Der Mensch in der Maschine

Als Durchschnittsmensch hätte man nicht Platz gehabt in Wolfgang von Kempelens berühmter Trickkiste. Der Schachtürke, ein voluminöser Holztisch mit Schachbrett und mechanisch betriebener Puppe – als Orientale ausstaffiert – war die grosse Attraktion in Bürger- wie Königshäusern im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert: ein Automat, der die jeweils besten lokalen Schachspieler schlug, wo auch immer er vorbeikam. Magie? Unbegreifliche Meisterleistung der Uhrmacherkunst? Nichts dergleichen, das war dem Publikum eigentlich klar – irgendwo musste in der Mechanik ein Mensch drinstecken. Aber wo? Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Rätsel gelüftet: Ein kleinwüchsiger Schachprofi verbarg sich auf so raffinierte Art in der Kiste unter dem Schachbrett, dass man wirklich den Eindruck haben musste, die Schachfiguren würden nur durch Zahnräder und Gestänge bewegt.

Der Schachtürke ist mehr als eine amüsante Episode aus der Geschichte der Mensch-/Maschinen-Beziehung, er ist genau genommen aktueller denn je: Heute schlüpfen tagtäglich Millionen von (Durchschnitts)Menschen in die Maschine und werden zu «Turkers». Mikrojob-Plattformen sind die radikalste Variante der Gig-Economy: Microworkers heisst eine, Appen eine andere, die berühmteste eben: Amazon Mechanical Turk.

Arbeit gesucht? Nichts einfacher als das: Profil erstellen, Rechnungsmodalitäten erledigen, schon poppt eine Übersichtsseite mit Mini-Jobangeboten auf, die in der Regel weit weniger anspruchsvoll sind, als ein Schachspiel zu gewinnen. Die Auswahl ist im Prinzip riesig, doch wird sie länderspezifisch limitiert (aus juristischen Gründen), für die Schweiz ist das Angebot derzeit noch überschaubar. Auf Microworkers zum Beispiel drehen sich beliebte Aufgaben oft darum, durch stupide Click-Arbeit Algorithmen zu beeinflussen. So zahlt einem Mike Baur, ein Ex-Banker und «feste Grössen in der Schweizer Start-up-Szene» («Handelszeitung») 10 Rappen, wenn man einen Artikel der «Unternehmer Zeitung» googelt, in dem er vorkommt, bis zum Schluss des Textes scrollt und mindestens zwei Minuten auf der Seite bleibt. Man macht ihm den Gefallen dann umsonst, einfach aus Neugier. Das Dokumentieren der erfüllten Pflicht nähme ohnehin mehr Zeit in Anspruch als die Aufgabe selbst.

Bei der mit Abstand berühmtesten Mikrojob-Plattform kann man sich leider gar nicht erst registrieren, wenn man aus der Schweiz kommt. Man bleibt ein ums andere Mal im Verfahren hängen und bekommt immer dieselbe geheimniskrämerische Absage per Mail («We have completed our review of your Amazon Mechanical Turk Worker Account and you will not be permitted to work on Mechanical Turk at this time. Please note that Customer Support is unable to change this decision and cannot share insight into invitation criteria.»). Schade, man hätte sich sehr gern auf dem Arbeitsmarktplatz von Amazon umgeschaut, nur schon deshalb, weil Amazon Mechanical Turk diesbezüglich die beste Geschichte erzählt. Turk? Genau, der «Schachtürke». Wolfgang von Kempelens Automat war in der englischsprachigen Welt tatsächlich als «Mechanical Turk» bekannt. Und als Amazon nach einem Namen für einen Marktplatz suchte, auf dem Menschen Arbeiten verrichten, an dessen Oberfläche aber nur ein maschinelles Interface sichtbar ist, kam den Marketingverantwortlichen offenbar die alte Geschichte in den Sinn. Man kann das zynisch finden: Als Mikroworker hat man mit den Auftraggebern persönlich nie zu tun, man kann weder Rücksprache nehmen noch die Bedingungen ändern – man wird zum bedeutungslosen Rädchen im mechanisch gedachten Innenleben. Und entsprechend auch meistens lausigst bezahlt: Die Mehrzahl der Mikrojobs wird in klassischer Akkord-Manier pro erledigte Aufgabe bezahlt, Cent-Beträge sind eher die Norm als die Ausnahme.

Gerade in den letzten Jahren haben die Mikrojob-Plattformen eine Entwicklung durchgemacht, die den Namen «Mechanical Turk» andererseits sehr passend werden lässt – auch wenn das die Amazon-Verantwortlichen bei der Gründung 2005 wohl noch nicht voraussehen konnten. Denn neben den stupiden Mikrojobs, die der Suchmaschinen-Optimierung dienen oder jemanden auf den sozialen Medien «boosten» sollen, gibt es auf Amazon Turk auch jede Menge Aufgaben, die eng mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz (KI) zur zentralen Technologie der Digitalwelt verknüpft sind. Nur die wenigsten Künstlichen Intelligenzen lernen selbständig, im sogenannten Trainingsprozess braucht es oft eine ganze Menge menschlicher Unterstützung. Auch viele andere Mikrojob-Plattformen leben davon, dass KI immer noch zu einem guten Teil auf menschliche Intelligenz angewiesen ist. Appen hat sich sogar auf Trainingsdaten für KIs spezialisiert: In den von der Appen-Crowd erstellten Datenbanken und der mit diesen Daten trainierten KIs steckt letztlich die Arbeit von über einer Millionen Menschen aus über 170 Ländern («over 1 million skilled contractors who speak over 235 languages, in over 70,000 locations and 170 countries»). Man könnte auch sagen: Die Trickkiste der zeitgenössischen KI ist ziemlich gross, darin haben so einige Menschen Platz.

Die Aufgaben, die sie dabei erfüllen, variieren: Von Bild-Etikettierung bis zu komplizierteren Sprachaufgaben oder Bildbearbeitungen. Nicht selten setzen diese spezifischen Aufgaben einiges an Fachkenntnis voraus. Wer sich ein wenig mit KI auskennt, merkt beim Durchscrollen der Mikrojobs rasch, dass es dabei oft um Supervised Learning geht, um «überwachtes Lernen» also. Um die KI besser zu machen, ist im Lernfortschritt viel menschliche Hilfe vonnöten, der Algorithmus muss geduldig angeleitet werden, bis er – bestenfalls – autonom eine Aufgabe erfüllen kann. Das gilt nicht für alle KI-Bereiche, aber gerade in der Bilderkennung ist Supervised Learning die Norm. Wie lernt die Maschine, einen Hund von einer Katze zu unterscheiden? Indem sie viele tausend Bilder analysiert, auf dem ein Hund vorkommt, oder eine Katze. Diese Bilder wurden im Vorfeld alle von Menschen «gelabelt»; zu sehen: Katze, Stuhl, Fenster.

Noch eine seltsame Geschichte am Rande: Wir kennen alle solche Mikrojobs; wir erledigen sie immer dann, wenn wir ein Captcha – einen vollautomatischen Test zur Unterscheidung von Menschen und Computern – lösen und damit der Maschine beweisen, dass wir kein Bot (Roboterprogramm) sind, sondern tatsächlich ein menschlicher Nutzer. Zu Beginn waren Captchas noch unsinnige Aufgaben, die für Bots unlösbar waren. Inzwischen hat die längst von Google übernommene Firma einen cleveren Weg gefunden, wie wir den Maschinen sogar gratis dabei helfen, undeutliche Wörter zu entziffern oder sich im Strassenverkehr zurechtzufinden.

Mitunter ist die Hilfe der Menschen für die KIs auch so plump, dass man in Fachkreisen schon von «Pseudo-KI» spricht. Hier bauen Firmen ihr ganzes Businessmodell darauf auf, eine grandiose KI zu präsentieren, die aber nicht so schlau ist, wie sie tut – beziehungsweise ihre Aufgaben nur so souverän erledigen kann, weil sie immer wieder von Menschen unterstützt wird. Da das auf der Oberfläche sichtbare Resultat aber souverän wirkt, fliessen die Investitionen trotzdem – und die menschliche Intelligenz verschwindet mindestens ebenso elegant wie im «Schachtürken».

Bei allen anderen Mikrojobs ist das Resultat fast noch brutaler: Letztlich arbeiten alle, die auf diesen Plattformen KIs trainieren, an der Abschaffung ihrer selbst. Denn irgendwann – so jedenfalls das Versprechen der KI-Revolution – werden die Maschinen all die stupiden Mikrojobs tatsächlich selber erledigen können. Auch von Uber hat man schon ähnliche Zukunftsversprechen gehört: Bald einmal sollen die Taxis autonom fahren. All die menschlichen Fahrerinnen und Fahrer, die Uber-Autos – deren Daten laufend erfasst werden – durch den Verkehr navigieren, wären dann nichts weiter gewesen als KI-Trainierinnen und -Trainer: schlecht bezahlte Übergangslösungen.