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22.09.2021 von Esther Banz

Gig-Economy: Zwei Start-ups gehen andere Wege

Jobs bei Essenslieferdiensten oder Fahrzeugverleihen sind anfällig für prekäre Arbeitsbedingungen, wie sie in der Gig-Economy häufig vorkommen. Zwei Unternehmen, die vom Verein Innovationsfonds der ABS unterstützt werden, erbringen Dienstleistungen in ­diesen Bereichen: Crowd Container und Urban Connect. Warum funktionieren sie dennoch ganz anders?


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Gig-Economy
Judith Häberli studierte noch Volkswirtschaft, als sie sich beim Anblick der täglichen Staus auf Zürcher Strassen fragte, was diese Art von Mobilität bedeute angesichts des Wachstums der Städte und der schädlichen Folgen des CO2-Ausstosses. Sie beschloss, ihr Wissen, ihre Energie und ihren Ehrgeiz genau hier einzusetzen, denn: «Diese Form der Mobilität, bei der praktisch jedes Auto nur eine Person befördert und wo viele entnervt am Arbeitsplatz erscheinen, schien mir höchst ineffizient – verkehrsplanerisch wie auch für die Unternehmen, in denen diese gestressten Pendlerinnen und Pendler arbeiten. Ich wollte dem etwas entgegensetzen.» Schliesslich sei Verkehr zu mehr als der Hälfte berufsbedingt. Der grösste Hebel, so rechnete Häberli mit ihrem Partner und Mitgründer aus, wären dabei grössere Unternehmen mit hauseigenen Verkehrsflotten. Und so gründeten sie 2013 Urban Connect: «Wir bieten Firmen mit einer spe­ziell für ihre Bedürfnisse entwickelten App eine ökologische, unternehmensinterne Mobilitätslösung.»
Das Start-up Urban Connect bietet Unternehmen ganze E-Mobilitätsflotten für ihre Mitarbeitenden und trägt so zur Reduktion des Autoverkehrs in den Städten bei. 
Foto: zvg

Qualität und Vertrauen statt Mikrojobs

Angefangen hat Urban Connect ausschliesslich mit Velos und E-Bikes, inzwischen umfasst das Angebot auch andere Fahrzeuge, die sich via App buchen, öffnen und wieder abschliessen lassen. Auch Wartungsbedarf kann via App gemeldet werden. Fast 20 Mitarbeitende und rund 30 Firmenkunden hat Urban Connect heute, darunter viele grosse Unternehmen wie Hilti, Roche und die Zurich Versicherung. 
Besonders das Einsammeln der E-Bikes und Scooter liesse sich in Form von Mikrojobs auslagern, um Kosten zu sparen. Das macht Urban Connect aber nicht: «Wir installieren auf dem Gelände der Kunden Ladestationen. Die Reichweite der E-Bikes ist gut 80 Kilometer, sodass unterwegs nicht geladen werden muss. Und die Scooter werden ohnehin vor allem auf grossen Firmengeländen gebraucht.»
Für Wartungsarbeiten hat Urban Connect einen Mechaniker angestellt und arbeitet mit weiteren in festen Verträgen zusammen. Nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch, weil diese Arbeit ein grosses Vertrauen der Kundschaft voraussetzt, wie Judith Häberli erklärt: «Unsere Mechaniker kennen die Fahrzeuge. Das ist für die Sicherheit wichtig. Zudem haben sie Zugang zu den Firmengeländen, zum Teil auch zu den Gebäuden.» Ein dritter Bereich, den andere Firmen häufig auslagern, ist die Hotline. Urban Connect hat dafür Mitarbeitende – während Leerzeiten erledigen sie andere Aufgaben: «Sie sind beispielsweise für die kundenspezifischen Designs der Ladestationen zuständig», so Häberli, «und daher voll angestellt und auch voll ausgelastet.» Gig-Arbeit findet sie aber nicht grundsätzlich problematisch, «die Flexibilität kann beispielsweise im Studium genial sein. Aber sie muss sozialverträglich sein.»

Post und Züriwerk statt Gig-Arbeitende

Diese Worte könnten auch von Tobias Joos stammen. Die beiden kennen sich nicht, aber gemeinsam ist ihnen der Ehrgeiz und die Hartnäckigkeit, mit denen sie ihre Ideen verfolgen. Joos kniete einst jätend am Rande eines Beets der Gemüsekooperative Ortoloco, als er einem Kollegen von seiner Vision erzählte. Nämlich «den Pfeffer, der wirklich nach Pfeffer schmeckt» und weitere Produkte, die er in einem Agroforst-Anbau in Indien kennengelernt hatte, in die Schweiz zu bringen, direkt von den Produzenten zu den Konsumentinnen. Nur ein Jahr später feierte eine Gruppe von Leuten, die bei ihm eine Bestellung aufgegeben hatten, die Ankunft des ersten Containers in Zürich.
Fünf weitere Jahre später zählt Crowd Container fast fünf Vollzeitstellen und knapp 10'000 zahlende Kundinnen und Kunden. Bei diesen Dimensionen gibt es keine Ankunftsfeste mehr. Stattdessen schickt das Start-up die Waren, mit Ausnahme der Frischprodukte, via Post in Mehrweg-Dispoboxen zu den Leuten. Die Frischpro­dukte holen die Kundinnen und Kunden selbst in einer Filiale des Partnerbetriebs Revendo ab. Vom Con­tainer in die Postboxen respektive an den Abholort ge­langen die Produkte via Züriwerk, eine Stiftung für ­Menschen mit einer Beeinträchtigung. Dort konfektio­nieren Mit­arbeitende die Waren direkt nach Erhalt, ein Lager braucht es nicht.
Crowd Container setzt beim Verpacken seiner Waren auf eine Zusammenarbeit mit dem Züriwerk, einer Stiftung für Menschen mit Beeinträchtigung. Von links: Nicolas Fojtu und Tiziana Lattanzi (Züriwerk); Tobias Joos und Sunita Wälti (Crowd Container).
Foto: zvg

Die schlechtesten Arbeitsbedingungen sind in der Landwirtschaft

Das Verpacken von Waren für den Versand ist eine ­inhaltlich monotone Arbeit, die bei vielen Produkte­kategorien bereits automatisiert oder von Gig-Arbeitenden geleistet werden kann, wie das zum Beispiel beim Giganten Amazon üblich ist. Joos hatte sich für ­diesen Arbeitsschritt denn auch bei E-Commerce-Dienstleistern umgeschaut. Er ist nicht fündig geworden: «Das Verpacken von Lebensmitteln ist anspruchsvoller und braucht mehr Fingerspitzengefühl als bei anderen Produkten. Da sind voll automatisierte Lösungen noch weit weg. Sparen auf Kosten der Arbeitsbedingungen kommt für uns nicht infrage, weil wir den Anspruch ­haben, transparent über alle Bereiche der Lieferkette kommunizieren zu können.» Die Zusammenarbeit mit dem Züriwerk passt daher zu seinem hohen ­Anspruch an soziale Nachhaltigkeit. «Allerdings», sagt der Jungunternehmer, der das System Lebensmittel­handel von innen heraus umkrempeln will, «findet man die mit Abstand schlechtesten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. Deshalb ist sie unser zent­rales ­Thema.» 
Manchmal würden potenzielle neue Kundinnen und Kunden vor den Preisen von Crowd-Container-Produkten zurückschrecken, so Joos. Man zeige ihnen dann am konkreten Beispiel, wie viel Arbeit in Anbau und Ernte steckt, und frage sie: «Wo würden Sie denn sparen?» Die zu tiefen Preise für Lebensmittel seien der eigentliche Grund für die äusserst prekären Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, «die übrigens auf der ganzen Welt meist von Migrantinnen und Migranten verrichtet werden», sagt Tobias Joos. Reich werde bei den Preisen, die Crowd Container bezahlt, niemand. «Aber eine andere Landwirtschaft wird damit möglich.»

Über den Verein Innovationsfonds

Der Verein Innovationsfonds fördert ­innovative, nachhaltige Start-ups, indem er Eigenkapital in Form von Beteiligungen zur Verfügung stellt oder Darlehen gewährt. So werden modellhafte Projekte, die wenig Geld haben, aber lebens­fähige Strukturen und ein über­zeugendes Konzept aufweisen, ­unterstützt. Der Innovationsfonds finanziert sich aus Spenden der ABS sowie Dividendenspenden von ABS-Aktionärinnen und Aktionären.

Unterstützen auch Sie den Innovationsfonds mit einer Spende:
Spendenkonto: IBAN CH85 0839 0115 0810 0100 0
Alternative Bank Schweiz AG, Amthausquai 21, 4601 Olten
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