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14.06.2017 von Marcel Hänggi

Nagelbretter und Zebrastreifen

Wir betrachten es als normal, dass Autos den öffentlichen Raum dominieren und die Bewegungsfreiheit aller anderen Verkehrsteilnehmenden einschränken. Das war nicht immer so. Ein Blick in die Vergangenheit lässt unsere Normalität absurd erscheinen.

Artikel in Thema Mobilität
253 Menschen tötete der Schweizer Strassenverkehr 2015. Das ist ein Erfolg: 1970 gab es noch siebenmal so viele Tote. Aber vergleichen wir statt mit 1970 mit 1896. Damals kam es in England zum ersten Gerichtsprozess weltweit, weil ein Automobilist einen Menschen getötet hatte. «Das soll nie wieder geschehen», sagte der Richter am Ende der Verhandlung. Er sagte «nie mehr», nicht «höchstens 250 Mal im Jahr». Im selben Jahr hob das Vereinigte Königreich ein Gesetz auf, welches das Tempo innerorts auf vier Stundenkilometer beschränkt hatte. Das Gesetz nannte als seinen Zweck, den Verkehr vor den Motorfahrzeugen zu schützen. Mit «Verkehr» waren die Fussgänger gemeint. Heute nennt man Innenstädte ohne Autos «verkehrsfrei», dabei sind gerade solche Zonen oft besonders belebt. Strassen – und damit ein Grossteil des öffentlichen Raumes – sind für den Verkehr da, und «Verkehr» ist, was Räder hat: Das ist normal. Aber wenn man sich einmal weigert, als normal zu betrachten, dass der öffentliche Raum mit fahrenden und abgestellten Blechkisten überfüllt ist oder dass man Kindern ihr kindliches Verhalten im öffentlichen Raum abgewöhnt: Dann staunt man doch, dass diese Normalität kaum jemanden erstaunt. Die Geschichte des Autos wird oft als der Erfolg eines Geräts gesehen, das so nützlich ist, dass alle eines haben wollten. Aber dieser Weg war nicht vorgezeichnet. Im beginnenden 20. Jahrhundert waren Übergriffe auf Autos und Automobilisten häufig. Bauern leerten Gülle in die noch offenen Wagen, Nagelbretter sollten die lauten und Staub aufwirbelnden Gefährte stoppen. Die Gemeinde Mumpf versuchte 1908, sich mit einer Barriere am Dorfeingang zu schützen, Graubünden verbot Autos bis 1925.

Fussgängerstreifen als Disziplinierungsmassnahme

«Bevor die Stadtstrasse physisch umgebaut werden konnte, um sie für Motorfahrzeuge tauglich zu machen, musste sie sozial als Fahrbahn rekonstruiert werden», schreibt der Historiker Peter Norton, der die Geschichte der Verkehrserziehung in den USA erforscht hat. Die Verkehrserziehung in den 1920er-Jahren war von Automobilverbänden organisiert oder gesponsert (auch in der Schweiz). Nicht mehr die Automobilisten, sondern das falsche Verhalten der Fussgänger sollte im öffentlichen Bewusstsein für die rasant steigenden Unfallzahlen verantwortlich gemacht werden. Zebrastreifen erscheinen heute als fussgängerfreundlich, aber in ihrer Anfangszeit (ab etwa 1920) lautete ihre Botschaft nicht «Hier haben Fussgänger Vortritt», sondern: «Überall sonst haben Fussgänger keinen Vortritt». Entsprechend lange weigerten sich die Gehenden, die Disziplinierungsmassnahme zu beachten, und die Gerichte waren bis mindestens in die 1930er-Jahre auf ihrer Seite.
Aber die Regierungen hatten bereits begonnen, die Automobilisierung der Gesellschaft und des Raumes aktiv voranzutreiben – unter jeder ideologischen Ausprägung, am gezieltesten aber unter Faschismus und Nationalsozialismus. Es ist verblüffend: Das Auto verspricht Mobilität, aber es immobilisiert seine Insassen mit Sicherheitsgurten. Es verspricht Freiheit, aber kein Raum ist so hoch reglementiert wie der Strassenverkehr. Es verspricht individuelle Fortbewegung, aber nirgends bewegt man sich so im Gleichtakt wie im Stau. Strassen sollen Menschen verbinden, aber kleine Kinder dürfen sie nicht allein überqueren. Aber das ist nur verblüffend, wenn man sich weigert, das Normale als normal zu akzeptieren. Beendet man das Gedankenexperiment und kehrt zurück in die Realität: Dann sind 250 Tote (und 20 000 Verwundete) pro Jahr auf den Schweizer Strassen ein Tribut an die Mobilität und ein Erfolg, weil es die fünfzig Jahre zuvor stets schlimmer war.
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