Moment: Eine Ärztin oder ein Arzt wird doch immer aufseiten der Patientinnen und Patienten sein, im konkreten medizinischen Fall? Sie haben ja noch alle Freiheit, die medizinisch beste Behandlung zu wählen.
Da irren Sie! Wenn man dem medizinischen Fachpersonal die Pflicht aufbürdet, auch unternehmerisch zu denken, dann wird das nicht ohne Wirkung bleiben. Ob sie wollen oder nicht, sie werden gewissermassen umprogrammiert, nach und nach. Wenn die Geschäftsführung sie regelmässig zitiert und ihnen vorhält, dass sie nicht genügend Umsatz gemacht haben, dann hat das einen Effekt. Das korrumpiert die Ärzteschaft, sie kommen zwangsläufig in einen Rollen- und Wertekonflikt. Und es sorgt dafür, dass sie nachweislich immer unzufriedener mit ihrer Arbeit sind – sie fühlen sich schlicht nicht mehr wohl. Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten muss sein, erkrankte Menschen möglichst gut zu behandeln, nicht Erlöse zu maximieren. Aber das System lässt ihnen keine Wahl, und damit führt ein solches System dazu, dass sie eine Sinnentleerung ihres ärztlichen Tuns empfinden.
Was macht das mit dem Arzt-Patient-Verhältnis?
Das färbt auch darauf ab. Die Patientinnen und Patienten fragen sich: Wird mir hier etwas empfohlen, weil es mir etwas Gutes tut oder weil es der Spitalbilanz etwas Gutes tut? Zudem hat das Fallpauschalensystem eine Reihe von Fehlanreizen geschafft: Es wirkt darauf hin, so wenig wie möglich mit den erkrankten Personen zu sprechen und so viel wie möglich – und so teuer wie möglich – zu behandeln. Paradoxerweise haben wir es also zeitgleich sowohl mit einer Unter- als auch einer Überversorgung zu tun, einer psychosozialen Unterversorgung in Verbindung mit einer interventionellen Überversorgung, oder anders gesagt: Man spricht immer weniger und macht dafür immer mehr Eingriffe. Das führt eben zu diesem Gefühl der Fliessbandabfertigung und zu einer Frustrierung der Pflegenden und der Ärzteschaft, weil sie für eine solche Art von Medizin und Pflege schlichtweg nicht angetreten sind.
Sie kennen auch die Situation in der Schweiz ganz gut. Sind wir da bereits an einem ähnlichen Punkt?
Mich hat es sehr bekümmert, zu erleben, wie die Schweiz in den letzten Jahren in etwas abgeschwächter Form ganz ähnliche Fehler gemacht hat; man hat auf die falschen Beratenden gehört. Die Situation in Ländern wie Deutschland war eigentlich schon so deutlich, dass man das Problem hätte sehen können – es gab auch bereits genug kritische Fachleute, die vor den Folgen warnten. Dass man dann trotzdem auch auf die Fallpauschalen gesetzt hat, ist sehr schade, denn man hätte es in der Schweiz einfach besser machen können.
Ein Kapitel in Ihrem Buch heisst: «Zur Notwendigkeit ökonomischen Denkens in der Medizin». Also ist die Ökonomisierung doch nicht ganz falsch?
Ich bin ja Ethiker, nicht Ökonom. Aber daraus folgt nun eben nicht, dass für mich gute Medizin nur dann gegeben ist, wenn wir keinen Gedanken an Geld verschwenden. Es geht um einen vernünftigen – und das heisst auch ökonomischen – Einsatz der vorhandenen Mittel. Ich bin also durchaus für wirtschaftliches Denken, aber nicht mit dem blinden Ziel einer Gewinnmaximierung. Der ökonomische Sachverstand muss im medizinischen Kontext immer eine dienende Funktion haben. Aber aktuell dient die Ökonomie nicht der Medizin, sondern die Medizin dient der Ökonomie, indem nur noch das gemacht wird, was Gewinn verspricht. Damit wendet sich die Medizin aber von ihrem genuin sozialen Auftrag ab, und das ist besorgniserregend.
Wo sehen Sie denn einen «unvernünftigen» Einsatz der Mittel?
Da gibt es viele Beispiele. So wie wir das im Moment rechnen, «lohnt sich» Grundversorgung nicht. Auch für Kindermedizin und für Geriatrie fehlen zusehends die Ressourcen. Wenn man die Gesundheitsversorgung einfach allein dem Gewinnmaximierungsdenken überlässt, dann ergibt sich daraus nicht automatisch eine gute Versorgung der Bevölkerung, sondern es wird einfach nur noch das angeboten, was sich rechnet. So sind dann die kleineren Häuser in ländlichen Regionen extrem benachteiligt, und das führt automatisch zu einem Abbau der Grundversorgung und einem Überbau von Kliniken, die teure Eingriffe verkaufen. Was sich nun eben auch in der Schweiz abzeichnet: Viele versorgungsrelevante Spitäler, auch die hoch anerkannten Kantonsspitäler, geraten in finanzielle Nöte, und man darf den Fehler nicht machen, diese Grundversorgung zu zerschlagen. Man darf nicht denken, dass nur die Häuser, die gute ökonomische Daten haben, deswegen auch notwendig sind. Denn die Bilanzen sagen nichts darüber aus, wie versorgungsrelevant ein Haus ist.
Aber immer mehr Spitäler schreiben nun einmal rote Zahlen.
Es ist eben ein Fehlschluss, zu denken, dass ein Spital nur dann erhalten bleiben darf, wenn es schwarze Zahlen schreibt. Wir müssen uns das immer wieder vor Augen halten: Man kann mit der Gesundheit viel Geld verdienen, aber sie ist kein Markt. Die Spitäler sind Orte der Daseinsvorsorge, und als solche dienen sie dem Gemeinwohl. Es gehört zu einem würdevollen Leben, dass man eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung hat. Man muss die Krankenhauslandschaft so ausgestalten, dass eine Bedarfsgerechtigkeit hergestellt wird, und man darf nicht denken, dass die Bilanzen per se schon eine gerechte Versorgung bewirken.
Was bedeutet das politisch, müssen die Fallpauschalen wieder weg?
Das System der Fallpauschalen muss auf jeden Fall infrage gestellt werden, ja. Wir brauchen weniger Markt, mehr Professionalität, mehr Bedarfsorientierung. Vielleicht könnte man ein Bezahlsystem etablieren, in dem Ärztinnen und Ärzte belohnt werden, wenn kranke Menschen gut behandelt werden? Und das heisst auch: sich gut behandelt fühlen.
Gibt es denn auf politischer Ebene Einsicht in die Fehlentwicklungen?
Ja und nein. Selbst der deutsche Gesundheitsminister gibt inzwischen zu, dass die Ökonomisierung zu stark war. Aber er hat sie nicht abgemildert, er hat sie nur in die nächste Ära hinübergerettet. Die aktuelle deutsche Krankenhausreform ist ein ziemlich missglücktes Stückwerk, sie wird das grundlegende Problem nicht beseitigen können. Vielleicht müssen wir gerade lernen, dass man mitunter mutig sein muss: Der grundlegende Fehler muss korrigiert werden, wir müssen endlich einsehen, dass wir mit den Fallpauschalen eine Finanzierungsform haben, die der Medizin nicht gerecht wird.
Sie sprechen auch oft von der «Angewiesenheit» des kranken Menschen. Was meinen Sie damit?
Ganz einfach: Patientinnen und Patienten sind keine Kunden. Sie befinden sich in einer Situation der Bedürftigkeit. Es gibt da ein Machtgefälle, deshalb müssen sie unbedingt geschützt werden vor Ausbeutung. Sie sind eben angewiesen darauf, dass sich jemand ehrlich für sie und ihre Leiden interessiert, dass jemand zuhört. Es braucht da ein echtes menschliches Engagement.
Aber wer ins Spital oder in eine Arztpraxis geht, erwartet ja auch, dass ihr oder ihm geholfen wird, mit aller möglichen Medizintechnik.
Ja, das auch. Das pflegende Personal muss auch eine technische Lösung anbieten können. Aber nur über das Gespräch, über das Zwischenmenschliche, wird die Ärztin oder der Arzt wissen, ob die Technik tatsächlich die Lösung des Problems darstellt oder ob sie möglicherweise das Problem nur verschiebt. Alle Ärztinnen und Ärzte müssen sich eben für die Frage, wer die zu behandelnde Person ist, genauso interessieren wie für die Frage, was sie hat. In der Medizin gehören das Was und das Wer einfach zusammen. Momentan interessiert im Behandlungskontext fast ausschliesslich das Was, nicht das Wer, und das ist eine fatale Fehlentwicklung der modernen Medizin, die eben immer mehr zu einer Durchschleusungsdisziplin wird.
Und wie kommt der Mensch wieder mehr in den Mittelpunkt?
Das ist nur über Gespräche möglich, deshalb spreche ich auch von einer «Beziehungsmedizin». Ärztinnen und Ärzte sind eben keine Ingenieure für den menschlichen Körper. Wenn es gelingt, aus dem Arzt-Patient-Kontakt eine Arzt-Patient-Begegnung zu machen, im Sinne einer echten Wir-Begegnung, dann wird dadurch automatisch Raum geschaffen für eine wirklich patientenorientierte Medizin, von der sich die Patientinnen und Patienten auch ernst genommen fühlen.
Das klingt notwendig und schön, aber noch ein ökonomischer Einwurf: Der Erfolg einer solchen Beziehungsebene dürfte notorisch schwer zu messen sein, oder? Und deshalb hat sie es eben auch schwer, wenn es darum geht, ihre Wichtigkeit zu begründen.
Natürlich, das können Sie schlecht messen. Aber bloss deswegen wird das Gespräch ja nicht wertloser, deswegen verliert es nicht seine Sinnhaftigkeit. Es sollte bei der Gesundheit ja ohnehin viel mehr um ein Ermessen als um ein Messen gehen, genau da liegt die Kunst der Ärztinnen und Ärzte: eine gute Indikation zu erstellen. Nicht bloss die Krankheit zu erkennen, sondern auch das Kranksein zu verstehen, und nicht nur den Befund zu sehen, sondern sich auch für das Befinden zu interessieren.