Populistische und autoritäre Parteien sind in zahlreichen Ländern auf dem Vormarsch. Das macht vielen Menschen Angst, auch in der Schweiz. Viele fragen sich, was sie dagegen tun können. 9 Tipps für alle, die die Demokratie lieben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen.
Kürzlich fand im Bernischen Historischen Museum eine sogenannte «Living Library» statt. Bei diesem Format erzählen Menschen von persönlichen Erfahrungen und Geschichten, und andere hören ihnen zu. Der Anlass fand im Rahmen der laufenden Ausstellung zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen statt: Noch bis in die jüngste Vergangenheit wurden hierzulande Zehntausende Kinder in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht. Viele von ihnen mussten hart arbeiten, wurden geschlagen oder psychisch gequält, manche immer wieder umplatziert. Sie waren Gefangene und Versklavte im eigenen Land, in der Schweiz der humanitären Tradition. Behörden, Pro Juventute und kirchennahe Institutionen entrissen die Mädchen und Buben ihren Familien. Gerade erst hat der Bundesrat anerkannt, dass die Gewalt, die Jenischen und Sinti hier im Land angetan wurden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren. Betroffen von Zwangsmassnahmen waren auch Kinder von Frauen, deren Lebenswandel nicht den damaligen Vorstellungen entsprach, auch von Alleinerziehenden und Familien, die arm waren.
Luises Geschichte
An jenem Frühlingsabend in Bern waren acht von Zwangsmassnahmen betroffene Menschen nach Bern ins Museum gekommen, um von ihrem Schicksal zu erzählen. Sie sind alle schon älter, mehrere bereits im Pensionsalter. Wir waren um die 80 Besucherinnen und Besucher, die nach einer kurzen Einführung zu Zuhörenden wurden. Es gab drei Durchgänge à je 20 Minuten. Alle mussten also für sich entscheiden, wem sie zuhören wollten. Die Veranstalterinnen hatten im Foyer und in der Ausstellung verschiedene Bereiche eingerichtet, in denen sich je ein Grüppchen um eine erzählende Person herumsetzen konnte. Ich hätte mich gerne bei allen dazu gesetzt, wanderte etwas unschlüssig durch die Räume und liess mich schliesslich auf einen letzten freien Stuhl nieder. Die Gruppe von Zuhörenden, der ich nun angehörte, bildete zusammen mit einer zierlichen, rothaarigen Frau – ich nenne sie hier Luise – einen Kreis.
Luise erzählte in den folgenden 20 Minuten, wie sie als vierjähriges Mädchen in ein katholisch geführtes Kinderheim platziert wurde. Auch dass sie Bettnässerin war, und deshalb nach 16 Uhr nichts mehr zu trinken bekam. Sie erzählte weiter, wie eine Klosterfrau sie Abend für Abend ins Badezimmer brachte, wo die Wanne mit kaltem Wasser gefüllt war. Die Schwester packte sie an den Haaren und drückte ihren Kopf unter Wasser, bis sie fast nicht mehr atmen konnte. Dann zog sie Luises Kopf hoch, um ihn erneut unter Wasser zu pressen, noch einmal und noch einmal. Und manchmal, erzählte Luise uns, wurde sie anschliessend noch geschlagen. Jeden Tag habe sie an fast nichts anderes denken können als: «Hoffentlich ist sie heute Abend krank und wird nicht kommen.»
In unserer Gruppe der Zuhörenden war kein Räuspern zu hören, alle sassen ganz still da und folgten Luises Worten, wurden Zeuginnen und Zeugen ihrer Geschichte. Jemand fuhr sich diskret mit dem Handrücken über die Augen, jemand schnäuzte ganz leise. Luise erzählte weiter. Bald waren die 20 Minuten um, und sie lud uns ein, Fragen zu stellen. Zuerst wirkte die Gruppe noch ganz benommen, dann traute sich jemand. An die Frage kann ich mich nicht mehr erinnern und auch nicht an die Antwort von Luise. Aber an ihre Geschichte und ihren Schmerz, auch an ihre Kraft, wie sie dasass, sich selbst und ihrer traumatischen Geschichte bewusst. Diese hatte sie jahrzehntelang im Stillen gequält, weil die Umstände und die Gesellschaft noch nicht so weit waren, als dass sie sie hätte teilen können. Jetzt, wo sie es kann, ist sie erleichtert und macht ihre Zuhörerinnen und Zuhörer bewusster, wissender, verständnis- und gefühlvoller. Schliesslich erinnere ich mich auch, wie uns Luise nicht nur mit sich und ihrer persönlichen Geschichte verband, sondern auch mit der jüngeren «Sozial»-Geschichte unseres Landes und mit anderen Menschen, die von Zwangsmassnahmen betroffen waren.
Theoretisches Wissen genügt nicht
So vieles passierte an jenem Abend im Historischen Museum Bern, an dem acht Menschen erzählten und rund 80 zuhörten, beeindruckend still und konzentriert. Aber Moment – was genau war das? Und was hat das mit Demokratie zu tun?
Kurz gesagt: Was wir gehört haben, hat uns tief innen getroffen und zum Nachdenken angeregt, mich jedenfalls nachhaltig. Wenn es den anderen, die an jenem Abend zuhörten, ähnlich geht wie mir, sind wir jetzt bereits 80 Menschen in diesem Land, die fortan hellhöriger sein werden, wenn es um Frauen und Kinder und ihre Rechte geht. Und wenn in Zukunft in einem Parlament und den Medien über als notwendig deklarierte Massnahmen debattiert wird, auch über Sparmassnahmen, die oft ärmere Menschen, Frauen und Kinder betreffen, Menschen, die von Sozialleistungen betroffen sind. Denn wir Menschen begreifen die Welt nicht ausschliesslich durch das Aneignen von theoretischem Wissen – wir erschliessen sie uns ganz wesentlich auch durch Geschichten und Narrationen, und das bedeutet: Durch das Erzählen und das Zuhören. Dem Wort «Narrativ» begegnet man heutzutage ja oft. Vielleicht ist dieser Begriff deshalb so beliebt geworden, weil es durch die Vielzahl der Kommunikationskanäle, durch die Kakophonie der unzähligen Stimmen, die alle gehört werden wollen, durch den Wirrwarr aus Berichten, Meinungen und (absichtlich falschen) Behauptungen so schwierig geworden ist, zu verstehen. Oder um ein weiteres Modewort zu benutzen: einzuordnen.
Geschichten helfen, einander zu verstehen
Wer will da nicht wenigstens zeitenweise die Ohren zuhalten, weghören statt zuhören? Aber das Zuhören ist eben nicht «nur» fürs individuelle menschliche Verstehen zentral, sondern in einer vielfältigen Gesellschaft mindestens genauso für den Zusammenhalt und den sozialen Frieden. Das wussten und vermittelten schon die alten Griechen. Platon etwa sagte, dass Erzählungen (und Mythen) die Vorstellungskraft prägen und so auch das ethische Verhalten beeinflussen können. Auch Aristoteles vermittelte nicht nur, dass Geschichten (Tragödien) Menschen verstehen respektive erkennen helfen, er sah das Zuhören auch in einem politischen Kontext als Bedingung im Ringen um das Gute.
Und genau deshalb ist es auch so wichtig, dass wir gut hinhören (und hinsehen): Weil auch falsche Behauptungen in Geschichten verpackt und falsche Erzählungen für antidemokratische Zwecke missbraucht werden. Während Corona schickte mir eine Verwandte eine Mail mit Anhang und schrieb: «Hier, lies! Und dann recherchiere mal, aber richtig!» Ich hörte ihr zu, indem ich ihr Mail nicht nur las, sondern tatsächlich recherchierte – und zwar die Quelle des Dokuments, das sie mir geschickt hatte. Damals kostete die Pandemie gerade Millionen Menschenleben, und in dem Dokument wurde behauptet, das Tragen von Masken sei gesundheitsschädigend. Es kostete mich nur wenige Minuten, um herauszufinden, dass das Dokument russischer Herkunft war. Ich schrieb ihr daraufhin sinngemäss: Du vertraust einer anonymen russischen Quelle mehr als mir, die du schon dein ganzes Leben kennst? Sie antwortete, sie sei verwirrt, es sei alles so kompliziert geworden.
Verletzungen als Ursache menschenfeindlichen Verhaltens?
Meine Verwandte und ich sind noch immer im Austausch, unserer Beziehung hat diese Episode nicht geschadet. Es gibt für mich auch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie ein Mensch ist, der die Würde eines jeden Menschen respektiert. Ich habe aber auch schon Dialoge abgebrochen, immer öfters in den letzten Jahren. Denn es passiert zunehmend, dass jemand reflexartig anderswo hinzeigt, wenn ich frage, ob grundlegende Menschenrechte eingehalten werden. Oder dass jemand allen Ernstes meint, man dürfe ja nichts mehr sagen, um sogleich eine ganze Gruppe von Menschen verbal abzuwerten, zu entwürdigen oder sogar zu entmenschlichen. Vielleicht ist so jemand aber doch fähig, sich zu einem reflektierten Bürger zu entwickeln? Ich bin allen dankbar, die sich die Zeit nehmen (wollen und können), ihn oder sie auf diesem Weg zu begleiten. Denn die Wissenschaft legt – wenig überraschend – nahe, dass Verhärtungen und menschenfeindliches Denken und Handeln, rechtsextreme Radikalisierung also auch, mit eigenen psychischen Verletzungen, mit traumatischen Erfahrungen zu tun haben können. Das wussten die Punks ja schon lange, die Band «Die Ärzte» sang 1993 an die Adresse von Neonazis: «Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe».
Nicht erzählte Geschichten trennen uns
In jüngerer Zeit sind mehrere Bücher zur politischen Bedeutung des Erzählens und Zuhörens erschienen, beispielsweise der Essay «Hört einander zu!» der bekannten britisch-türkischen Schriftstellerin Elif Shafak oder «Zuhören» des deutschen Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Letzterer sieht im Zuhören eine Metapher für Offenheit. Er nimmt einen mit auf eine Exkursion mit Fragen im Gepäck wie: Wie hören wir zu? Was ist Zuhören überhaupt? Und: Warum wird nach langem Weghören plötzlich hingehört? Und dann erschien letztes Jahr auch «Die einfachste Psychotherapie der Welt» der Psychotraumatologin Maggie Schauer. Darin geht es um – auch vererbte – Traumata und darum, wie autobiografisches Erzählen – ermöglicht durch richtiges Zuhören – hilft, sie aufzulösen. Angesichts der hohen Zahl traumatisierter Menschen und immer mehr Flüchtender, sagt Schauer: «Das geht uns alle an!»
Zuhören ist also auch deshalb relevant für die Demokratie, weil das Gehört- und Gesehenwerden wohl am Anfang steht, wenn es darum geht, Traumatisches zu verarbeiten und Verhärtungen aufzulösen. Wenn jemand erzählen kann, wenn für sie oder ihn ein Gegenüber da ist, das Raum gibt und sich Zeit nimmt, mit ernsthafter und empathischer Aufmerksamkeit, kann ein transformatorischer Prozess beginnen, das ist gut erforscht. Sowohl Elif Shafik als auch Maggie Schauer zitieren in ihren Büchern die Lyrikerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou mit den Worten: «Es gibt keine grössere Qual als eine nicht erzählte Geschichte in sich zu tragen.» Und Elif Shafak hebt die Bedeutung des Erzählens sogleich auf eine weitere Ebene, wenn sie schreibt: «Geschichten führen uns zusammen. Nicht erzählte Geschichten trennen uns.» Das Zitat macht deutlich: Es geht hier auch ums Kollektive, um Gruppen, Gesellschaften, Völker und um nichts Geringeres als die Verständigung zwischen ihnen.
Momo – oder die Kunst des bedingungslosen Zuhörens
Vielleicht hat bisher niemand schöner beschrieben, wie transformativ gutes Zuhören sein kann, als Michael Ende in seinem Kindermärchen «Momo»: «Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie sass einfach nur da und hörte zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren grossen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.» Und auch: «Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.» In einer Welt, in der anonyme graue Männer drauf und dran waren, die Menschen zu Zeitsklaven zu machen, in der menschliche Beziehungen und Verbindungen geopfert werden sollten, lebte Momo mit ihrem bedingungslosen, nicht zielgerichteten Zuhören die Aufmerksamkeit und die Zugewandtheit – und damit den Widerstand, der im Menschlichen, im Menschsein liegt.
Gehört zu werden, macht glücklich
Von sich selbst überrascht werden, im Erzählen, mit elektrisierenden Gedanken, die plötzlich da sind, angeregt durch das Zuhören einer geschätzten Freundin oder auch einer fremden Person – mir fallen wenige Erfahrungen ein, die ich selber als geistig prickelnder erlebt habe als diese. Ist es, dass ich mich wahrgenommen fühle? Oder dass ich mein Sein und mein Denken in dem Moment als bedeutsam empfinde? Es ist wohl beides. Und was auch ist: Dass jemand anderes interessant findet, was ich sage, sogar davon berührt wird – all das scheint positive Botenstoffe freizusetzen. Bei der Erzählenden. Und auch bei den Zuhörenden. Es ist schlicht ein Glück, gehört zu werden, und es ist ein Glück, wenn einem jemand seine Geschichte und seine Gedanken anvertraut, teilhaben lässt und im Innersten berührt. Für die Verteidigung der sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften und im Kampf für Solidarität und für eine noch bessere Welt braucht es genau diese Kraft, die aus dem Gehörtwerden und aus menschlichen Verbindungen entsteht. Auch deshalb ist das Zuhören also demokratierelevant: Weil wir nur gemeinsam und widerständig auf eine bessere Welt hinarbeiten können.
Vielleicht erklärt aber das Gegenteil, das Weghören, das Verschliessen, am besten, von welcher Bedeutung das Zuhören für die Demokratie ist: Wenn wir nicht mehr zuhören, kapseln wir uns ab, negieren wir die Tatsache, dass wir Teil eines Netzes sind, auf das wir angewiesen sind – als Menschen untereinander und als Teil der Welt. Wer sich abwendet, ist – radikal vollzogen – verloren. Demokratie ist das Gegenteil von Vereinzelung und Verkümmerung. Demokratie gibt es nur im Miteinander und also im Zuhören, im einander zugewandt Sein.
Also, danke fürs Zuhören!
Ah, das noch: An jenem Abend in Bern hörte ich auch Martin zu. Er wuchs zur selben Zeit nur wenige Strassen von mir entfernt auf, in Grenchen, Kanton Solothurn. Aber seine Geschichte ging ganz anders weiter. Er und sein Bruder wurden den Eltern weggenommen und zu einer Bauerfamilie im Emmental gebracht, wo sie hart arbeiten mussten. Sie wurden Verdingkinder noch in den 1990er-Jahren – wer hat schon einmal davon gehört? Wer hat überhaupt schon einmal Menschen zugehört, die von den erlittenen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erzählten? In der Mediathek des Projekts Erzählbistro ist das möglich.