erwähnte freiwillige Beziehung: So muss das Pferd beim Reiten seine Einwilligung geben. Wenn es keine Lust hat, zwingen wir es nie. Bei uns leben viele Pferde unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Grösse und mit sehr unterschiedlichem Charakter. So können wir die Durchführung unserer Kurse und Lager immer garantieren.
Und wie sieht es mit der Beteiligung der Tiere an den Inszenierungen aus? 
Die Tiere erhalten eine Belohnung, wenn sie ein Kunststück vollführen oder mit uns interagieren. Wir arbeiten also mit positiver Verstärkung. Doch eigentlich ist mir mit diesem System nicht ganz wohl, denn es führt wieder eine Form der Unterwerfung ein, die wir ja vermeiden möchten. Wir sehen diese Belohnungen aber als Kommunikationshilfe, die es uns ermöglicht, in unserem Austausch klar zu sein und eine immer ausgefeiltere «Sprache» zu entwickeln. Natürlich geht es nicht um eine Sprache im herkömmlichen Sinn, sondern um einen Code, der in einem Vertrauensverhältnis zwischen dem Menschen und seinem Gegenüber entsteht. Wenn sich ein Tier am Abend der Vorführung weigert, aufzutreten, dann wird sein Wille respektiert. Im Gegensatz dazu ist es schon vorgekommen, dass eines von ihnen fröhlich in eine Vorführung platzte, obwohl es im Programm gar nicht vorgesehen war!
Sie versuchen letztlich, unseren Blick auf die Tiere zu verändern. Ist das Ihre Art von Aktivismus? 
Ich versuche, mir ein anderes Zusammenleben zwischen Mensch und Tier in der Zukunft vorzustellen. Wenn man erlebt, wie liebevoll und anschmiegsam ein Schwein ist, kann man es sich nicht mehr als Wurst auf vier Beinen vorstellen. Ich teile die Werte der antispeziesistischen Bewegung, doch einige Aktivistinnen und Aktivisten werfen mir vor, dass ich Tiere gefangen halte. Ich diskutiere mit den Jägern in der Region darüber, wie wir unsere Tiere am besten vor den Wölfen schützen können. Dabei würde es mir nicht im Traum einfallen, das Töten der Wölfe zu befürworten! Für mich ist das Aktivismus: offen mit allen Parteien zu diskutieren und durch Kunst und Arbeit mit den Kindern unsere Geschichte der Herrschaft über andere Spezies ständig zu hinterfragen.
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