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19.06.2019 von Roland Fischer

Von der Stoppuhr zum Algorithmus

Mittels Zeitmessung zur Effizienz – und damit zum ökonomischen Erfolg: Das verspricht das Konzept des «Scientific Management». Vor hundert Jahren erfunden, um die Produktivität in der Industrie zu steigern, prägt es unsere Arbeits- und Lebenswelten mehr denn je.

Artikel in Thema Messen und Bewerten
Illustration: Claudine Etter
Unlängst mal eine Arztrechnung genau studiert? Wie kleinteilig da jede einzelne Handlung abgerechnet wird, streng nach Tarmed? Konsultation, erste fünf Minuten, Konsultation, jede weitere fünf Minuten und so weiter. Oder sich von einer Spitex-Mitarbeiterin erzählen lassen, wie sie durch den Tag gehetzt wird, von einem auf die Minute vorgegebenen Takt? Der WOZ  erzählte eine Spitex-Pflegefachfrau vor ein paar Jahren, für längere Gespräche mit den Patientinnen und Patienten fehle die Zeit: «Obwohl solche Gespräche wichtig wären, sprengen sie den Rahmen. Alle meine pflegerischen Tätigkeiten sind einem genau festgelegten Zeitplan unterstellt.» Es wird inzwischen nicht besser geworden sein. Was wie ein unsinniger Auswuchs des Wettbewerbs im Gesundheitswesen aussieht, hat System. Und dieses System ist nicht neu; tatsächlich ist es ziemlich genau hundert Jahre alt.

Arbeitsabläufe minutiös erfasst und optimiert

Es gibt ein legendäres Sprichwort in Wirtschaftskreisen: «What cannot be measured, cannot be managed.» Was man managen möchte, muss zunächst einmal gemessen werden. Wie so oft bei geflügelten Worten lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wer es geprägt hat. Es hätte aber ganz gut ein gewisser Frederick Winslow Taylor gewesen sein können. Der amerikanische Ingenieur schrieb 1911 eines der einflussreichsten Wirtschaftsbücher der Geschichte und krempelte die Arbeitswelt nachhaltig um. Heute steht er, wenn es um die Umbrüche hin zur modernen Arbeitsrealität geht, aber meist im Schatten von Henry Ford. Taylors Ideen waren von Beginn weg publikumswirksam, so erschienen seine «principles of scientific management» (Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung) nicht nur als Fachbuch, sondern waren auch im überaus populären «American Magazine» zu lesen.

Taylor ging betriebswirtschaftliche Abläufe in strenger Ingenieursweise an: Stoppuhr statt Bauchgefühl. Ihn interessierte, wie Arbeiter in der Fabrik genau funktionierten und wie sich Aufgaben wie das Verladen von Roheisen optimieren liessen. Dazu sezierte er Arbeitsabläufe richtiggehend, jedes einzelne Element wurde beobachtet und erfasst. Im Nachhinein liest sich das stellenweise ziemlich absurd, zum Beispiel, wenn Taylor «die Wissenschaft des Schaufelns» erfindet: «[Es wurden] Tausende genauer Messungen mit einer Stoppuhr vorgenommen, wie schnell der Arbeiter, der mit der methodisch richtigen Schaufel ausgestattet ist, diese in den Materialhaufen hineinstossen und sie dann ‹richtig› gefüllt herausziehen kann. Zuerst musste er die Schaufel mitten in den Haufen hineinstossen, dann auf dem Erdboden am Rand des Haufens schaufeln, dann auf Holzboden und schliesslich auf Blechboden. Über all das wurden genaue Beobachtungen angestellt.»

Der Mensch als Teil der Maschine

Doch: So unmittelbar und zwingend wurde die Logik der Industrialisierung nie mehr auf den Punkt gebracht – man kann gar nicht anders, als an Charlie Chaplins «Modern Times» zu denken. Der Mensch ist Teil der grossen Maschine, ein mechanisches Element. Wenn der Lebenszweck des Ingenieurs darin besteht, die Maschine zu optimieren, so kommt früher oder später auch der Mensch dran. Oder in den Worten Taylors: «In the past the man has been first. In the future the system will be first.»

Die Attraktivität der Methode beruht auf ihrer Wissenschaftlichkeit, und das heisst eben unmittelbar auch: Quantifizierbarkeit. Objektive Zahlen sollten ein Für oder Wider belegen, nicht irgendein intuitives Gefühl. Das ging so weit, dass dem Arbeiter vom Taylor-Experten vorgeschrieben wurde, wann er wie lange Pause machen sollte. Nicht in erster Linie zu seinem Wohl, versteht sich, sondern um möglichst effizient arbeiten zu können. Es ging hier nicht einfach um Management, es ging um «Scientific Management». Die unheilige Allianz von wissenschaftlich-technischem Denken und Marktwirtschaft nahm damit ihren Anfang.

Auch für den Sozialismus attraktiv

Dieses Denken übte aber nicht nur auf die Exponenten der Marktwirtschaft eine magische Anziehungskraft aus. 1919 wusste das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Taylors Buch zu berichten, dass «an der Gewalt der realen Tatsachen auch der Sozialist nicht vorübergehen [darf], das zeigt das Beispiel Lenins, der soeben in einer Broschüre über das Programm des wirtschaftlichen Wiederaufbaues Russlands u. a. für die Einführung des Taylor-Systems eintritt». Insofern war auch der Sozialismus von einem Management-Wahn befallen, denn eine Planwirtschaft ist fast noch zwingender auf Zahlen angewiesen als der anarchischer funktionierende Marktplatz westlicher Prägung. Und noch eine interessante Randnotiz: Taylor hat uns nicht nur ein System, sondern auch das entsprechende Vokabular beschert, wie eine Vorbemerkung des Herausgebers verrät: «Ausserdem sind es zum Teil ganz neue Begriffe, für die das Deutsche noch keine Bezeichnung benötigt hat. [...] Deshalb sind Worte, wie z. B. ‹efficiency›, jedem Amerikaner und jeder Amerikanerin vollständig verständlich, während ich hätte fürchten müssen, bei Verwendung der entsprechenden deutschen Ausdrücke zum mindesten das Interesse der nicht technisch Gebildeten zu riskieren, an die sich ganz besonders dieses Buch wendet.»

Aktueller und unheimlicher denn je

Und heute? Man wird kaum mehr explizite Verweise auf den Taylorismus finden – das bedeutet allerdings nicht, dass er als System und Grundidee keinen Einfluss mehr hätte. Man könnte sogar sagen: Er kommt so richtig erst in diesen spätkapitalistischen Tagen zur Blüte, im Zuge der um sich greifenden Digitalisierung und Datifizierung. Uber-Fahrerinnen und Fahrer zum Beispiel fühlen sich weniger als autonome Unternehmerinnen und Lenker hinter dem Steuer, sondern selber gelenkt von einem Algorithmus, der jeden Meter, jede Sekunde erfasst und den nächsten Schritt immer schon zu kennen scheint. Und Amazon sorgt immer wieder mit seltsamen Mensch-Maschine-Patenten für Aufsehen, zum Beispiel mit einem Lagerroboter mit aufgesetztem Käfig, in dem Menschen eingepfercht würden als in die Maschine integrierte Kontrollsysteme. Andere Patente betreffen Armbänder, die jede Handbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Warenhäusern genau erfassen – ein bisschen so, als wären ihre Glieder mit Sensoren versehene Roboterarme.

Amazon antwortet auf die Enthüllung solcher Patente immer gleich: Es gebe keine konkreten Pläne, die Technologien auch einzusetzen. Das ist Augenwischerei, auch wenn es im konkreten Fall stimmen sollte. Wir wissen unterdessen ziemlich genau, wie unerbittlich Amazon-Angestellte überwacht und von Effizienzkriterien durch die Lagerhäuser gehetzt werden – die Rechner wissen exakt, wie viele Sekunden es dauern dürfte, einen bestimmten Artikel aus dem Regal hinten oben rechts zu holen. Entsprechende Berichte lesen sich dann ein wenig wie eine Albtraumvariante der taylorschen Stoppuhr. Und die Unerbittlichkeit des Systems geht in letzter Logik dann so weit, dass aufgrund der Algorithmen Angestellte automatisch gefeuert werden, wenn sie den Anforderungen des Apparates nicht gewachsen sind. Auch das ist keine Science-Fiction, sondern wurde von Brancheninsidern unlängst genau so vermeldet.

Und das ist das wirklich Unheimliche an Taylor im Jahr 2019: Gemessen und gemanagt werden längst nicht mehr nur betriebswirtschaftliche Abläufe, sondern unser Leben im grossen Ganzen, unser Online-Verhalten (in China macht man bereits keinen Unterschied mehr zwischen On- und Offline), unsere Kreditwürdigkeit, unsere Schlafgewohnheiten. Und das Internet der Dinge wird erst gerade von der Leine gelassen. Wieder gehen wir der Wissenschaftlichkeit der Bewertungen auf den Leim, dem vermeintlich zwingenden Für und Wider, an das man nicht mal mehr appellieren kann. Hundert Jahre nach Taylor drohen wir noch viel umfassender «zu einem blossen Zahnrad im Getriebe der Maschine» zu werden, wie ein kritischer Rezensent beim Erscheinen von dessen Buch meinte.
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