703
14.09.2022 von Muriel Raemy

Arbeitsplätze und Einkommen nachhaltig sichern

Wie können wir Arbeit so gestalten, dass die planetaren Belastungsgrenzen nicht überschritten werden? Verschiedene beschäftigungspolitische Ansätze versuchen, die wirtschaftliche Tätigkeit mit dem ökologischen und sozialen Wandel in Einklang zu bringen, und dies bei Löhnen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Ein Ansatz ist das Einkommen für den ökologischen Wandel, das derzeit in Frankreich und der Schweiz getestet wird.

Artikel in Thema Abschied vom Wachstum
Illustration: Claudine Etter

Schliessen sich wirtschaftliches Denken und ökologische Notwendigkeit gegenseitig aus? Heisst weniger produzieren automatisch weniger arbeiten und weniger verdienen? Nein. So die Ansicht jener, die versuchen, die Wirtschaft aus der Einbahnstrasse des ewigen Wachstums zu lenken ‒ mit Mitteln wie der Aufwertung geringgeschätzter Berufe, der Reduktion der Arbeitszeit oder dem ökologischen Wandel in der Landwirtschaft, der Industrie, der Luftfahrt oder der Treibstoffherstellung.

Im heutigen Arbeitsmarkt sind viele für den ökologischen Wandel wichtige Tätigkeiten nicht rentabel. Wie sollen sie also entlöhnt werden? Das bedingungslose Grundeinkommen, das im Juni 2016 von der Schweizer Stimmbevölkerung abgelehnt wurde und auch in Frankreich zurzeit von der politischen Agenda gestrichen ist, war der Versuch einer Antwort. Für Sophie Swaton war dies jedoch nicht der richtige Weg, da im Konzept des Grundeinkommens die immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen nicht berücksichtigt waren. Die Ökonomin, Philosophin und Professorin an der Universität Lausanne setzt diesem Ansatz deshalb die Idee des «Einkommens für den ökologischen Wandel» entgegen, die sie in ihrem Buch «Pour un revenu de transition écologique» (Verlag Presses Universitaires de France) darlegt. Für Swaton muss Arbeit soziale Verbindungen schaffen und sinnstiftend sein. «Warum sollen wir der Tatsache, dass unsere Welt mit beschränkten Ressourcen auskommen muss, nicht Rechnung tragen und ein Grundeinkommen an Tätigkeiten knüpfen, die den ökologischen Wandel unterstützen?»

Der Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft

Das tut das Einkommen für den ökologischen Wandel. «Es handelt sich nicht um eine Subvention. Es ist ein vollwertiges Einkommen, das unter der Bedingung gewährt wird, dass die berufliche Tätigkeit zum ökologischen und gesellschaftlichen Wandel beiträgt», so Thomas Polikar, Beauftragter der Stiftung Zoein, die Sophie Swaton gegründet hat, um das Einkommen für den ökologischen Wandel unter realen Bedingungen zu testen. In den letzten rund zwei Jahren wurden in Frankreich verschiedene Versuche gestartet: in Grande-Synthe bei Dunkerque ganz im Norden sowie im Haute Vallée de l’Aude zwischen Toulouse und Perpignan im Südwesten und im Departement Lot-et-Garonne. Dort wurde das Projekt TERA für ländliche (Wieder)Entwicklung lanciert, das ein Netzwerk von genossenschaftlich organisierten Betriebe aufbauen will, die 85 Prozent der für die Einwohnerinnen und Einwohner lebenswichtigen Güter wieder lokal produzieren.

Alle diese ländlichen Gebiete gehören zur «Diagonale du vide» (Diagonale der Leere), einer deindustrialisierten und bevölkerungsarmen Gegend, die sich quer durch Frankreich zieht. Jean-Christophe Lipovac, Direktor von Zoein Frankreich, spricht sogar von Gebieten im Niedergang. So leben 31 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde Grande-Synthe unterhalb der Armutsgrenze und über 28 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos. «Diese Gegenden sind für den Wandel hin zur nachhaltigen Wirtschaft besonders interessant. Denn ihre einzige Ressource ist die Arbeitskraft. An diesen Orten ist es wichtig, Menschen zu unterstützen, die sich unternehmerisch betätigen oder sich umschulen lassen wollen.»

Doch es geht nicht nur um die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. «Das Ziel ist, die Arbeit zu transformieren oder sogar zu revolutionieren. Es geht auch nicht um eine digitale Transformation, wie wir sie zurzeit erleben, sondern um eine sozioökologische. Wir wollen die Grundlagen für eine Arbeit legen, die würdevoll ist und die planetarischen Grenzen berücksichtigt», erläutert Thomas Polikar von Zoein.

 

Mehr als Geld

Das Einkommen für den ökologischen Wandel ist nicht nur Geld ‒ damit verbunden ist auch eine individuelle Begleitung: Coaching, Ausbildung in einem bestimmten Beruf oder in neuen Geschäftsmodellen, Weiterbildung usw. Wer ein Einkommen für den ökologischen Wandel erhalten möchte, muss einer demokratisch organisierten Institution, in diesem Fall einer Genossenschaft, angehören. «Die Genossenschaft ermöglicht die Umsetzung des Einkommens für den ökologischen Wandel. Sie stellt die Leute ein, die Projekte bearbeiten», erklärt Jean-Christoph Lipovac. Die erste solche Genossenschaft mit dem Namen TILT wurde im Mai 2019 in Grande-Synthe gegründet; im Juli dieses Jahres wurde im Haute-Vallée de l’Aude eine weitere eingeweiht. Für Thomas Polikar garantiert die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft die Nähe zu den Personen und sorgt dafür, dass alle von denselben Begleitangeboten profitieren können. «Der Fokus liegt nicht nur auf der finanziellen Situation einer Person, sondern auf ihrer gesamten Lebenssituation.» Das Ziel sei, langfristig wirklich eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen.

 

Das Team von Zoein in Frankreich ist hauptsächlich mit Finanzierungsfragen beschäftigt. Die Stiftung versucht, die Zivilgesellschaft, lokale Unternehmen, Vereine, Stiftungen und die Politik für eine Unterstützung des Projekts zu gewinnen. «Die Einführung des Einkommens ist nur eine Frage der Mittel und des politischen Willens. Wir setzen uns unermüdlich für unser Modell ein, das als Mittelweg zwischen vollständiger staatlicher Kontrolle und vollständiger Marktwirtschaft gedacht ist», schliesst Jean-Christophe Lipovac.

 

Pilotprojekt im Kanton Waadt

Über 20 Projekte werden in Frankreich aktuell über das Einkommen für den ökologischen Wandel finanziert. 15 Kilometer von Paris entfernt, im sogenannten Dreieck von Gonesse, macht sich ein Kollektiv Gedanken darüber, wie die Landwirtschaftsfläche bewahrt und rund um Paris wieder eine lokale Nahrungsmittelproduktion angesiedelt werden kann. Hier soll das Einkommen für den ökologischen Wandel zum Einsatz kommen. Ebenso in Saint-Nazaire in der Bretagne, wo ein Netzwerk entsteht, das lokal Arbeitsplätze schaffen möchte.

In der Westschweiz wird der Einsatz dieses neuen Instruments aufmerksam verfolgt, vor allem von Akteurinnen und Akteuren der sozialen Wiedereingliederung. In Genf und Meyrin beschäftigen sich seit einem Jahr Arbeitsgruppen mit dem Thema, auch im Kanton Jura besteht Interesse. Doch am weitesten fortgeschritten ist das Projekt im Kanton Waadt. Der 2020 vom Grossen Rat verabschiedete Klimaplan sieht die berufliche Eingliederung von Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern in klimafreundlichen Branchen vor. Vor diesem Hintergrund haben das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) und die Stiftung Zoein Ende Mai angekündigt, dass Anfang 2023 in Zusammenarbeit mit den waadtländischen Behörden ein Pilotprojekt zum Einkommen für den ökologischen Wandel lanciert wird.

Schon früher wurden im Kanton Waadt berufliche Eingliederungsmassnahmen getestet, die zur Verringerung des ökologischen Fussabdrucks beitragen sollen, beispielsweise Ausbildungen und Praktika in Umweltorganisationen, nachhaltigen Unternehmen oder Genossenschaften. «Das Einkommen für den ökologischen Wandel würde diese Massnahmen bekräftigen und Personen, die zurzeit Sozialhilfe beziehen, wirksam in nachhaltige Branchen integrieren. Zudem würden Unternehmen unterstützt, die sich für den ökologischen Wandel engagieren und heute von den Behörden kaum gefördert werden», erklärt Céline Lafourcade, Projektverantwortliche beim HEKS.

«Wir sind dabei, mögliche neue Aktivitäten in verschiedenen Bereichen wie der nachhaltigen Ernährung, der Kreislaufwirtschaft, den erneuerbaren Energien, dem Wohnen, dem Verkehr oder dem Erhalt der Biodiversität zu identifizieren.» Eine gemischte, öffentlich-private Finanzierung nach dem Vorbild der französischen Versuche wird gerade geprüft. Céline Lafourcade umreisst das Ziel des Pilotprojekts noch genauer: «Wir planen, mit einem eingeschränkten Personenkreis zu starten und in einer zweiten Phase die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu erweitern, wobei immer das Ideal einer sozialen und solidarischen Wirtschaft angestrebt wird.» Hier hat Wachstum vielleicht doch etwas Gutes.

Artikel ausdrucken
Verwandte Artikel

«Das System hält uns in der Wachstumsabhängigkeit gefangen»

Wirtschaft und Gesellschaft sind herausgefordert, sich vom ständigen Wirtschaftswachstum zu verabschieden. Warum ist das so schwierig? Und welche Rolle spielt dabei die Erwerbsarbeit? Ein Interview mit der Ökonomin und führenden Postwachstumsforscherin Irmi Seidl.
14.09.2022 von Esther Banz
Artikel nur online

«Postwachstum muss ja nicht Antiwachstum heissen»

Man trifft Livia Matthäus, Mitgründerin und Co-Projektleiterin der Gemüsekooperative Plankton, auf dem Gemüsefeld am Stadtrand, zwischen Basel und Riehen. Gerade werden die Arbeiten für den Nachmittag diskutiert, es sind Profis da, aber auch ­eine Schar Freiwilliger. Es gibt viel zu tun. Was über viele Jahre ­einfach eine Wiese war, verwandelt sich in ein grosses Gemüsebeet, in solidarischer Landwirtschaft.
14.09.2022 von Roland Fischer