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23.09.2020 von Muriel Raemy

Picasso für alle

Gewagte Projekte mischen den Kunstmarkt auf und machen Kunst für das kleine Budget erschwinglicher. Aber führen ein Kunstsupermarkt, die Miteigentümerschaft an einem ­Picasso oder Tokens zu einer Demokratisierung der Kunst und des Kunstmarktes? 

Artikel in Thema Kunst und Geld
Illustration: Claudine Etter
Ehrlich gesagt, ich verstehe nichts von Kunst. Zu Hause ein schönes Bild oder einen wertvollen Druck auf­zuhängen, würde mir schon gefallen, doch mein beschränktes Budget erstickt solche Ideen im Keim. Aber es gibt einige, zum Teil neue Initiativen, die einem breiteren Publikum den Zugang zu Kunstwerken ermöglichen wollen. Besteht also noch Hoffnung für mich?
In Solothurn findet jedes Jahr während zweier Monate der sogenannte Kunstsupermarkt statt. Ziel des vor zwanzig Jahren ins Leben gerufenen Projekts ist, Kunst mit der Verkaufsstrategie eines Supermarktes allen zugänglich zu machen. Es gibt vier klare Preiskategorien – 99, 199, 399 und 599 Franken – und mit 120 Ausstel­lenden eine breite Palette von Künstlerinnen und Künstlern, die zusammen über 9000 Werke zeigen. «Man wirft uns oft vor, gegen die Konventionen zu ver­stossen und mit unserer Tiefpreispolitik den Markt zu zerstören. Meiner Ansicht nach tun wir das Gegenteil. Wir öffnen den Markt», meint Peter-Lukas Meier, Gründer des Kunstsupermarktes. Mit durchschnittlich 3000 verkauften Werken pro Jahr scheint der Markt dem Bedürfnis eines Kundensegmentes zu entsprechen, das sonst kaum in Kunstgalerien anzutreffen ist.

Gemeinsam in Kunstwerke investieren

Das Londoner Start-up Feral Horses hat ein anderes Modell gewählt: die Miteigentümerschaft. Unter dem Motto «Die Kunst jenen zurückgeben, denen sie gehört: allen» will das 2017 gegründete Unternehmen mehreren Eigentümerinnen und Eigentümern die Anschaffung eines Kunstwerks ermöglichen – unabhängig von dessen Preis. Auf seiner Plattform bietet das Start-up Anteile an Kunstwerken ab fünf Pfund beziehungsweise mindestens 0,01 Prozent des Marktwerts an. Ab einer Beteiligung von 200 Pfund wird man zu exklusiven Anlässen eingeladen. Das Kunstwerk bleibt zwar ausser Reichweite der Miteigentümerinnen und Miteigentümer, doch das Versprechen von Feral Horses, «einen Anteil eines Kunstwerks zu besitzen, darin zu investieren, von dessen Wertsteigerung zu profitieren und an Vernissagen teilzunehmen», lockt eine neue Generation von Investorinnen und Investoren an. Feral Horses verzeichnet rund 4000 User auf seiner Plattform; 1200 haben sich letztes Jahr am Kauf der insgesamt 25 Kunstwerke beteiligt.
Sorgt dieses Geschäftsmodell für eine Demokratisierung der Kunst? Feral Horses gibt auf seiner Website an, dass es aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern zu mehr Sichtbarkeit verhelfen möchte, und weiter, dass es auf eine Wertsteigerung der Werke hoffe. Diese Hoffnung ist nicht unbegründet, denn gemäss dem ­Index für Gegenwartskunst von Artprice haben sich Durchschnittspreise für zeitgenössische Kunstwerke, die an Versteigerungen erzielt werden, seit dem Jahr 2000 verdoppelt. Investitionen aufteilen – handelt es sich dabei nicht eher um ein schönes neues Investmentprodukt als um ein Modell, Kunst einem breiteren Publikum zugänglich zu machen? Wäre es nicht sinnvoller, den Besuch von Kunstmuseen kostenlos zu machen (was in Solothurn und London übrigens der Fall ist)?

25 000 Personen entscheiden über «ihren» Picasso

Eine weltweit einzigartige Aktion lancierte Qoqa, eine in Bussigny im Kanton Waadt angesiedelte E-Commerce-Plattform, im Dezember 2017. Sie bot ihren 700 000 Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, ­einen Anteil an einem Spätwerk Picassos zu erwerben. Es handelt sich dabei weder um sein berühmtestes noch um sein teuerstes Werk (es stand für zwei Millionen Franken zum Verkauf), aber um einen echten Picasso: das Gemälde «Buste de mousquetaire». Innerhalb von 48 Stunden hatten 25 000 Personen einen 50-Franken-Anteil daran erworben.
Der erfolgreiche Westschweizer Online-Händler bietet jeden Tag ein Produkt oder eine Dienstleistung zu einem günstigen Preis und in beschränkter Menge an. «Wir suchten nach einem originellen Projekt zur Feier unseres Firmenjubiläums», erzählt Bertrand Tappy, der bei Qoqa unter anderem für das Projekt «Piqasso» verantwortlich ist. «Der Qoqa-Community ein Meisterwerk zugänglich zu machen, schien uns ein völlig neuer Versuch, Kunst zu demokratisieren.» War es gleichzeitig ein lohnendes Geschäft? «Nein, die Kosten für Transport, Versicherung und Aufbewahrung des Gemäldes werden voll und ganz von Qoqa getragen.» Juristisch bleibt denn auch die Plattform Qoqa Eigentümerin des Kunstwerks, während die 25 000 Miteigentümerinnen und Miteigentümer darüber entscheiden, was mit dem Picasso passiert und wo er ausgestellt wird. Und wenn die Community eines Tages entscheiden sollte, den mit Öl auf Holz gemalten Musketier zu verkaufen? «Alle würden ihre Beteiligung von 50 Franken zurückerhalten, und der erzielte Aufpreis würde an Organisationen, die von der Community ausgewählt werden, ausbezahlt.»
Die Idee des gemeinsamen Eigentums ist schön, doch trägt sie wirklich dazu bei, sonst unzugängliche Kunst möglichst vielen zugänglich zu machen? Schliesslich erhält keine Miteigentümerin und kein Miteigentümer des Picasso-Gemäldes (oder eines der bei Feral Horses gekauften Werke) die Möglichkeit, das Werk bei sich zu Hause auszustellen, und sei es nur für einen einzigen Tag.

Die Idee als handelbarer Wert

Vielleicht möchte eine neue Generation von Kunstinteressierten Kunst gar nicht selbst besitzen, sondern eine Erfahrung, ein Ereignis mit anderen teilen. Das in Paris von Laetitia Maffei und Frédéric Laffy gegründete digitale Netzwerk Danae setzt auf Miteigentum an digitaler Kunst. Ein Kunstwerk, das als digitale Datei vorliegt, lässt sich heute unendlich oft vervielfältigen und verbreiten – und das in unterschiedlichen Formen, die Editionen genannt werden: als Video, Foto, Gemälde, Skulptur, Installation. Diese Editionen können von Sammlerinnen und Sammlern erworben werden, doch die Innovation liegt woanders: «Der Wert eines Kunstwerks besteht nicht in seiner materialisierten Form, sondern in der Idee des Künstlers. Und dieser Wert wird bei uns mit Tokens dargestellt», erklärt Frédéric Laffy das Geschäftsmodell. Der Verkauf kann deshalb aufgesplittet werden. «Da ein Token nur einen Euro kostet, ist die Beteiligung am Kauf eines Kunstwerks für jeden und jede erschwinglich.» Mit jedem investierten Token entsteht ein «Smart Contract». Das Eigentumsrecht wird auf sichere Art registriert und bei jedem Wie­derverkauf ohne Kosten oder rechtliche Schritte übertragen. Die Inhaberinnen und Inhaber von Tokens erhalten Lizenzgebühren, und die Kunstschaffenden besitzen ein Folgerecht an ihren Werken bei jedem Weiterverkauf, ob in Form von Tokens oder Editionen.

Prägt das Publikum künftig den Markt?

Peter-Lukas Meier ist vom Ansatz, Kunstwerke «aufzuteilen», nicht überzeugt. «Das ist eine neue Investmentform, sonst nichts! Die Sammlerinnen und Sammler haben nichts in den Händen, auch wenn sie das ‹gekaufte› Kunstwerk lieben.» Der Solothurner Kunstsupermarkt verfolgt eine andere Idee, die einfacher und effizienter ist: das Werk von seinem Preis und dem Namen des Künstlers oder der Künstlerin abzukoppeln. Frédéric Laffy bestreitet nicht, dass Danae ein neues Finanzprodukt anbietet, aber für ihn stellt sich im Hinblick auf die Demokratisierung von Kunst noch eine ganz andere Frage: «Danae möchte sich nicht gegen die grossen Akteure auf dem Kunstmarkt wie Institutionen und Galerien stellen, sondern den Markt erweitern. Kunstliebhaberinnen und -liebhaber sowie Kuratorinnen und Kuratoren von kleineren Sammlungen sollen die Möglichkeit haben, nicht nur zu investieren, sondern auch, Kunst wertzuschätzen und zu entscheiden, welche Künstlerinnen und Künstler künftig den Kunstmarkt prägen.»
Das Gleichgewicht könnte also in Richtung des Pu­blikums kippen, das bisher kaum als Faktor im Kunstmarkt betrachtet wurde. Diese Art, Kunst zu verkaufen und zu kaufen, definiert den Begriff des Eigentums neu, stellt die Legitimität des Zwischenhandels infrage und schafft neue Marktmechanismen. Wer kann die Folgen dieser Entwicklungen auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und juristischer Ebene abschätzen? Die Reise hat gerade erst begonnen – und ich habe grosse Lust, dabei zu sein.
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