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14.09.2022 von Roland Fischer

«Postwachstum muss ja nicht Antiwachstum heissen»

Man trifft Livia Matthäus, Mitgründerin und Co-Projektleiterin der Gemüsekooperative Plankton, auf dem Gemüsefeld am Stadtrand, zwischen Basel und Riehen. Gerade werden die Arbeiten für den Nachmittag diskutiert, es sind Profis da, aber auch ­eine Schar Freiwilliger. Es gibt viel zu tun. Was über viele Jahre ­einfach eine Wiese war, verwandelt sich in ein grosses Gemüsebeet, in solidarischer Landwirtschaft.

Artikel in Thema Abschied vom Wachstum
Livia Matthäus, Mitgründerin und Co-Projektleiterin von Plankton, ist Postindustrial Designerin.
moneta: Was wächst da? Und wie wächst es?
Livia Matthäus: Wir haben mehr als 40 Kulturen angepflanzt, gerade ernten wir unter anderem Zuckermais, Lauch, Pattison, Zucchetti. Und es wächst mega gut! Wir sind ein wenig überfordert von der Fülle. 

Inwiefern?
Wir haben uns verrechnet mit dem Ertrag, wir ernten fast dreimal so viel wie erwartet wegen des idealen Wetters in diesem Sommer und auch, weil der Boden mehr hergibt als gedacht. Das bringt uns als Team natürlich an unsere Grenzen. 

Wie gross ist das Projekt denn angelegt?
Wir sind ja erst gestartet mit einer Fläche von 30 Aren, damit können wir rund 40 Haushalte ernähren, wenn wir das Poten­zial ausschöpfen, vielleicht um die 80. Dazu müssten wir dichter anpflanzen und in rascherer Folge, was auch entsprechend mehr Arbeit bedeuten würde. Aber auch so ist das natürlich nichts. Wir möchten deshalb gern zusätzliche Flächen bewirt­schaften, was auch zwingend ist, damit das Projekt selbsttragend wird. Bei etwa 100 Haushalten sollten wir das geschafft haben.

Das wäre aber immer noch «nichts», in einer Stadt wie Basel, oder?
Ja und nein. Wir verstehen das Projekt auch als Inspiration, wir sehen es auch als einen Bildungsauftrag – wofür wir übrigens auch Unterstützung von Stiftungen bekommen. Vielleicht entstehen ja viele weitere ähnliche Projekte, wenn wir zeigen, dass dezentrale Landwirtschaft in der Stadt machbar ist? Aber ja, es ist eine Forschungsreise, es dreht sich letztlich um die Frage, was «Stadt» auch noch sein könnte. 

Und wohin geht die Reise derzeit?
Es wächst eben nicht nur das Gemüse, sondern auch das Netzwerk. Wir sind mit diversen Institutionen im Gespräch, die uns entweder weitere Flächen zur Verfügung stellen könnten oder die als Abnehmer infrage kommen. Diese Art von Wachstum ist ungemein wichtig, und es ist dringend, weil die Pflanzen so gut wachsen.

Gibt es schon konkrete Beispiele?
Gerade eben haben wir die Mensa der Schule auf der anderen Strassenseite als Abnehmerin gewonnen. Die wird vom Restaurant-Unternehmen SV betrieben, was uns umso mehr freut – wir finden es super, dass ein grosser Betrieb wie die SV offen ist für so eine hyperlokale Lösung! Mit Spitälern und Altersheimen sind wir auch im Gespräch, um ungenutzte Flächen in ess­bare Flächen zu verwandeln.

Flächen wären also noch viele vorhanden. Wo wäre denn die Grenze nach oben?
Das Potenzial ist riesig. Ich zitiere gern eine deutsche Studie, derzufolge in einer durchschnittlichen europäischen Grossstadt 60 bis 80 Prozent des benötigten Gemüses auf Stadtgrund angebaut werden könnten. Aber so weit denken wir momentan noch nicht, dafür fehlt uns ein wenig die Luft. Unser Ziel ist die Entwicklung eines multiplizierbaren Modells, das erst einmal selbsttragend werden soll. Darauf liegt im Moment der Fokus. Und es stellen sich natürlich jetzt schon Fragen: Geht das logistisch auf, im grösseren Stil, findet man genug Freiwillige?

Auf eurer Website schreibt ihr zum Stichwort «solidarische Landwirtschaft»: «Die Produzent:innen müssen sich nicht mehr mit Vermarktung, Preisdruck oder Wachstumszwang herumschlagen.» Habt ihr keine Angst, selbst in einen Wachstumszwang zu geraten? Oder anders gefragt: Welche Haltung hat man, wenn man es tagtäglich mit Wachstum zu tun hat, zur Wachstumskritik und zur Forderung nach einer Postwachstumsgesellschaft?
(Sie überlegt lange.) Postwachstum muss ja nicht Antiwachstum heissen. Letztlich geht es für mich um die Frage, ob wir Kreisläufe schliessen können. Schaffen wir es, den Boden regenerativ zu bewirtschaften? Aber auch: Finden wir genug Menschen, die unser Gemüse wollen, zu den entsprechenden Konditionen? Das heisst, ich frage mich nicht unbedingt, bis zu welchem Punkt wir wachsen können, sondern eher: Wie ist Wachstum möglich, das innerhalb von Kreisläufen funktioniert?

Livia Matthäus Mitgründerin und Co-Projektleiterin von Plankton, ist Postindustrial Designerin. Nach ihrem Studium am Institut HyperWerk in Basel war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW (HGK) tätig. Sie hat ­unter ­anderem das Festival Stattutopie lanciert, wo mit Workshops, Vorträgen und Performance erforscht wurde, wie Städte zukunftsfähig(er) gestaltet werden können. Das Projekt Plankton – die Gemüsekooperative aus der Stadt, 2020 in Basel gegründet, erforscht das ­Potenzial von ­urbaner Landwirtschaft und zeigt auf, dass diese einen ­relevanten Beitrag zu einem lokalen und nachhaltigen ­Ernährungssystem leisten kann.
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