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05.12.2018 von Roland Fischer

Übernutzung als Naturgesetz?

Wissenschaftliche Texte legen mitunter erstaunliche Karrieren hin. Garrett Hardins berühmter Aufsatz «Die Tragik der Allmende» aus dem Jahr 1968 steht exemplarisch dafür. Bis heute hallt seine umstrittene These nach: Ist die Allmend tatsächlich ein tragischer Irrtum? Müssen Gemeinschaftsgüter zwangsläufig übernutzt werden?

Artikel in Thema Boden

Illustration: Claudine Etter
Die Tragik der Allmende – was wie ein Titel eines Heimatfilm-Melodrams klingt, ist tatsächlich ein überaus einflussreicher Text über Wirtschaft und Gesellschaft. Geschrieben vor genau fünfzig Jahren, hat er eine solche Karriere in ökonomischen und ökologischen Kreisen hingelegt, dass sein Titel sprichwörtlich geworden ist: Die Allmend – eine schöne Idee, die gar nicht anders als in tragischen Zuständen enden kann. Geschrieben hat den Fachartikel allerdings kein Sozialwissenschaftler, sondern der Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin.

Hardin hat den Titel gut gewählt. Klingt er doch so gar nicht nach der Polemik, die im Artikel tatsächlich steckt: Der Text ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Idee, dass Güter gemeinschaftlich genutzt werden können. Die Tragik, nach Hardin: Alle Versuche, gemeinschaftlich zu wirtschaften, seien zum Scheitern verurteilt, weil Menschen halt nun mal dazu neigten, sich gegenseitig zu übervorteilen. Langfristig werde so jedes Gemeinschaftsgut ausgelaugt, nicht zum Vorteil aller, sondern nur einiger weniger, die die eigenen Interessen über die aller anderen stellten. Und das sei Naturgesetz, war Hardin überzeugt: Er glaubte es mit spieltheoretischen Modellrechnungen ein für alle Mal beweisen zu können.

Politische Streitschrift mit langer Tradition

Der Wunschtraum der Ökonomie, eine exakte und empirisch gut abgestützte Wissenschaft zu sein – die (vermeintliche) Verwissenschaftlichung des Fachs –, geht tatsächlich auf diese Zeit zurück. Vor allem die Spieltheorie schien in den 1950er- und 1960er-Jahren endlich das Rüstzeug zu liefern, um experimentell aufzuzeigen, wie der Homo oeconomicus wirklich tickt. Heute wissen wir: Diesen nutzenmaximierenden Modellmenschen gibt es nicht, und mit der Empirie hapert es auch. Das hat vor allem mit der Komplexität der Systeme zu tun, die da analysiert werden sollen, und also mit der Schwierigkeit, diese Systeme überhaupt zu modellieren.

Deshalb ist die Tragik der Allmende weniger wissenschaftliche These als politische Streitschrift, das hat der Sprachwissenschaftler Clemens Knobloch vor ein paar Jahren im Aufsatz «The Tragedy of the Commons – Anatomie einer Erfolgsgeschichte» aufgezeigt. Für Knobloch ist Hardin kein nüchterner Analyst, sondern ein «früh-neoliberaler Hassprediger». Die Empirie: sehr wacklig, weil das spieltheoretische Denkmodell «für die Darstellung hoch aggregierter Akteure und internationaler Machtverhältnisse zwischen Staaten und Konzernen deutlich zu schlicht» sei. Stattdessen liest Knobloch Hardins These wissenschaftshistorisch und wirkungsgeschichtlich, und das eröffnet ganz andere Perspektiven auf den Text. Indem er der Erfolgsgeschichte von Hardins Publikation auf den Grund geht, erkundet er auch die Wurzeln der Idee. Denn die Verurteilung der Allmende als ökonomisches Konzept ist kein Programm der wissenschaftlichen Moderne, es geht zurück auf den britischen Ökonomen Robert Malthus und seine Schwarzmalerei im ausgehenden 18. Jahrhundert in Sachen Bevölkerungsexplosion und damit einhergehender sozialer Krisen. Seither «klapperten die dürren Kühe der Allmende» immer wieder durch Expertenpapiere (in einer schönen Formulierung des Umwelthistorikers Joachim Radkau).

Und die ökonomischen Analysen hatten immer mit Politik zu tun, am deutlichsten auf den Punkt gebracht durch das «Enclosure Movement» in Grossbritannien, einer politischen Bewegung, die seit Beginn der Neuzeit darauf zielte, die mittelalterlichen Allmendrechte aufzulösen. Um 1800 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt: Es gab fortan keine gemeinsam genutzten Weiden mehr, alles wurde aufgeteilt, eingezäunt (eben «enclosed»), privatisiert. Knobloch: «In der vorkapitalistischen Dorfwirtschaft waren die Gemeindeländereien eine Art Puffer gegen die Armut der Landlosen, und ihre Enteignung half bei der ‹Herstellung› des von allen Produktionsmitteln freien Proletariats, wie man in Marxens berühmtem Kapitel über die ‹ursprüngliche Akkumulation› des Kapitals nachlesen kann.»

Wie retten wir das Raumschiff Erde?

Insofern ist Hardin ein Wiedergänger, ein Echo aus der Vergangenheit. Knobloch zeigt aber auch, dass das Lied von der Tragik der Allmende sehr zeitgemäss klingen kann – und erklärt damit, warum Hardins These bis heute eine solche Resonanz hat, und zwar überraschenderweise quer durchs politische Spektrum. Er sieht darin ein «ökologisches Sinnbild für Übernutzung und Niedergang global-menschheitlicher Naturressourcen». Die Allmenden seien zu einer Metapher für die ökologische Krise all derjenigen Naturressourcen geworden, deren Bewirtschaftung als menschheitliche Gemeinschaftsaufgabe gilt: Luft, Wasser, Ressourcen, Biodiversität, Regenwälder, Umwelt. Und tatsächlich fühlt man sich ertappt: Ist es utopisch, anzunehmen, dass wir diese Gemeinschaftsaufgaben auch zum Wohle aller lösen können? Oder glauben wir nicht alle, schon zu wissen, dass die Meere sowieso bis zum bitteren Ende leergefischt und die Regenwälder abgeholzt werden, weil sich immer ein Akteur findet, der sich aus Profitsucht nicht an Abmachungen hält?

Die ganz grosse Frage lautet heute also: Wie retten wir die letzte, endgültige Allmend – unseren Planeten? Und da kommt ein anderer Text aus dem Jahr 1968 ins Spiel, nämlich R. Buckminster Fullers «Operating Manual for Spaceship Earth». Ein ähnlich legendärer Text wie «Die Tragik der Allmende» – und ähnlich krud, liest man ihn heute neu. Ein ellenlanges Manifest, als Aufforderung an «planners, architects, and engineers» – also letztlich die Technokratie –, die Initiative zu übernehmen und dieses durchs All fliegende Raumschiff auf einen nachhaltigeren Kurs zu bringen. Dabei argumentiert Fuller ebenso grossspurig wie Hardin. Nach fünfzig Jahren muss man feststellen: Die modernen Mythen werden von klugen Köpfen aus Wissenschaft und Technik geschrieben – aber die Wirkungsgeschichten dieser Texte haben wenig mit ihrem fachlichen Gehalt zu tun, sondern mit den Ideen, die widerhallen. Wobei es da zum Glück auch noch eine Gegengeschichte gibt, von Elinor Ostrom: In «Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action» hat die 2009 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonomin den mathematischen Nachweis erbracht, dass Gemeinbesitz und Genossenschaften möglich sind.

«Ist es utopisch, anzunehmen, dass wir diese Gemeinschaftsaufgabe zum Wohle aller lösen können?»

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