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14.09.2022 von Esther Banz

Politische Strategien gegen die planetare Zerstörung

Wachstum steht für Wohlstand. Aber auch für die Zerstörung des Planeten, wie wir ihn kennen. Rot und Grün sind sich deshalb einig: Es braucht eine Politik, die Wohlstand von Wachstum entkoppelt und zugleich sozial nachhaltig ist. Das ist aber gar nicht so einfach.

Artikel in Thema Abschied vom Wachstum
Illustration: Claudine Etter

Vor den Sommerferien mehrten sich die Meldungen über die zunehmende Inflation. Wegen des Krieges gehen die Preise für Energie in die Höhe und nächstes Jahr steigen zudem die Krankenkassenprämien. In Bundesbern äusserten die Linken Sorgen um Menschen mit tiefen Einkommen. Am letzten Sommersessionstag konnte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer einen Erfolg verkünden: Zusammen mit der bürgerlichen Mitte beschloss man eine ausserordentliche Session im Herbst zur Sicherung der Kaufkraft. Das ist pragmatische linke Politik und sicher sinnvoller als der Vorschlag der SVP, das Benzin zu verbilligen. Nur: Ist «Kaufkraft sichern» noch die richtige Zieldefinition für eine links-grüne Politik? Und etwas grundsätzlicher: Welche Strategien haben die links-grünen Parteien in einer von Bürgerlichen dominierten nationalen Politik eigentlich, um Wirtschaft und Gesellschaft umwelt- und zugleich sozialverträglich umzubauen – angesichts der rasant akuter werdenden Klimakrise und des schnell voranschreitenden Artensterbens?

 

Planetare Grenzen nicht mehr überschreiten

 

Im Frühjahr 2021 reichte Valentine Python eine parlamentarische Initiative ein: Die grüne Nationalrätin möchte das wissenschaftliche Konzept der planetaren Belastungsgrenzen in der Bundesverfassung und im Umweltschutzgesetz verankern. Konkret geht es um die in ihrem Gleichgewicht bedrohten Böden, Wälder und Ozeane, um die Ozonschicht, die Luft, das Süsswasser und die Biodiversität. Die Initiative hält fest, dass die Menschen mit Düngemitteln, Industrie, Konsum, Abholzung, einer immer stärkeren Landnutzung und der Verbrennung fossiler Energien einen ökologischen Notstand produziert haben, der weit über den Klimanotstand hinausreicht; das weltweite Artensterben ist eine der dramatischsten Folgen dieser Übernutzung unserer Ökosysteme. Findet Pythons Initiative im Parlament eine Mehrheit, muss die Schweiz eine gesetzliche Grundlage erarbeiten, damit sich die Gesellschaft sicher und gerecht innerhalb der ökologischen Grenzen entwickeln kann.

 

Dieses Ansinnen verfolgt auch die Umweltverantwortungsinitiative der Jungen Grünen. Warum die Transformation hin zu Wachstumsunabhängigkeit den Menschen eine bessere Lebensqualität bescheren wird, erläutert Co-Präsidentin Julia Küng im Interview unter dem Hauptartikel.

 

Es braucht neue wirtschaftspolitische Ansätze

 

In der vergangenen Sommersession reichten die Grünen im Nationalrat ausserdem vier weitere (post)wachstumsrelevante Vorstösse ein, etwa die Interpellation «Switzerland beyond Growth» der St. Galler Nationalrätin Franziska Ryser. Darin schreibt sie unter anderem, dass Wirtschafswachstum Erwartungen wie zunehmende soziale Wohlfahrt, Lebensqualität oder Vollbeschäftigung immer weniger erfülle; Indikatoren zeigten sogar, dass in reichen Ländern wie der Schweiz mit Wachstum die Lebensqualität inzwischen zurückgeht. Der Grund dafür ist laut Raphael Noser, Grünen-Fachsekretär für Wirtschafts- und Sozialpolitik, dass heute ein Grossteil des Produktivitätswachstums an die Kapitalbesitzerinnen und -besitzer und das Top-Management grosser Konzerne fliesst, anstatt in Arbeitszeitreduktion oder eine Anhebung der Löhne bei den unteren und mittleren Einkommensschichten. Wirtschaftswachstum erhöht damit nicht mehr den Lebensstandard für alle, wie es das bis in die 1990er-Jahre zumindest in den Ländern des globalen Nordens getan hat, sondern öffnet die Schere zwischen Arm und Reich.

 

Franziska Ryser erwähnt in ihrer Interpellation zudem, dass die Wachstumsraten seit Jahrzehnten am Sinken sind – was Politik und Wirtschaft zunehmend beunruhigt, weil verschiedenartige Abhängigkeiten vom Wirtschaftswachstum bestehen. Entsprechend fordert die grüne Nationalrätin vom Bundesrat zu klären, wie die Schweiz mit abnehmenden oder gar negativen Wachstumsraten umgehen und wachstumsunabhängig werden kann.

 

Zeit statt Geld?

Auch der grüne Solothurner Nationalrat Felix Wettstein fordert den Bundesrat dazu auf, sich mit alternativen wirtschaftspolitischen Strategien zu beschäftigen. In seinem Postulat beauftragt er die Landesregierung zu klären, wie das Bruttoinlandprodukt (BIP) abgelöst werden kann durch ein Indikatorensystem, das Wohlstand in einem umfassenden Sinn misst und die planetaren Belastungsgrenzen berücksichtigt. Und Grünen-Parteipräsident Balthasar Glättli reichte in der vergangenen Sommersession ein Postulat ein, in dem er fragt: «Unter welchen Bedingungen kann Arbeitszeitreduktion einen Beitrag zu mehr Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit leisten?» Dahinter steht die Erkenntnis, dass eine allgemeine Reduktion der Arbeitszeit ein wichtiges Element für eine Transformation sein kann, die sich vom Wachstumsdogma verabschiedet und Wohlstand nicht nur monetär misst. «Zeitwohlstand» könnte gemäss Glättli zu einem künftigen Schlüsselbegriff werden.

 

Sozialwerke brauchten bisher Wirtschaftswachstum

 

Mit dem Thema Arbeitszeit dringen die Grünen in eine Domäne der SP vor. Aber für die SP ist es schwierig, Visionen einer Wirtschaft ohne Wachstum zu formulieren, denn im bisherigen System gab es nur in einer wachsenden Wirtschaft genügend Arbeit für alle. Kommt dazu, dass die Sozialwerke stark durch Beiträge aus Erwerbsarbeit finanziert werden. Weniger oder gar kein Wachstum ist für die Sicherung der Sozialwerke nach bisheriger Logik also schädlich. Allerdings ist das Wachstum in den vergangenen Jahren wie oben erwähnt ohnehin ins Stocken geraten. Damit sind alle Parteien, auch jene, die das Wachstum bisher nicht hinterfragten, genötigt, neue Fragen zu stellen. Die Ökonomin Irmi Seidl, die sich seit Jahren mit Postwachstum beschäftigt, fragt zum Beispiel: «Was macht die Politik, wenn die Wirtschaft ohnehin kaum noch oder gar nicht mehr wächst? Ist sie dafür gerüstet?» (siehe das Interview mit Irmi Seidl).

 

Für die SP sind diese Fragen auch gesellschaftspolitisch höchst dringlich. Sie versteht sich als progressive Partei, welche die Leute aus ihren Zwängen befreien will. So sagt Co-Generalsekretärin Rebekka Wyler: «Die SP wird Postwachstums-Strategien immer auch feministisch beurteilen. Denn gerade für die Frauen hat der technische Fortschritt zu einer Entlastung und damit zu mehr Gerechtigkeit geführt.»

 

Mehr Austausch zwischen Politik und Wissenschaft

 

Für die SP-Co-Generalsekretärin lautet die eigentlich relevante Frage: «Wie können wir die soziale Gerechtigkeit sichern und gesellschaftlichen Fortschritt erlangen, während wir gleichzeitig der Knappheit der Ressourcen vollumfänglich Rechnung tragen?» Noch fehlt es der Partei an Vorstellungen davon, wie Postwachstum ohne Rückschritte funktionieren kann. Und auch an Begrifflichkeiten und konzeptuellen Vorstellungen, um überhaupt in den Wachstumsdiskurs eintreten zu können, so Wyler: «Beim Klimawandel ist das Ziel die Dekarbonisierung, weil das die absolut dringlichste Massnahme ist. Da sind die Vorschläge und Forderungen viel konkreter als beim Postwachstum, wo das Ziel ja nicht eine Nullpolitik sein kann, sondern eine Verlagerung zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen.»

 

Nun macht die SP aber vorwärts und verstärkt auch den Austausch mit der Wissenschaft. Im September (nach Redaktionsschluss dieser moneta) lud die Partei zu einem Webinar zum Thema «Grenzen des Wachstums» ein. Man ging der Frage nach, wie eine weniger an klassischem Wirtschaftswachstum und stärker an Suffizienz orientierte sozialdemokratische Wirtschaftspolitik aussehen könnte. Und was diese für traditionell linke Themen wie soziale Sicherheit, Verteilungsgerechtigkeit, die Förderung von Genossenschaften oder die Demokratisierung der Wirtschaft bedeuten könnte. Irmi Seidl war Hauptreferentin. Ob die Kaufkraft Thema war, wissen wir nicht, aber eine Haltung dazu hat die Ökonomin durchaus. Sie sagt: «In unserer Gesellschaft fehlt bisher eine Diskussion darüber, wie viele Prozent der Bevölkerung bei Inflation Unterstützung brauchen und wie viele einen Lohnausgleich bei Arbeitszeitreduktion. Sind es 20 bis 30 Prozent oder mehr? Andernfalls werden Menschen abgehängt, soziale Unterschiede und Spannungen steigen; dies erschwert auch eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft.»

 

PS: Weitere Volksinitiativen, die bei Annahme umlagernde Wirkung auf das Wachstum hätten, sind: Die Klimafonds-Initiative von SP und Grünen und die Erbschaftssteuer-Initiative der Juso.

PPS: Auch die OECD beschäftigt sich seit geraumer Zeit differenziert mit Wachstum. Unter anderem publizierte ein interner Think-Tank 2020 einen Bericht mit dem Titel «Beyond Growth». Es ist ein Appell an Politikerinnen und Politiker, ihre bisherigen wirtschaftspolitischen Ansätze zu überdenken und ökologische Nachhaltigkeit, steigendes Wohlbefinden, abnehmende Ungleichheit sowie Systemresilienz stärker zu gewichten als Wachstum.



«Wir müssen das Wirtschaftssystem ganz neu denken»

Die Jungen Grünen verlangen mit ihrer Umweltverantwortungsinitiative eine planeten- und sozialverträgliche Wirtschaft. Co-Präsidentin Julia Küng erklärt warum.

Julia Küng, Co-Präsidentin der Jungen Grünen Schweiz, war bereits mit 17 Jahren politisch aktiv. Sie war Mitgründerin der Zuger Klima­streikbewegung, organisierte den landesweiten Frauenstreik mit und arbeitet bei der Konzernver­antwortungsinitiative. Ausserdem studiert die heute 21-Jährige Psycho­logie und Geschichte. 

moneta: Die Umweltverantwortungsinitiative will der Wirtschaft Schranken setzen. Ist sie im Kern eine Postwachstums-Initiative?

Julia Küng: Endlich merkt es jemand! (lacht) Wir sind überzeugt, dass der heutige Umgang mit dem Planeten kein langfristiger Weg sein kann. Das Dogma von immer mehr und immer schneller bedeutet einen stetig wachsenden Ressourcenverbrauch und für viele immer mehr Arbeit. Das bringt uns nicht in eine nachhaltige Zukunft.

 

Welche Wirtschaft braucht es?

Eine, die sich innerhalb dessen bewegt, was der Planet aushält. Und die sozialverträglich ist, bereits auf dem Weg dorthin.

 

Warum nennt ihr sie nicht «Postwachstums-Initiative»?

Wir wollen das Schonen der Ressourcen und die Rettung des Planeten ins Zentrum stellen. Postwachstum ist das, was unserer Meinung nach passieren muss, damit wir diese Ziele erreichen. Darüber wollen wir reden. Aber wir wollen keine Angst machen. Ich denke, dass gewisse Industrien wegfallen und andere Zweige wachsen werden. Wir fordern kein Wachstumsverbot, sondern ein Verbot, den Menschen und der Umwelt zu schaden.

 

Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, gibt es – im heutigen System – mehr Arbeitslose. Auch die Sozialwerke sind auf Wachstum angewiesen. 

Uns ist bewusst, dass die Abkehr vom jetzigen Wirtschaftssystem kein Spaziergang wird, auch wegen dieser Abhängigkeiten, die wir zuerst auflösen müssen. Wir müssen das Wirtschaftssystem ganz neu denken. Wegen der Klimakrise haben wir nicht mehr viel Zeit.

 

Was erwartet uns in einer wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Zukunft?

Zum Beispiel mehr Zeit für soziale Beziehungen. Und dass man diese Qualität auch wieder mehr zu schätzen weiss. Ausserdem werden Dienstleistungen, etwa in der Pflege, einen höheren Stellenwert erhalten – davon profitieren wiederum alle, spätestens im Alter.

 

Bisher wurden Postwachstums-Visionen gesamtgesellschaftlich kaum diskutiert.

Auch uns Grünen gelang es bis jetzt nicht, den Leuten zu sagen: Wir haben eine Krise, aber wenn wir’s jetzt anpacken, liegt darin auch eine Chance – für eine Zukunft mit weniger Stress und mehr Lebensqualität. Mit unserer Initiative wollen wir zum Nachdenken anregen und bewirken, dass die Regierung endlich eine gesamthafte Transition anstösst. 
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