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15.06.2017 von Muriel Raemy

«Welche Schweiz wollen wir?»

Mobilität wird oft auf messbare Grössen wie Minuten und Kilometer reduziert. Dies bedauert Vincent Kaufmann, Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Er rät zur Entschleunigung und zu einer Reflexion über das, was bei der Mobilität auf dem Spiel steht: der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Raumentwicklung.

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moneta: Warum sind Sie unzufrieden mit der Art, wie der Begriff «Mobilität» allgemein verwendet wird?

Vincent Kaufmann: Einerseits, weil Mobilität auf den Verkehr reduziert wird – auf Fragen der Verkehrspolitik und -infrastruktur. Anderseits, weil «mobil sein» im Allgemeinen mit der Überwindung von Raum gleichgesetzt wird, was die Menschen letztlich dazu veranlasst, Mobilität als erstrebenswert zu betrachten.

Was gehört Ihrer Meinung nach zum Verständnis von Mobilität?
Die Tatsache, dass sich der Mensch fortbewegt, um in eine andere Rolle zu schlüpfen: Am Morgen bin ich Vater und schicke meine Kinder zur Schule. Sobald ich bei der Arbeit eintreffe, bin ich Professor und verwende eine andere Sprache und andere Kompetenzen. Ich bewege mich also im Raum und ändere meinen Status. Jeder kann das bei sich selbst feststellen. Vor 40 Jahren arbeiteten die Leute in der Nähe ihres Wohnorts. Heute geht das nicht mehr, man überwindet viel mehr Raum, um zur Arbeitsstelle zu gelangen und schliesslich den gleichen Rollenwechsel zu vollziehen.

Ihre Arbeiten zeigen auf, dass «sehr mobile» Menschen mit dieser Realität zu kämpfen haben.
Bis in die 1980er-Jahre zogen die Menschen um, sie fassten in einer neuen Stadt Fuss. Heute nutzen sie Verkehrssysteme, um die Auswirkungen einer Lebensveränderung auf ihre Familie und ihr soziales Umfeld zu verringern. Sie pendeln. Doch wenn man Pendlerinnen und Pendler befragt, beschweren sie sich, dass sie müde sind und keine Zeit für Sport haben. Über grosse Distanzen zu pendeln, geht zulasten ihrer Lebensqualität.

Ist es das, was Sie in Ihrem letzten Buch unter «Paradoxa der Mobilität» verstehen?
Es handelt sich um ein doppeltes Paradoxon. Zuerst entscheiden sich die Leute für eine grosse Mobilität, die sie müde macht und isoliert. Sie begegnen ihren Nachbarn im Alltag gar nicht mehr. Dann zeigen Statistiken, dass die Schweizer seit 30 Jahren weniger innerhalb des Landes umziehen. Der nationale Zusammenhalt profitiert aber von der Kenntnis der Mentalität der anderen, ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Das gegenseitige Verständnis, das aus diesem Austausch zwischen Deutschschweizer und Westschweizer Kantonen entstanden ist, leidet. Dies ist eine unerwünschte Folge dieser grossen «raumüberwindenden» Mobilität.

Machen sich Politikerinnen und Politiker zu wenig Gedanken über diese gesellschaftlichen Aspekte der Mobilität?
Wir müssen uns die grundlegende Frage stellen, welche Schweiz wir künftig wollen. Unsere Modelle zeigen, dass die Strassen in 15 Jahren ausgelastet sein werden. Unsere Politikerinnen und Politiker schlagen folglich vor, das Verkehrsangebot zu verdoppeln, sei es auf der Schiene oder auf der Strasse. Das Resultat? Man schafft eine einzige grosse Stadt, eine Art multipolare Metropole. Doch ist das wirklich wünschenswert? Wird die Diversität der Schweiz mit ihren unterschiedlichen Schul- und Gesundheitssystemen und ihren Dialekten mit der Zeit nicht abnehmen? Meiner Ansicht nach hat die Schweiz diesbezüglich keine Vision.

Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen eine Grundsatzdebatte. Möchte man die Diversität erhalten, muss dieser Politik, durch immer schnellere Züge und breitere Strassen eine Verkehrsnachfrage zu schaffen, ein Ende gesetzt werden. Damit ein politischer Richtungswechsel möglich ist, empfehle ich eine massive Investition in erschwinglichen Wohnraum. So wird das Umziehen erleichtert und das Pendeln über lange Distanzen, das auf den angespannten Immobilienmarkt zurückzuführen ist, nimmt ab.
Auch sollte die Raumplanungspolitik den Faktor Geschwindigkeit zur Verringerung von sozialräumlichen Ungleichheiten nutzen. Eine Investition in Randverbindungen, etwa in eine schnelle Zugverbindung zwischen La Chaux-de-Fonds und Neuenburg, ergibt für mich mehr Sinn als die Erhöhung der Geschwindigkeit auf den bereits überlasteten Streckenabschnitten zwischen urbanen Zentren wie Lausanne und Genf. Ich empfehle sogar, die Geschwindigkeit auf diesen Strecken durch die Schaffung zusätzlicher Haltestellen zu verringern.
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