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16.06.2021 von Esther Banz

«Für einen Ingenieur ist eine autofreie Stadt eine reizvolle Denkaufgabe»

Heute transportieren wir Waren und Personen vorab auf Strasse und Schiene. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts nutzte man dafür noch die Gewässer. Könnten Flüsse, Kanäle und Seen die Funktion des Gütertransports wieder übernehmen und Städte so autofrei werden? Ein Gespräch mit dem Wasserbauexperten und emeritierten ETH-Professor Daniel L. Vischer, der zur Geschichte der Nutzung hiesiger Gewässer ein Buch geschrieben hat.

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Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurden viele Waren über den Wasserweg in die Schweizer Städte transportiert. Das Bild zeigt die Schifflände an der Limmat in Zürich oberhalb der Wasserkirche. Radierung von Julius Stadler um 1870. Quelle: Baugeschichtliches
moneta: Daniel Vischer, das Automobil eroberte erst vor rund 130 Jahren die Strassen. Heute werden rund zwei Drittel der Waren auf der Strasse transportiert. Wie beförderte man Güter in früheren Zeiten?
Daniel Vischer: Es gab einst einen heute kaum vorstellbaren Güterverkehr auf dem Wasser. Handkehrum musste das Wasser zu den Häusern getragen werden – von Hand, mit Eseln und auf Karren.
Konnten ganze Städte übers und mit Wasser versorgt werden?
Nicht direkt. Die hiesigen Städte wurden früher ähnlich wie grosse Burgen gebaut. Viele hatten niedere und höher liegende Gebiete, wo die Mehrbesseren zuhause waren, in Zürich etwa der Lindenhof und seine Umgebung. In die niederen Gebiete führte man offene Gewerbekanäle, in Nachahmung der Klosterbäche. Die Kanäle dienten der Entnahme von Trink- und Brauchwasser, als Zubringer für kleine Schiffe und Schwemmholz, als Antrieb der Wasserräder – aber auch zur Entsorgung der Abwässer. Die höheren Anlagen liessen sich nicht durch Kanäle erschliessen – sie wurden durch Lastenträger, Lasttiere, Handkarren und Fuhrwerke versorgt.
Könnten als Alternative zum Strassenverkehr nicht wieder vermehrt Güter auf dem Wasser zu ihrem Bestimmungsort transportiert werden, ähnlich wie es in Venedig nachwievor der Fall ist?
Es sind zwar fast alle hiesigen Städte an einem Gewässer entstanden, wo Schiffe die Güter zu den Menschen bringen konnten; Kähne aller Art brachten Bausteine, Bau- und Brennholz und vieles mehr in die Städte. Es gibt aber kaum Schweizer Städte, die sich für die Anlage eines Kanalnetzes eignen würden.
Warum nicht?
Die Flüsse und Ufer sind entweder schon so stark verbaut – etwa mit Kläranlagen, Bahn-und Strassenbrücken –, dass sie sich kaum mehr umleiten
oder durch Kanäle ergänzen liessen. Andere Abschnitte stehen unter Naturschutz. Auch die Topografie der Schweiz, ihre Berge und die vielen Hügel würden den Bau von Kanälen erschweren.
Könnte nicht ein Teil der städtischen Strassen in Kanäle umfunktioniert werden?
Schwierig. Aber das heisst nicht, dass es keine Alternative zur Strasse gibt. Für einen Ingenieur ist das Wunschszenario einer autofreien Stadt eine reizvolle Denkaufgabe. Es gab übrigens eine Zeit, in der eine schweizerische Binnenschifffahrt geplant und propagiert wurde.
Wie muss man sich diese vorstellen?
Man wollte die verschiedenen Regionen des Landes für den Warenverkehr zu Wasser verbinden. Die Güter wären via Basel auf dem Wasserweg in die Schweiz gelangt – den Rhein, die Aare, die Reuss und die Limmat hoch. 1915 schrieb der Kanton Zürich mit Gemeinden einen Wettbewerb aus, woraufhin sowohl in Zürich-Altstetten als auch in Zürich-Leutschenbach Hafenanlagen projektiert wurden. Im Buch «Schweiz am Meer», das 2014 anlässlich der Aufstellung des Hafenkrans erschien, kann diese Geschichte nachgelesen werden. Ich selber arbeitete 1958 an einem Projekt zur Schiffbarmachung der Reuss von der Mündung bis zur Lorze, weiter über diese in den Zugersee und schliesslich in den Vierwaldstättersee bis Flüelen.
Warum sind all diese Verbindungen zum Transport von Gütern auf dem Wasser nie umgesetzt worden?
Der Bundesrat strich die Reuss und andere Flüsse wieder aus dem Verzeichnis der schiffbaren Flüsse. Auf den verbleibenden Gewässern erlahmten die Projektierungsarbeiten von selber. Jetzt haben wir auf unseren Seen und einigen Flussstrecken immerhin noch eine blühende Gastschifffahrt und einige Ledischiffe.
Scheiterten die Wasserweg-Projekte am Geld?
Nicht nur. Es gab auch ökologische Gründe, die dagegensprachen. Man hatte Angst vor Gewässerverschmutzung durch Treibstoff und wollte naturnahe Flussufer erhalten. Und die Ablösung der Kohle durch Erdöl schaffte neue Tatsachen: Erstere hätte man auf Schiffen transportieren können, für Heizöl hingegen sind Pipelines das ideale Transportmittel. Ausserdem produzierte unsere Maschinenindustrie nicht so viel, als dass die Ausfuhr per Schiff Sinn gemacht hätte. Kurz: Der Schifffahrt fehlten die geeigneten Massengüter.
Zurück in die Gegenwart und in die Stadt. Wären dort noch andere Alternativen zum motorisierten Güterverkehr auf der Strasse denkbar?
Aber ja, verschiedenste! Manche wetten auf Drohnen – da sehe ich persönlich aber vor allem neue Nachteile auf Mensch und Umwelt zukommen. Hingegen könnte die Kleinverteilung per Tram angeschaut werden, mit einem starken Ausbau der Tramschienen. Oder der Transport unter der Erde. Dort transportieren wir heute, in Rohrleitungen, bereits das frische Wasser in jedes Haus, 300 Liter pro Kopf und Tag! Und von jedem Haus führen Leitungen das dreckige Wasser wieder weg. Da weiter zu denken, wäre interessant. Nicht allzu grosse Güter könnte man vielleicht nach dem System der Rohrpost verteilen.
Für die Stadt Bergisch-Gladbach bei Köln wurde eine Machbarkeitsstudie erstellt zum Bau eines unterirdischen Transportsystems, das den innerstädtischen Lkw-Verkehr ersetzen könnte. Halten Sie einen solchen Umbau des Transportwesens für umsetzbar?
Ja. Innerstädtisch müsste man ein engmaschiges Netz mit containergrossen Rohrpostbüchsen erstellen. Wenn es unsichtbar sein soll, im Boden – dort gibt es freilich schon andere Netze. Auch wäre es sinnvoll, die Personen- und die Gütertransporte zu trennen, weil die Ansprüche an die Geschwindigkeit verschieden sind: Personen wollen in der Regel schnell von einem Ort zum andern gelangen, bei vielen Gütern darf es langsamer gehen. Ich persönlich würde die Menschen möglichst an der Oberfläche lassen, die Güter unten durchführen, wie es auch bei dem Projekt in Bergisch-Gladbach der Fall wäre.
In der Schweiz ist übrigens mit Cargo sous terrain ein Projekt in Planung, das einen Teil des überregionalen Güterverkehrs unter die Erde verlegen will. Die Container sollen aber nicht mit Druckluft bewegt werden, sondern elektrisch.
Was können wir aus der Technikgeschichte lernen, im Hinblick auf ein neues Güterverteilsystem?
Dass die Verwirklichung einer neuen Transporttechnik ein bis zwei Generationen dauert. Und dass neue Transporttechniken die alten nie völlig ablösen werden. Und noch etwas: Wir dürfen die Hygiene nicht vergessen. Will man beispielsweise Lebensmittel und Arzneien im selben Fahrzeug befördern, braucht es gute Verpackungen – diese sind aber bereits jetzt ein Problem. Bei der Planung eines solchen Zubringersystems müsste man also auch ein adäquates und nachhaltiges Verpackungssystem mitplanen.


Über Daniel L. Vischer

Daniel L. Vischer ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie an der ETH Zürich. 2015 publizierte er im Hier-und-Jetzt-Verlag das Buch «Schiffe, Flösse und Schwemmholz» zur Geschichte der Schweizer Wasserfahrzeuge.
Foto: zVg
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