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06.12.2021 von Muriel Raemy

Langwieriger Kampf für besseren Tierschutz

Das Tierwohl steht immer wieder im Mittelpunkt von Volksinitiativen, insbesondere in der Deutschschweiz. Hinter den Volksbegehren stehen einerseits Tierschutzorganisationen, andererseits Aktivistinnen und Aktivisten, die eine vegane Lebensweise für alle anstreben. Etwas haben beide Gruppen gemeinsam: Sie bringen die Rechte der Tiere in die politische Debatte ein.

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Illustration: Claudine Etter
Schockierende Bilder, die heimlich in Schlachthöfen aufgenommen wurden, Kunstblut neben dem Bundesplatz oder Picknicks vor Hühnermastanlagen: Einige Tierrechtsaktivistinnen und -aktivisten greifen mitunter zu drastischen Mitteln, um auf die Lebensbedingungen von Nutztieren aufmerksam zu machen. Weshalb ist das so? «Die Anerkennung von Tieren als fühlende und leidende Wesen ist noch immer ungenügend», so Isabelle Perler, Juristin bei Tier im Recht (TIR). Diese hauptsächlich in der Deutschschweiz aktive Stiftung kämpft seit 25 Jahren für eine Verbesserung der rechtlichen Stellung von Tieren.

Welche Rechte haben Tiere?

Das eidgenössische Tierschutzgesetz, das seit 1981 in Kraft ist und 2008 einer Gesamtrevision unterzogen wurde, hat gemäss Artikel 1 zum Zweck, «die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen». Das Gesetz gilt jedoch nur für einen Teil der Tierwelt: Wirbeltiere, Kopffüsser (die zu den Weichtieren gehören) und Panzerkrebse (die einen Teil der Krustentiere ausmachen). Der grössere Teil der Fauna ist davon ausgeschlossen, beispielsweise alle Insektenarten.

Auch wenn das Schweizerische Zivilgesetzbuch in Artikel 641a Absatz 1 festlegt, dass Tiere keine Sachen sind, so verfügen sie noch immer nicht über juristisch durchsetzbare Rechte. Tiere bleiben Dinge, über die man Besitz- und Eigentumsrechte haben kann. Diese rechtlichen Erwägungen zeigen auf, wie kompliziert und letztlich wenig klar unsere Beziehung zu den Tieren ist.

Gegen die Massentierhaltung

Seit einigen Jahren nutzen Tierschutzaktivistinnen und -aktivisten, insbesondere in der Deutschschweizer Politszene, die Mittel der direkten Demokratie, um die Tierrechte voranzutreiben. Ein Beispiel ist die eidgenössische Volksinitiative «Keine Massentierhaltung in der Schweiz». Sie fordert die Anpassung des Artikels 80a der Bundesverfassung betreffend die landwirtschaftliche Tierhaltung. Die Initiantinnen und Initianten verlangen höhere Tierschutz-Standards und strengere Haltungs- und Pflegebedingungen. Es geht vor allem um die Unterbringung, die maximale Gruppengrösse, den Zugang ins Freie und die Schlachtung.

Gemäss Initiativtext muss die Ausführungsgesetzgebung bezüglich Würde des Tieres Anforderungen festlegen, die mindestens jenen der Bio-Suisse-Richtlinien entsprechen. Für Julia Fischer, Co-Leiterin der Ja-Kampagne, geht es ganz einfach darum, die Standards so anzuheben, dass die systematische Verletzung des Tierwohls ein Ende findet: «Es ist nicht unsere Absicht, die Landwirtinnen und Landwirte in Bedrängnis zu bringen, sondern aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten werden, die auf unserem Teller landen. In unserem Land herrscht die Illusion vor, dass die Nutztiere frei und glücklich auf der Weide leben. Wir wollen Gesetze, welche die Lebensgewohnheiten jeder Tierart anerkennen und deren Berücksichtigung zwingend vorschreiben.»

«In unserem Land herrscht die Illusion vor, dass die Nutztiere frei und glücklich auf der Weide leben.»

Verteidigung der Tierrechte

Das kommt der Stiftung TIR entgegen, die eine einheitliche und zufriedenstellende Umsetzung des Gesetzes auf nationaler Ebene für notwendig erachtet. Zuständig für die Kontrolle von Zucht, Haltung und Handel mit Tieren sind die kantonalen Veterinärämter. «Doch ihnen fehlt es oft am notwendigen juristischen Fachwissen sowie an den personellen und finanziellen Ressourcen für eine wirksame Durchsetzung des Tierschutzgesetzes», erklärt Isabelle Perler. Interessant ist gemäss der Juristin hingegen ein Instrument, das aktuell kaum genutzt wird und ähnlich wie das Verbandsbeschwerderecht der Umweltschutzorganisationen funktioniert. «Gemäss Art. 104 Abs. 2 der Strafprozessordnung können Bund und Kantone Behörden, die öffentliche Interessen zu wahren haben, Parteirechte einräumen. Dazu kann auch die effektive Umsetzung des Tierschutzgesetzes gehören.» Bisher haben nur die Veterinärämter der Kantone Zürich, St. Gallen und Bern solche Rechte erhalten, einschliesslich der Möglichkeit, Fehlentscheide anzufechten. «Der Bedarf nach einem solchen Instrument ist vorhanden. Zahlreiche Verstösse gegen das Tierschutzgesetz, darunter auch schwerwiegende, werden nie geahndet, oder dann sind die Strafen extrem mild im Vergleich zu dem, was im Rahmen der Gesetzgebung möglich wäre», so die Juristin. Von 1992 bis 2010 verfügte der Kanton Zürich über einen Tieranwalt, der für die Umsetzung des Tierschutzes zuständig war. Dieses Amt wurde abgeschafft, nachdem die Volksinitiative «Gegen Tierquälerei und für einen besseren Rechtsschutz der Tiere (Tierschutzanwalt-Initiative)» im März 2010 mit mehr als 70 Prozent der Stimmen abgelehnt worden war.

Eine Frage der Ethik

Dem Zeitgeist entsprechend führen die Tierschutzaktivistinnen und -aktivisten die Debatte seit einigen Jahren auf ethischer Ebene. Bei Vorträgen oder friedlichen Aktionen bringen sie rigorose und wissenschaftlich gestützte Argumente vor, um die Art anzuprangern, wie wir unsere pelzigen, gefiederten oder geschuppten Mitlebewesen behandeln. Einige von ihnen sind sogenannte Antispeziesistinnen und Antispeziesisten. Sie lehnen den Speziesismus ab, der eine Hierarchie unter den Lebewesen festlegt und den Menschen als den Tieren überlegen betrachtet. Ihre Forderungen? Idealerweise sollte ein Tier nicht mehr geschlachtet oder für die Produkte, die es liefert (Milch, Eier, Honig, Leder usw.), ausgebeutet werden. 
«Wir wollen, dass sich die Welt für die Tiere ändert und dass Praktiken aufgegeben werden, die ihre Grundrechte nicht respektieren, nämlich das Recht auf Leben und das Recht, keinem Leid ausgesetzt zu sein und frei leben zu dürfen», erklärt Fabien Truffer, Sprecher der seit 2014 für die Tiere kämpfenden Westschweizer Organisation Pour l’égalité animale (PEA). Der PEA sind die aufsehenerregenden Videos zu verdanken, die die Organisation heimlich in Schlachthöfen aufnahm, 2017 in Avenches, 2018 in Moudon und Les Ponts-de-Martel sowie 2019 in Martigny. Auch ist sie verantwortlich für internationale Kampagnen wie den «Welttag für das Ende des Speziesismus» und den «Welttag für das Ende der Fischerei». Eine egalitäre Gesellschaft, in der kein Tier mehr aufgrund seines Handelswertes gefangen gehalten wird – dieses Vorhaben dürfte einem grossen Teil der Bevölkerung zu radikal oder utopisch erscheinen.

Politischer Pragmatismus

Die PEA unterstützt auch die Initiative «Keine Massentierhaltung in der Schweiz». «Es ist ein Schritt in die richtige Richtung», stellt Truffer pragmatisch fest. Die Vorlage wurde der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats (WAK-N) vorgelegt, die kürzlich ihre Ablehnung empfahl. Julia Fischer verfolgt die Debatten von Politikern, Produzentinnen und Grossverteilern genau. «Die WAK-N hat soeben unter Beweis gestellt, dass sie den Anliegen der Bevölkerung, die einen stärkeren Tierschutz in der Landwirtschaft wünscht, kein Gehör schenkt. Nun gilt es, diese verantwortungslose Entscheidung im Nationalrat zu korrigieren.» Im besten Fall kommen die Vorlage und, wahrscheinlich, ein Gegenvorschlag Ende 2022 oder Anfang 2023 zur Abstimmung. Die Massentierhaltungsinitiative gesellt sich zu einer Reihe früherer Vorlagen – etwa gegen Tierversuche und Vivisektion oder für ein Importverbot von Stopfleber oder für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion – und zeigt, dass die Bemühungen, die Lebensbedingungen der Nutztiere zu verbessern, sich vervielfachen und unsere Wirtschaft auch weiterhin herausfordern werden. Genauso wie unser Gewissen.

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