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29.11.2023 von Sara Winter Sayilir

Steigen die Preise, leidet die Freiheit

Wird alles teurer wie momentan in der Schweiz, spürt das eine Gruppe von Menschen besonders: jene, die nahe der Armutsgrenze leben. Ihr sowieso schon knappes Budget reicht, wenn überhaupt, nur noch für das Nötigste. Viele verzichten trotzdem auf staatliche Unterstützung und halten stattdessen die Ein­schränkungen aus.

Artikel in Thema Knappheit
Illustration: Claudine Etter

Fragt man einen Ökonomen wie Carlo Knöpfel nach Knappheit, umreisst er diese wie folgt: Wenn von etwas zu wenig da ist, steigen die Preise, wenn es etwas im Überfluss gibt, dann sinken sie. Knöpfel ist Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er sagt auch: Teuerung kann ein Ausdruck von Knappheit sein, muss aber nicht. Beispielsweise hätten die steigenden Energiepreise wenig mit Knappheiten zu tun; dies seien vor allem politische Setzungen. Zudem nützten einige Unternehmen die Gunst der Stunde und erhöhten ihre Preise, weil sie davon ausgehen würden, dass sie diese am Markt durchsetzen könnten. 
Sicher ist jedoch: Steigen die Preise zu sehr, bringt dies Menschen mit geringen Einkommen in Bedrängnis. Sie können sich plötzlich hier etwas nicht mehr leisten und müssen dort Abstriche machen. «Viele Kinder gehen in die Kita, doch für mich und meine drei Kinder ist das zu teuer. Der älteste Sohn stellt viele Fragen: Mama, wieso hast du das nicht? Wieso, Mama, habe ich dies nicht? Die Kinder denken, es wäre meine Schuld, dass wir mit so wenig leben. Später werden sie es hoffentlich verstehen.» Senait Tesfaye ist 33 und heisst in Wirklichkeit anders. Sie bezieht Sozialhilfe und verkauft das Strassenmagazin «Surprise». Knappheit für sie bedeutet: Die Preise steigen, und ihre Bewegungsfreiheit wird noch geringer.


Fast zwei Millionen betroffen oder bedroht

8,7 Prozent der Bevölkerung leben in der Schweiz unter der Armutsgrenze, sagt das Bundesamt für Statistik. Das sind 745 000 Menschen. 1 244 000 Menschen sind zudem von Armut bedroht. Jede minimale Veränderung bei Einnahmen oder Ausgaben kann für sie das sogenannte Abrutschen unter die Armutsgrenze bedeuten. 
Senait Tesfaye steht hier stellvertretend für andere, die unter ähnlichen Bedingungen leben, dabei ist sie viel mehr als nur eine Armutsbetroffene. Senait Tesfaye ist auch eine gute Freundin für ihre Kolleginnen, eine Mutter, eine Überlebende schlimmer Erlebnisse auf der Flucht, und sie ist dankbar für ihre Sicherheit in der Schweiz. Psychisch geht es ihr nicht so gut, auch weil sie hier erstmals über das Erlebte nachdenken kann. Dabei ist sie eine warmherzige Person, mit der man gern lacht. Senait Tesfaye hat keine Möglichkeit, sich dafür einzusetzen, dass es Menschen wie ihr besser geht. Dafür ist das tägliche Leben viel zu anstrengend, der Raum im Kopf gar nicht da. Auch eine Nebenwirkung von Armut. Nur wenige können sich vorstellen, dass ein anderes Leben möglich wäre. Dass sie eine Stimme haben, die gehört werden könnte.


Geldsorgen auch knapp oberhalb der Armutsgrenze 

Die Armutsgrenze, die in der Statistik arme von nicht armen Personen trennt, ist gewissermassen willkürlich. Bis heute gebe es keine breit anerkannte wissenschaftliche Methode zur Bestimmung, sagt Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel. Zwar steckt dahinter ein vielfach ausgehandeltes und durchdiskutiertes Berechnungssystem, mit dem die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, SKOS, die Summe von Grundbedarf, Miete, Krankenkassenprämie und situationsbedingten Leistungen ermittelt. Auf dieser Summe basieren die Empfehlungen der SKOS für die Sozialhilfe, was kantonal schliesslich gilt, entscheiden die jeweiligen Sozialdepartemente. Unvermeidlich werden aber mittels dieser Berechnungen die einen als arm deklariert, weil ihr Einkommen unter die ermittelte Grenze fällt, und die anderen, deren Einkommen möglicherweise nur knapp drüber liegt, formal betrachtet, nicht. Die einen haben damit ein Recht auf Unterstützung, die anderen nicht. 
Alle Personen mit Einkommen rund um diese Grenze verbindet, dass sie sich sorgen müssen ums Geld. Darum, wie sie ihre Rechnungen bezahlen können. Viele schämen sich, weil sie ihre Freunde nicht zum Essen im Restaurant treffen können, weil eine Geburtstagsfeier für ein Kind heisst, anderswo zu verzichten, und weil Besuch zu Hause ein Loch in die Kasse reisst. Viele beantragen aus Stolz oder Scham – oft zwei Seiten derselben Medaille –, aber auch aus Unkenntnis keine staatliche Unterstützung, selbst wenn sie ein Recht darauf haben. Andere sind verschuldet ohne Aussicht auf ein Restschuldbefreiungsverfahren und damit ohne Anreiz, sich je wieder aus der Sozialhilfe zu lösen. Nur wenige haben sich selbst in diese Situation reingeritten, den meisten wird dies vom Rest der Gesellschaft trotzdem unterstellt. Armut ist nach wie vor ein Stigma. 


Viele beantragen keine staatliche Hilfe

Aynur Gün, die ihren echten Namen ebenfalls nicht nennen möchte, arbeitet in Basel im Stundenlohn in einer Tieflohnbranche. Sie gehört zu den 157 000 sogenannten Working Poor in der Schweiz. Diese 4,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung haben trotz Arbeit kein Einkommen über der Armutsgrenze. Aynur Gün, die Anfang vierzig ist, kann mit ihrem schwankenden Lohn gerade ihre laufenden Kosten decken. Sie ist eine aufgestellte, selbstbewusste Frau. Sie hat keine dritte Säule, lebt mit ihrem Primarschulkind in einer Zweizimmerwohnung und kann sich keine Fernreise leisten. «Zum Glück habe ich diesen Wunsch auch nicht», sagt die Alleinerziehende. Sie geniesst die kleinen Dinge: einen neuen Haarschnitt, einen Spaziergang im Wald, die Zeit mit dem Kind. «Gesundheit ist das Wichtigste», sagt sie. Sorgen macht ihr hin und wieder, dass sie sich keine grössere Wohnung leisten kann. Staatliche Unterstützung aber lehnt sie ab. Dazu trägt auch die Ausgestaltung der Sozialhilfe bei, etwa durch die Rückerstattungs- oder die Verwandtenunterstützungspflicht, die viele davon abhält, Hilfe zu beantragen. Auch die Verknüpfung von Sozial- und Ausländerrecht ist ein Faktor. Seit 2019 gilt: Beziehen Migrantinnen und Migranten Sozialhilfe, riskieren sie ihre Aufenthaltsbewilligung. Diese Regelung hat eine diskriminierende Mauer um die Sozialhilfe gebaut und viele Familien mit Migrationshintergrund in Notlagen gebracht.


Problematische Strukturen

Armut ist ein strukturelles Problem. Viele Betroffene kommen bereits aus armen Familien, andere mussten fliehen oder sind anderweitig in eine Krise geraten. Viele haben unbezahlte Care-Arbeit geleistet und daher eine sehr kleine Rente. Einige haben Schulden geerbt, bei einigen kam einfach zu viel zusammen: ein Unfall, eine gescheiterte Beziehung oder der Jobverlust. Ausgespart bleibt hier das ganze System der Asyl- und Migrationspolitik, in dem Menschen absichtlich in absoluter Armut gehalten werden, zum Beispiel in der Nothilfe, um ihnen ihr Dasein hier zu verleiden und sie zum Gehen zu bewegen – was in einer Vielzahl der Fälle eine menschenrechtliche Katastrophe ist. 
Armutsbetroffene und -gefährdete sind stärker von Teuerung betroffen als die sogenannte Mittelschicht. Denn die zehn Prozent einkommensschwächsten Haushalte in der Schweiz geben ihr weniges Geld anders aus: Weil ein grösserer Teil davon zur Deckung beispielsweise der gestiegenen Elektrizitätsrechnung aufgewendet werden muss, spüren sie den Anstieg der Strompreise auch deutlicher im Portemonnaie. Während Ausgaben für Freizeit und Kultur sowie Restaurants und Hotels für sogenannte Normalverdienerinnen und -verdiener einen signifikanten Anteil ausmachen, konnten sich 7,9 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2021 gar keine regelmässigen Freizeitaktivitäten leisten und 3 Prozent nicht mindestens einmal pro Monat Freunde oder Familie zum Essen treffen.


Kein Problem anderer Leute

Aynur Gün wird wahrscheinlich auch einmal von Altersarmut betroffen sein. Und auch wenn Menschen mit Migrationsgeschichte einen grossen Anteil der armutsbetroffenen und -gefährdeten Personen ausmachen, Armut ist kein Problem anderer Leute. Eine signifikante Anzahl biografischer Schweizerinnen und Schweizer leiden ebenso darunter. Etwa die 300 000 Schweizer Rentnerinnen und Rentner, die mit weniger als 2400 Franken pro Person und Monat leben müssen – während zugleich jedes siebte Seniorenpaar über ein Vermögen von mindestens einer Million Franken verfügt.

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