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06.12.2021 von Esther Banz

Henry will leben

Von den knapp 50000 verbliebenen Bauernhöfen in der Schweiz stellten in den letzten Jahren mehr als 70 auf vegane Landwirtschaft um. Sie verzichten auf die Aus­beutung und das Töten der sogenannten Nutztiere. Unterwegs mit der Initiantin der Bewegung, der Ethikerin und Landwirtin Sarah Heiligtag.

Artikel in Thema Tiere ausbeuten?
Illustration: Claudine Etter
An einem milden Herbsttag gehts mit dem Elektroauto von Hinteregg im Kanton Zürich nach Bernhardzell im Kanton St. Gallen. Die Ethikerin und Vegan-Landwirtin Sarah Heiligtag berät Bäuerinnen und Bauern, die ihre Höfe von Milch- oder Fleischproduktion auf eine pflanzliche Landwirtschaft umstellen wollen. An diesem Tag hat sie einen Termin bei Stefan und Tamara Krapf. Er übernahm 2013 den elterlichen Hof, ein damals klassischer Bauernbetrieb mit Milchwirtschaft. 2017 stellte das Paar auf Bio-Weidebeef-Produktion um. Vier Jahre später wagen sie die noch grössere Umstellung hinzu einem «Lebenshof», wie Sarah Heiligtag es nennt. Sie erklärt: «Krapfs werden jetzt Botschafter und Lehrerin.» Und ihre Tiere werden nicht mehr ausgebeutet, sie dürfen einfach leben. Das verdanken sie Henry.

Permakultur-Garten…

Henry ist ein männliches Rind. Krapfs holten ihn 2017 mit der ersten Umstellung auf den Hof. Er wuchs prächtig. Als er nach zwei Jahren auf dem Hof über 600 Kilo wog, wurde es Zeit, ihn zu schlachten. Zweimal versuchten sie, ihn in den Transporter zu bewegen – aber sie schafften es nicht. Sie erkannten in ihm ein Wesen mit Charakter und Eigenschaften, er war ihnen ans Herz gewachsen. Das erzählen sie an einem Herbsttag am langen Tisch in der modernen Küche des Bauernhauses. Sarah Heiligtag und ihr Mitarbeiter Florian Sisolefski haben vis-à-vis Platz genommen. Es ist nicht ihr erstes Treffen. Bei Apfelsaft und Tee besprechen sie den Businessplan, den Stefan und Tamara Krapf erstellt haben – es geht um Angebote und Einnahmen, auch um Direktzahlungen und neue Finanzierungsmodelle. Direktzahlungen werden sie zwar weiterhin erhalten, erklärt Sarah Heiligtag, weil es da nicht darum gehe, ob man die Tiere töte oder nicht – aber die Fleischeinnahmen fallen weg: gut 3300 Franken pro Schlachtkuh. Krapfs brauchen also andere Einnahmequellen. Der Permakultur-Garten wird eine davon sein, so Tamara Krapf. «Seit diesem Jahr gibt es Direktzahlungen für Permakultur. Das ermöglicht kleineren Betrieben wie unserem, ein vollwertiger Landwirtschaftsbetrieb zu werden», erklärt die gelernte Floristin. Ihr Garten ist im Aufbau. Wie hoch sein Anteil an den Gesamteinnahmen dereinst sein wird, wissen sie noch nicht. Auch die Frage, ob sie andere Kühe aufnehmen werden, wenn ihre jetzigen gestorben sind, oder ob sie inskünftig vor allem vom Anbau eiweissreicher Pflanzen für Menschen leben werden (wie es andere machen), können sie noch nicht beantworten. Aktuell setzen sie nebst dem Permakultur-Garten und Kursen auf Patenschaften. 

…und Patenschaften als neue Einnahmequellen

Tier-Patenschaften sind bei der Umstellung eines Betriebs von der Fleisch- oder Milchwirtschaft auf vegane Landwirtschaft, wo die bisher ausgebeuteten Tiere friedlich weiterleben dürfen, eine erprobte Möglichkeit, um die Kosten für Futter, medizinische Versorgungen und anderes zu decken. 250 Franken im Monat kostet bei Krapfs eine Vollpatenschaft für eine Kuh, Teilpatenschaften sind auch möglich. 

Patenschaften sind aber arbeitsintensiv. «Mit den Rindern habe ich wenig Arbeit», sagt Stefan Krapf: «Raus auf die Weide, rein in den Stall.» Ihre Ansprüche seien gering. Mit Menschen ist das anders – erst recht, wenn sie Geld bezahlen. Viel Zeit braucht dabei die Kommunikation: aus dem Leben der Tiere erzählen, die Patinnen und Paten mit Geschichten und Bildern am Hofleben teilhaben lassen, Kurse und andere Veranstaltungen anbieten. Eine Website betreiben Krapfs bereits, in den sozialen Medien können sie noch aktiver werden. «Wer füttert Instagram?», will Sarah Heiligtag von den beiden wissen. Sie selbst publiziert auf ihrer Hof-Narr-Plattform fast täglich Bilder und Filme, die von tausenden angeschaut werden. Es sind kleine Liebesbotschaften vom Leben mit den einstigen Nutztieren, die Sarah Heiligtag auf ihrem Hof aufgenommen hat, oft ergänzt mit Wissen oder Appellen – etwa dem: Man möge doch aufhören, zu Hause oder in der Schule Eier auszubrüten, «ohne dabei zu überlegen, wohin nach der Kükenzeit alle Hähne sollen».

Ethikerin, Bäuerin, Beraterin und Aktivistin

Sarah Heiligtags Botschaften sind aufklärend und lösen zusammen mit den Bildern Mitgefühl für die Tiere aus – auch bei Menschen, die zuvor vielleicht bedenkenlos Fleisch, Milch, Käse und Eier konsumierten. Sie selbst ist in einem vegetarischen Haushalt aufgewachsen: «Es war klar, dass Tiere nicht zum Essen da sind. Was wir damals aber nicht realisierten: Dass in der Milch eigentlich auch ein totes Kalb liegt. Und im Ei tote männliche Küken.» Das habe sie erst während ihres Ethikstudiums begriffen. Jahre später, und inzwischen junge Mutter, absolvierte Sarah Heiligtag zusätzlich eine landwirtschaftliche Ausbildung, denn zusammen mit ihrem Partner, einem Umweltwissenschaftler, hatte sie bereits die Vision vom Hof Narr entwickelt: einem veganen, landwirtschaftlichen Betrieb und einem Lebenshof für Mensch und Tier. Mit der maximalen Freiheit im Namen. Dass sie dereinst zudem jüngere, aber auch gestandene Landwirte und Landwirtinnen darin unterstützen würde, ihre Betriebe umzustellen – das konnte sie damals noch nicht wissen. Den Hof Narr betreiben sie mittlerweile seit acht Jahren, mit Angestellten und Freiwilligen. Die erste Hofumstellung begleitete sie vier Jahre später, bald folgten weitere. Der Hof von Krapfs – sie haben auch Kängurus und Strausse – ist Nummer 71.

Von Sarah Heiligtags Engagement zu hören, war in den letzten Jahren nicht schwierig: Als kompetent und sachlich argumentierende Initiantin der Hofumstellungsbewegung ist sie in den Medien eine viel beachtete Fachperson. Die Zuger Stiftung NEB Tierschutz finanziert Sarah Heiligtags Beratungstätigkeit, denn: Höfe dabei zu unterstützen, einen gut durchdachten Lebenshof aufzubauen, sei die wichtigste Arbeit, die man für den Tierschutz leisten könne. Manchmal wird ihr Hof Narr auch als Gnadenhof bezeichnet – die Aktivistin korrigiert: «Das sind zwei verschiedene Konzepte. Beim Lebenshof geht es um das Leben von uns allen, Mensch und Tier, heute und morgen. Zukünftige Generationen werden genauso in die Überlegungen mit einbezogen wie geflüchtete Menschen. Es geht um einen Lebensstil, der möglichst gewaltfrei ist gegenüber allem Leben, und es geht um eine Produktion, die den Planeten, die Lebewesen und die Ressourcen schont. Mit Gnade hat das nichts zu tun, viel mehr mit Gerechtigkeit.»

Die Förderung durch NEB Tierschutz erlaubt Sarah Heiligtag auch, Bauern und Bäuerinnen bei der Hofumstellung unentgeltlich zu beraten. Auch unterstützt die Stiftung Betriebe in der Übergangszeit bei Bedarf zusätzlich.

Abschied von einem falschen System

Für Stefan Krapf ist die Umstellung eine Befreiung. Mit acht Jahren wurde er zum ersten Mal zum Schlachten mitgenommen. Dort sah er, wie das Kälbchen Wendi, das er seit Geburt kannte, mit einem Bolzenschuss getötet wurde: «Es sackte zusammen und zappelte. Ich rannte weg, versteckte mich hinter einem Baum und weinte. Danach habe ich die Gefühle weggeschlossen. Es war ein wenig, als ob auch in mir drin etwas gestorben wäre.» Später habe auch er die Kühe gemolken, manchmal geschlagen. Und in die Metzg gebracht. «Gefühle habe ich keine zugelassen, das hätte ja nichts gebracht.» Er vermutet, dass es vielen Bauern so gehe.

Auch Sarah Heiligtag ist überzeugt, dass die ausbeuterische Nutztierhaltung den Menschen nicht guttut. Jede Hofumstellung bedeutet für sie deshalb auch eine Befreiung aus einem falschen System. Alle Tiere – und Menschen – werde sie nicht retten können, lacht die bodenständige Aktivistin, Mutter, Bäuerin und einstige Wissenschaftlerin, aber: «Solange wir ein Landwirtschaftssystem haben, das Tiere als Ware und nicht als Lebewesen behandelt, ist mein Anspruch, dass es wenigstens in jeder Gemeinde einen zukunftsfähigen Hof gibt.» Bis dahin fährt sie mit ihrem Elektroauto noch über viele Hügel – und zeigt auf Felder, auf denen anstatt Tierfutter dereinst Hafer, Hülsenfrüchte oder Permakulturen wachsen könnten.
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