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14.09.2022 von Katharina Wehrli

«Kapitalismus stellt kein Gleichgewicht her»

Tim Jackson schrieb 2009 für die britische Regierung den Bericht «Wohlstand ohne Wachstum» über die Grundlagen einer künftigen Wirtschaft, welche die ökologischen Grenzen respektiert. Das Buch fand international grosse Beachtung und gilt heute als Standardwerk der Postwachstumsökonomie. In seinem neusten Buch «Wie wollen wir leben?» betrachtet Tim Jackson Postwachstumsthemen aus einer philosophischen Perspektive.

Artikel in Thema Abschied vom Wachstum
Illustration: Claudine Etter

moneta: Tim Jackson, die englische Ausgabe Ihres neuen Buchs trägt den Untertitel «Life after Capitalism». Nähert sich der Kapitalismus seinem Ende?

Tim Jackson: Nein, er ist nach wie vor sehr einflussreich. Er strukturiert fast alle unsere wirtschaftlichen Institutionen und zu einem gewissen Grad auch, wie wir über die Gesellschaft nachdenken. In seiner aktuellen Form ist Kapitalismus allerdings in vielerlei Hinsicht dysfunktional. Mit dem Untertitel wollte ich darauf hinweisen, dass er wie jedes System der sozialen Organisation endlich ist, ein vorübergehendes, historisches Phänomen, über das wir eines Tages hinausgehen werden. Ich wollte uns die Freiheit geben, darüber nachzudenken, wie dies geschehen könnte.

 

Sie argumentieren, ein zukunftsfähiges Wirtschaftssystem sei nur möglich, wenn wir uns vom Wachstumsparadigma befreien. Warum ist Wirtschaftswachstum überhaupt so wichtig?

Zunächst aus ziemlich offensichtlichen Gründen: Als wir noch nicht genug Lebensmittel hatten, um die Menschen zu ernähren, nicht genügend gute Häuser, in denen sie wohnen konnten, war Wachstum zentral, um materielle Ziele zu erreichen, welche die Lebensqualität verbesserten. Das ist es in den ärmsten Ländern der Welt immer noch. Wenn Länder ein Einkommenswachstum von praktisch Null auf 20'000 Dollar pro Kopf und Jahr erreichen, sieht man grosse Verbesserungen in der Lebensqualität der Menschen. Die Lebenserwartung verdoppelt sich fast, die Kinder- und Müttersterblichkeit sinkt stark und der Zugang zu Bildung nimmt zu; auch viele weitere Indikatoren von Gesundheit und Wohlergehen verbessern sich markant. Wenn eine Volkswirtschaft aber über diesen Punkt hinaus weiterwächst, steigen die negativen Auswirkungen auf die Umwelt weiterhin stark an, aber die positive Wirkung auf die Menschen verlangsamt sich, beispielsweise nehmen die Lebenserwartung und die Lebenszufriedenheit kaum mehr zu.

 

Warum wachsen Volkswirtschaften trotzdem weiter?

Zum Teil aus kulturellen Gründen: Wir glauben an Wachstum, wir betrachten es fast schon als Religion, als Mantra für gesellschaftlichen Erfolg. Und unsere Wirtschaft wurde auf Annahmen rund um Wachstum aufgebaut, was uns als Gesellschaften wachstumsabhängig macht.

 

Wie entsteht diese Abhängigkeit?

Durch zwei Kräfte, die dem Konsumkapitalismus zugrunde liegen: Einerseits befinden sich Unternehmen in einem unerbittlichen Innovationsprozess – was Joseph Schumpeter «schöpferische Zerstörung» nannte – und bringen ständig neue, billigere Produkte auf den Markt, in einem nicht enden wollenden Wettbewerb um Profit. Andererseits lieben wir Menschen neue Dinge. Neues signalisiert uns soziale Bedeutung, Status, Leistung und ein Gefühl des Fortschritts.  

Diese Faktoren bilden zusammen einen mächtigen Mix. Er hält uns davon ab, uns ernsthaft mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, die nicht auf Wachstum ausgerichtet ist. Mit den Büchern «Wohlstand ohne Wachstum» und «Wie wollen wir leben?» habe ich versucht, uns von der Wachstumsabhängigkeit zu befreien und die Grundlagen der Wirtschaft anders zu denken.

 

Was könnte Wohlstand in einer Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum bedeuten?

Zu Beginn unserer Forschungsarbeit zur Postwachstumsgesellschaft befragten wir viele Leute: «Was bedeutet Wohlstand für Sie?» Oft antworteten sie als Erstes: «Gesundheit, Familie, Freundschaft, Gemeinschaft, ein sinnvolles Leben …» Diese Dinge gehen weit über monetäre Aspekte hinaus. Damit will ich nicht sagen, dass Reichtum und ökonomische Sicherheit den Menschen nicht wichtig sind, aber es sind nicht diese Dinge, die Menschen als Erstes nennen, wenn sie sagen müssen, ob es in ihrem Leben gut läuft oder nicht. Daran können wir uns orientieren bei der Frage, wie wir in Zukunft Wohlstand erreichen können.

 

Eine wichtige Bedeutung hat dabei die Gesundheit, die Sie in einem umfassenden Sinn als ein körperliches und seelisches Gleichgewicht definieren. Können Sie das näher erläutern?

Ich begann «Wie wollen wir leben?» am Anfang der Pandemie zu schreiben. Da war die Bedeutung der Gesundheit für das Wohlergehen der Menschen sehr, sehr offensichtlich. Und dieser Vergleich von Wohlstand als Gesundheit gegenüber Wohlstand als materiellem Reichtum bringt einem zur Erkenntnis, dass die Gesellschaft statt Wachstum eher ein Gleichgewicht anstreben sollte. Wir sind aus dem Gleichgewicht geraten. Statistiken der Weltgesundheitsorganisation zeigen, dass heute mehr Menschen an Zivilisationskrankheiten sterben als an Unterernährung. Das ist eine ausserordentliche Widerspiegelung der Tatsache, dass Kapitalismus kein Gleichgewicht herstellt.

Kapitalismus insistiert darauf, dass mehr immer besser ist. Unsere grundlegenden körperlichen Funktionen und unsere Gesundheit sind einer ständigen Bewährungsprobe ausgesetzt, denn wir leben in einem System, das uns dauernd zu mehr drängt. Kapitalismus weiss nicht, wo der Punkt des Gleichgewichts ist, er sucht ihn nicht, und wenn er ihn erreicht hat, weiss er nicht, wie aufhören. Ein Verständnis von Wohlstand als umfassende Gesundheit – als Gleichgewicht im menschlichen Körper, in der Gesellschaft und zwischen Gesellschaft und Umwelt – ist eine Metapher, um anders über Wohlstand nachzudenken. Sie steht in der philosophischen Tradition des Nachdenkens über das gute Leben. Aristoteles sprach vom guten Leben im Sinne einer Virtuosität, die in allem das richtige Mass sucht.

 

Und wie wird ein gutes Leben in diesem Sinn möglich?

Die Gesellschaft sollte allen Menschen Verwirklichungschancen bieten. Diese Idee stammt vom indischen Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen. Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, reiche, erfüllte, sinnvolle Leben zu leben. Das ist etwas ganz anderes als die Vorstellung einer Wirtschaft, die uns einfach die Produktion und den Konsum von immer mehr Dingen bietet. Auf dieser Grundlage kann man anfangen, neu über wirtschaftliche Einrichtungen, über die Prozesse von Produktion und Konsum nachzudenken.

 

Wie müsste unsere Wirtschaft umstrukturiert werden?

Wir haben ein Wirtschaftssystem geerbt mit einigen Grundbausteinen wie Unternehmen, Arbeit, Investitionen oder dem Geldsystem. Im Kapitalismus wurden zahlreiche Voraussetzungen geschaffen, damit diese Bausteine auf Gewinnmaximierung zugeschnitten sind. Sobald man diese Voraussetzungen beiseiteschiebt, kann man die Grundbausteine neu betrachten. Auf diese Weise habe ich in «Wohlstand ohne Wachstum» damit begonnen, die Grundbausteine der Wirtschaft neu zu konzipieren und zu entscheiden, welche wir behalten sollten und welche nicht.

 

Wie sehen Sie beispielsweise die Rolle von Unternehmen?

Das heute vorherrschende Konzept taugt nichts: Die Idee, Gewinne zu maximieren, indem man Rohstoffe ausbuddelt, sie in Produkte verwandelt, so schnell wie möglich verkauft und hofft, dass die Leute sie bald wieder wegwerfen … Aber es gibt ein Unternehmenskonzept, das zukunftstauglich ist, nämlich die Idee, dass es bei Unternehmen im Wesentlichen um Dienstleistungen geht, um eine Gruppe von Menschen, die mit ihren Aktivitäten einer anderen Gruppe einen Dienst erweist.

Dienstleistungsbasierte Tätigkeiten haben gegenüber der Wegwerfgesellschaft mehrere Vorteile. Zunächst einmal sind es die Dienstleistungen, die letztlich unser Wohlbefinden schützen und erhalten. Wohlstand hat in erster Linie mit Gesundheit, Bildung, sozialer Betreuung, Beziehungen, Erholung und Kultur zu tun. Die Verbesserung unserer Lebensqualität auf eine weniger materialistische Weise bildet die Grundlage für eine Postwachstumsökonomie. Gleichzeitig sind diese Aktivitäten weniger ressourcen- und kohlenstoffintensiv, als die materiellen Lieferketten, die uns endlos mit Wegwerfgütern versorgen. Und schliesslich sind diese Arten von Dienstleistungen arbeitsintensiv. Wir brauchen Pflegefachleute, Ärztinnen, Lehrer, Handwerkerinnen und Künstler, um weiterhin Pflege, Bildung, Handwerk und Kreativität anbieten zu können. Die Logik der Dienstleistungswirtschaft unterscheidet sich stark von der Logik der Massenproduktion und des Konsums.

 

Es geht also um eine Verschiebung von produkteorientierten Unternehmen, die viele Ressourcen verbrauchen, hin zu dienstleistungsorientierten Unternehmen, die per se weniger natürliche Ressourcen benötigen?

Genau. Aber wir müssen auch über die Grenzen des Systems nachdenken, das wir Wirtschaft nennen. Viele Dienstleitungen werden ausserhalb der Wirtschaft erbracht, unbezahlt, oft von Frauen, von der Gesellschaft nicht anerkannt. Es geht auch darum, die Menschen zu unterstützen, die Dienstleistungen ausserhalb von Unternehmen erbringen.

 

Welche Rolle spielt der Staat bei der Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft?

Eine wichtige. Damit meine ich nicht, dass wir mehr Staat oder einen grösseren Staat haben sollten, sondern einen progressiven, reaktionsfähigen. Er sollte die Voraussetzungen schaffen, damit Wandel auf verschiedenen Ebenen geschehen kann: in Unternehmen, Gemeinden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, auf individueller Ebene.

 

Damit der Staat die Transformation hin zu einer Postwachstumsgesellschaft fördern kann, braucht er die Unterstützung der Bevölkerung. Aber will eine Mehrheit der Menschen diesen Wandel überhaupt, der für viele ein Leben mit weniger Konsum bedeuten würde?

Bei dieser Frage muss man immer berücksichtigen, dass wir in Infrastrukturen leben, die solche Veränderungen fast unmöglich machen. Nehmen wir nochmals das Thema Gesundheit, das essentiell für unser Wohlbefinden ist: Wenn ich meine Gesundheit ernst nehme, gehe ich möglichst oft zu Fuss. Ich gehe zu Fuss einkaufen, begleite meine Kinder zur Schule und ermuntere sie, ebenfalls zu Fuss zu gehen. Aber in einer Umgebung, die von Strassen und Autos dominiert ist und alle anderen Kinder in SUVs zur Schule gefahren werden, kann ich das nicht tun, ohne meine Kinder zu gefährden. Und so finde ich mich als eine Art Zweit-Klass-Bürger wieder, nur weil ich versuche, das Richtige zu tun. Darum denke ich, dass die Transformation mit der Schaffung von lebenswerten Infrastrukturen beginnen muss. Mit lebenswerten Gemeinden, in denen es den Menschen möglich ist, gut zu leben.

 

Ist das wichtiger als Appelle an Verhaltungsänderungen?

Wenn eine Regierung den Leuten predigt, sie sollen aufhören, Auto zu fahren, ist sie moralisch in einer schwierigen Position. Dann haben wir eine Gruppe von Menschen, welche die Macht hat, zu reisen, wann und wohin sie will, und die dem Rest des Landes sagt: Ihr dürft das nicht mehr tun. Aber wenn der Staat die Gemeinden so einrichtet, dass die Menschen ihre Leben auf gute, gesunde und umweltschonende Art führen können, dann beginnt er, diesen Wandel zu schaffen.

 

Ist unsere Politik dieser Aufgabe gewachsen?

Ich denke, in der Schweiz ist sie dieser Aufgabe wohl eher gewachsen als in Grossbritannien und in vielen anderen europäischen Ländern, weil die Idee der dezentralen Verwaltung von Gemeinden in der Schweiz viel mächtiger ist als anderswo. Je mehr man aber über die Frage nach der politischen Architektur des Wandels nachdenkt, desto problematischer wird die Dysfunktionalität des bestehenden politischen Systems, besonders auch in den westlichen Demokratien.

 

Was lässt sich dagegen tun?

In «Wie wollen wir leben?» gehe ich zurück zu den Wurzeln der Demokratie, zu Menschen, die definiert haben, wie sie aussehen sollte. Interessanterweise gehörten zum Konzept der Demokratie von Anfang an die Idee des zivilen Ungehorsams und die Idee von etwas Unfertigem: Wenn eine Demokratie einen Punkt erreicht, wo sie den Interessen der Menschen nicht mehr dient, ist es legitim, auf eine Art zu handeln, die wie ziviler Ungehorsam aussieht. Demokratische Repräsentation sollte sich immer die Interessen der Schwächsten zu Herzen nehmen und jene zuerst schützen, die leiden. Unsere Institutionen haben diesbezüglich einiges erreicht, aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass unsere Demokratien an dem Punkt sind, an dem sie sein sollten. Demokratie bleibt immer etwas Unvollendetes. Wir sollten für ihre Weiterentwicklung kämpfen.

Tim Jackson ist Ökonom und Autor. Seit drei Jahrzehnten erforscht er wirtschaftliche, soziale und moralische Dimensionen von Wohlstand auf einem endlichen Planeten. Er ist Direktor des Centre for Understanding of Sustainable Prosperity an der University of Surrey (UK). Zudem ist Jackson preisgekrönter Dramatiker und Verfasser von zahlreichen Radiobeiträgen für die BBC.

Literatur

Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft, oekom verlag, München 2017.

Tim Jackson: Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn, oekom verlag, München 2021.

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