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23.09.2020 von Martin Bieri

Der Gegenwert der Gegenwart

Warum ist Kunst so teuer? Und wie wurde der Kunsthandel vom ver­schwiegenen Hinter­zimmergeschäft zur globalen Industrie? Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt: Die Kunst braucht das Geld. Und umgekehrt.

Artikel in Thema Kunst und Geld
Illustration: Claudine Etter
Man hätte darauf hereinfallen können. John Haberle malte Geld so gut, dass es aussah wie echt. Deshalb meldete sich postwendend der amerikanische Geheimdienst. Haberle solle das Falschgeldmachen unterlassen. Tat er aber nicht, denn Haberle machte kein Falschgeld, er machte Kunst, im ausgehenden 19. Jahrhundert. Kunst, auf der Geld zu sehen war. Die Bilder liefen gut. Ein Sammler erstand sein berühmtestes, «Imitation», heute befindet es sich in der National Gallery of Art, ­Washington. Das Kunstestablishment hingegen lehnte die Werke ab: zu einfach, zu ordinär. Ein Trompe-l’Œil, gut gemacht, weiter nicht von Belang.

Die Millionen der Financiers

John Haberle, Sohn deutscher Einwanderer, war von Beruf Graveur und arbeitete als Gehilfe eines Paläontologen in New Haven, Connecticut. Aus der Distanz beobachtete er, wie unfassbar reich gewordene Financiers den Kunstmarkt mit Dollars fluteten und alte Gemälde immer neue Rekordpreise erzielten: 1901 zahlte der Bankier J. P. Morgan für das «Pala Colonna» genannte Marienbild von Raffael 400 000 Dollar, 1911 kaufte der amerikanische Transportunternehmer Peter Widener «Die Mühle» von Rembrandt und die «Small Cowper Madonna» von Raffael für jeweils eine halbe Million. Und 1913 liess die Kunstsammlerin Arabella Huntington aus New York für das Bildnis von Gaspar de Guzmán von Velázquez sogar 650 000 Dollar springen, um es der Hispanic Society of America zu schenken. Dieser Betrag entspräche heute etwa 17 Millionen Dollar. Das Durchschnittseinkommen eines Lehrers betrug um 1900 etwa 400, dasjenige einer Wäscherin knapp 200 Dollar im Jahr.
Hatte jemand wie John Haberle, der nicht von seiner Kunst leben konnte, nicht allen Grund, zu erkennen, dass Kunst nichts anderes war als Geld? Und daher Täuschung? Es ist nicht bekannt, ob man sich folgenden Witz damals schon erzählte – Haberle hätte ihn ohne Zweifel verstanden: Wenn zwei Banker sich treffen, sprechen sie über Kunst. Wenn zwei Künstler sich treffen, sprechen sie über Geld.

Auf den ersten Blick scheinen Kunst und Geld absolute Gegensätze zu sein. Das Geld ist die objektive Bewertung, die Kunst dasjenige, das sich ­jeder objektiven Bewertung entzieht.


Das Fin de Siècle markiert nicht der Anfang des modernen Kunsthandels, bei Weitem nicht. Ein Kunstmarkt im modernen Sinn begann sich in der Renaissance zu entwickeln. Die Künstler lösten sich vom beherrschenden Einfluss ihrer Auftraggeber – Kirche und Fürst – und traten als Unternehmer in eigener Sache auf. Prototypisch verkörpert durch Albrecht Dürer, der als einer der Ersten das kommerzielle Potenzial erkannte, Malerei in Form von Grafiken zu vervielfältigen – verbunden mit allen urheberrechtlichen Problemen, die uns noch heute beschäftigen. Besonders die Märkte in Italien und den Niederlanden standen in engem Kontakt. Ganze Schiffsladungen von Landschaftsbildern wurden im 16. Jahrhundert von Antwerpen aus nach Italien verschickt. Von nun an tauchen in der Kunstgeschichte prägende Figuren auf, die weder Künstler noch Mäzene waren. Sondern Händler. Zum Beispiel der 1489 in Florenz geborene Giovanni Battista Della Palla. Er setzte Kunst als politisches Mittel zwischen Florenz und dem König von Frankreich ein, was ihn am Ende wohl sein Leben kostete. Hundert Jahre später wurde Hendrick van Uylenburgh in Amsterdam zu einem führenden Kunsthändler, nicht zuletzt, weil er Rembrandt seine Nichte zur Frau gab. Ohne Paul Durand-Ruel hätten es die Impressionisten schwerer gehabt, und ohne seinen jüngeren Bruder Theo wäre Vincent van Gogh noch weniger weit gekommen, als es ihm zu Lebzeiten vergönnt war.

Nur der Glaube zählt

Seit sich die Kunst aus der Patronage der Mächtigen befreit und sich einen neuen Herrn, den Markt, gesucht hat, verbindet sie mit dem Geld ein ständiges Sehnsuchtsverhältnis. Wie kommt das? Auf den ersten Blick scheinen Kunst und Geld absolute Gegensätze zu sein. Das Geld ist die objektive Bewertung, die Kunst dasjenige, das sich jeder objektiven Bewertung entzieht. Diese Wert-, weil Nutzlosigkeit auszuhalten, ist für die Kunst dermassen schwierig, dass sie sich in einen ewigen Kreislauf von Befreiung und Konformität begibt. Sie muss immer Avantgarde, immer originell sein. Sie löst sich von überkommenen Regeln und Stilen, bloss um sofort wieder neue Kategorien aufzustellen. Sie eta­bliert ständig ein neues Neu, von dem aufs Neue geglaubt werden kann, es sei zu etwas gut – namentlich dem Zeitgeist Ausdruck zu verleihen.
Genau dieser Glaube ist entscheidend. Er ist die schwache Erinnerung an die Religion, die Kunst in sich trägt. Die Gesellschaft muss an den ideellen Wert von Kunst glauben, sonst gibt es keine Kunst. Dies vorausgesetzt, lässt sich der Wert von Kunst, wenn sie gut ist, erleben. Das fehlt dem Geld. Auch an Geld muss geglaubt werden. Doch es ist abstrakt, seine Überzeugungskraft ist nicht suggestiv, sondern autoritär. Mag sein, dass das Geld deshalb so sehr von der Kunst fasziniert ist: Durch sie eignet es sich Transzendenz an. Umgekehrt benötigt die Kunst die Deckung durch das Geld, um ihren Wert ökonomisch abzusichern. Es geht um mehr als das blosse Geschäft: Im gehetzten Kreislauf des ewig Neuen ist das Geld zu einer der wichtigsten Orientierungshilfen geworden. Zyniker würden behaupten: zur einzigen.

Neue Kunst für neues Geld

In den letzten zwanzig bis dreissig Jahren hat der Kunsthandel neue Dimensionen erreicht. 2011: «Die Kartenspieler» von Paul Cézanne wurde für 266 Millionen verkauft, im 2015 «Interchange» von Willem de Kooning für 300 Millionen; und dann 2017 der dickste Deal: 450 Millionen für das Gemälde «Salvator Mundi» von Leonardo da Vinci (wobei die Urheberschaft nicht einmal restlos geklärt ist). Aus einem verschwiegenen Hinterzimmer- und Handschlaggeschäft ist eine globale Industrie geworden. 1988 führte die Datenbank Artnet (so etwas wie das Zentralregister der Kunstwelt) erst 18 Auktionshäuser und 8300 Künstlerinnen und Künstler. 25 Jahre später sind dort 632 Auktionshäuser und 90 275 Künstlerinnen und Künstler gelistet. Als solche oder solcher darf laut den Erfassungskriterien gelten, wer Werke für mehr als 500 US-Dollar versteigert hat.
Die von der UBS und der Art Basel jährlich publizierte Analyse des Kunstmarktes beziffert das Volumen der Verkäufe für das Jahr 2018 auf 67,4 Milliarden US-Dollar, 2019 war die Zahl nur unwesentlich tiefer. Etwas weniger als die Hälfte dieser Summe wurde auf Auktionen erzielt, die Mehrheit der Verkäufe erfolgte durch Gale­rien. Nur zwei Prozent der verkauften Werke kosteten mehr als eine Million US-Dollar, wertmässig machten sie dennoch 42 Prozent des Marktvolumens aus. Die Rekordverkäufe geben aber ein verzerrtes Bild des Kunstmarktes ab. Der grösste Teil der verkauften Werke, nämlich fast 85 Prozent, kosteten unter 50 000 US-Dollar.
Verantwortlich für die expansive Entwicklung des Marktes in den letzten Jahren und Jahrzehnten war ­eine Reihe von Umständen innerhalb wie ausserhalb des ­eigentlichen Kunstbusiness. Technologische Umwälzungen und die Entwicklung neuer ökonomischer Kraftorte führten zu einer Akzentuierung gesellschaftlicher Schichtung und das wiederum zu einem zunehmenden Repräsentationsbedürfnis einer aufstrebenden Elite. Es gab neue Millionäre und Milliardäre an neuen Orten. Kurz: Neues Geld brauchte neue Kunst.

Flipping the Work

Angeblich machen Menschen mit Jahrgängen ab 1980 heute fast die Hälfte der Käufer auf dem globalen Kunstmarkt aus. Dass sie allerdings alle Sammler sind, ist zu bezweifeln. Durchschnittlich befinden sich Kunstwerke vier Jahre im Besitz der gleichen Person. Zwischengelagert werden sie in ­eigens darauf spezialisierten steuerfreien Depots wie dem Zollfreilager in Genf, das ein eigentliches Museum im Verborgenen ist (siehe den Beitrag über das Zoll­freilager Genf). Zeitweilig sollen sich dort 300 Picassos befunden haben. Der Ports Francs de Genève war das Basislager des Schweizer Kunsthändlers Yves Bouvier. Der schillernde Galerist ist seit 2015 in eine grosse Betrugsaffäre verwickelt, die laufend mit neuen Verstrickungen für Schlagzeilen sorgt.

Kunst ist keine Anlage mehr,  sondern eine Wette. Von einem zeitgenössischen Werk lässt sich nicht sagen, wie viel es wert ist – und sein wird.


Das sehr kurzzeitige Halten von Kunst, das «Flipping», ist eine beliebte Spekulationsmethode, zumal die Rechte an einzelnen Werken nicht selten auf verschiedene Besitzer aufgeteilt werden, die ihre Anteile unabhängig voneinander weitergeben. Parallel zur Verjüngung der Kundschaft liess sich auch eine globale Angleichung der Geschmäcker beobachten. Heute unterscheiden sich die Teilmärkte in den USA, Europa, China, im Nahen Osten und neuerdings auch in Südamerika nur noch in regionalen Nuancen voneinander. Das beste Beispiel ist die Art Basel, die längst auch in Miami und Hongkong stattfindet. Dominiert wird der Markt nach wie vor von sogenannt westlichen Künstlern, doch weil sich deren Biografien unterdessen ebenso globalisiert haben, werden sie nicht mehr primär als einem einzigen Kulturkreis zugehörig wahrgenommen. Einer der Aufsteiger der Art Basel Miami Beach 2019 war Amoako Boafo. Er stammt aus Ghana, studierte und arbeitet aber in Wien. Die in Äthiopien geborene Malerin Julie Mehretu, deren Bilder Millionenbeträge erzielen, kam mit sieben als Flüchtling in die USA.
Wichtig für das Anschwellen des Kunstmarktes ist überdies die Angleichung von Galerien und Auktionshäusern. Grosse Auktionshäuser sind finanzstarke Unternehmen mit globalem Publikum und Langzeitstrategien, die von ökonomischen Skaleneffekten profitieren. Doch ihnen fehlt der direkte Zugang zu den Orten, wo Kunst entsteht: zu den Ateliers und informellen Kunsträumen. Diesen haben die Galerien, deren Wirkungskreis durch personelle und finanzielle Limiten umgekehrt aber begrenzt ist. Nach dem Verkauf von Sotheby’s an den in Zermatt domizilierten israelisch-französischen Telekom-Milliardär Patrick Drahi zeichnet sich zudem eine Digitalisierung des Geschäfts und eine Verlagerung des Marktes hin zu Luxusgütern ab. Damit würden Kunsthandelshäuser wieder zu dem, was sie im 19. Jahrhundert bereits einmal waren, als Kunst zusammen mit Kuriosa aus aller Welt und edlen Einrichtungsgegenständen verkauft wurde.

Das Geld will wetten

Entscheidend aber war womöglich etwas, das lange als undenkbar galt: Zeitgenössische Kunst wurde populär und teuer. Ende der 1980er-Jahre machte die Gegenwartskunst ein Prozent der Auktionsverkäufe aus. Alte Meister und Nachkriegskunst waren für je etwa zehn Prozent der Verkäufe verantwortlich, Impressionisten und Moderne für fast 80 Prozent. Das änderte sich in der Folge. Ein Meilenstein wurde 2005 erreicht, als die Gesamtzuschläge für Werke der Gegenwartskunst erstmals diejenige für klassische Moderne und Impressionismus überstiegen. Das bedeutete definitiv, dass Kunst keine Anlage mehr war, sondern eine Wette. Alte Meister oder Klassiker strahlen eine gewisse Wertstabilität aus. Von einem zeitgenössischen Werk lässt sich hingegen nicht sagen, wie viel es wert ist – und sein wird.
Fehlen dem Geld erstens Geduld und zweitens An­lagemöglichkeiten in der Realwirtschaft, beginnen die Wetten. Wo viel Geld ist, ist die Spekulation nicht weit. Deshalb fliesst das Geld in die Kunst: Damit es sich vermehrt. So gibt es zwei Erklärungswege für die enormen Preise. Der eine ist rational: Die Kunst ist ein Markt wie jeder andere, mit derzeit guten Renditen. Der andere ist irrational: Kunst gibt dem Geld, was es selber nicht hat, Wert. 150 Dollar bekam John Haberle für sein Bild «Imitation». Darauf abgebildet: ein Dollar, fünfzig Cents, täuschend echt.
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