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09.12.2020 von Roland Fischer

Sollen Bäume Rechte haben?

Angesichts von Klimakrise und Artensterben fordern manche Klimaaktivistinnen und Umweltschützer, die Natur mit eigenen Rechten auszustatten. Erstmals formuliert wurde die Idee 1972 vom Rechtswissenschaftler und -philosophen Christopher D. Stone. Die Lektüre seines wegweisenden Aufsatzes «Should Trees Have Standing?» zeigt, warum der Vorschlag weniger fantastisch ist, als er auf den ersten Blick scheinen mag.

Artikel in Thema Umwelt im Recht
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Recht haben – es ist eigentlich eine seltsame Wendung. Im Englischen ist man richtig – am I right? Tatsächlich verbirgt sich da eine rechtsphilosophische Grundsatzfrage: Wer darf Rechte beanspruchen? Instinktiv würde man sagen: ist doch klar, alle Menschen. 1972 machte der Rechtswissenschaftler Christopher D. Stone indessen einen radikalen Vorschlag: Wäre der Umwelt am besten geholfen, wenn sie selber für ihre Rechte einstehen könnte? «Should Trees Have Standing?» hiess sein Aufsatz – der simple Titel ist nicht so leicht auf Deutsch zu übersetzen: «Standing» bezeichnet im Englischen die Möglichkeit, Klage führen zu können (auf Deutsch heisst das sehr technisch «Rechtsfähigkeit»). Können Bäume natürlich nicht, sie sind ja keine Personen. Nicht wie in J. R. R. Tolkiens Fantasy-Epos «Herr der Ringe», wo es Baumwesen gibt, die sprechen und sogar herumgehen können – wahre Riesen, die sich eigentlich lieber aus der «Politik» heraushalten. Aber letztlich werden sie doch in die kriegerische Handlung in Mittelerde hineingezogen und spielen eine entscheidende Rolle beim Sieg gegen Saruman, der eine Art industrialisierte Kriegsmaschinerie aufzieht und dabei sehr rücksichtslos mit der Natur umgeht.

Tolkiens Baumwesen brauchen kein Standing, um vor Gericht gegen das ihnen und dem ganzen Wald angetane Unrecht zu kämpfen. Sie nehmen das Recht in ihre eigenen Hände. Einige Kritikerinnen und Kritiker interpretieren «Herr der Ringe» diesbezüglich nicht als Fantasy, sondern als explizite Öko-Kritik mit klarem Bezug zu unserer Welt. Tatsächlich schrieb Tolkien einmal in einem Brief: «Von meinem Vater habe ich eine fast zwanghafte Liebe zu Bäumen geerbt: Als kleiner Junge wurde ich Zeuge, wie massenhaft Bäume für den Komfort des Verbrennungsmotors gefällt wurden. Ich betrachtete dies als vorsätzlichen Mord an lebenden Wesen.»

Wenn Aktiengesellschaften Rechte haben, warum nicht auch Bäume?

Vorsätzlicher Mord? Nach unserem Recht ist es (zum Glück?) nicht strafbar, einen Baum zu fällen. Das Gefühl, dass es sich bei Bäumen um fühlende Wesen handelt, teilen aber viele. Das erklärt wohl auch den Erfolg von Peter Wohllebens Super-Bestseller «Das geheime Leben der Bäume». Der Förster stellt Bäume als mitfühlende Lebewesen dar oder vermenschlicht sie sogar explizit. Sind Bäume altruistisch? «Mich erinnern dicke, silbergraue Buchen, die sich so verhalten, an eine Elefantenherde. Auch sie kümmert sich um ihre Mitglieder, hilft Kranken und Schwachen auf die Beine und lässt selbst tote Angehörige nur ungern zurück.»

Ist insofern die Frage, ob wir uns Bäume auch als Rechtssubjekte denken könnten, gar nicht mehr so abwegig? Stone verstand seinen Aufsatz durchaus als Aufforderung, das zu versuchen. Er macht deshalb schon zu Beginn des Textes klar, dass er sein Anliegen keineswegs metaphorisch versteht: «Ich schlage ganz ernsthaft vor, dass wir den Wäldern, Ozeanen, Flüssen und anderen so genannten ‹natürlichen Objekten› in der Umwelt Rechte einräumen – oder besser gesagt: der Umwelt als Ganzes.» Stone wusste um die Widerstände, die dieser Vorschlag provozieren würde, aber er hat gute Argumente in der Hand: Denn auch Aktiengesellschaften, Vereine und Stiftungen sind juristische Personen und somit  Rechteinhaber, wenn auch von eher abstrakter Art. Gerade diese Abstraktion ist aber zentraler Teil der Rechtsgeschichte. So heisst es schon im staatstheoretischen Klassiker «Leviathan» des Philosophen Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651: «Es gibt wenige Sachen, die man sich nicht als Person denken könnte. Denn wenn auch gleich Person eigentlich nur ein vernünftiges Wesen bedeutet, so gilt dies doch nicht immer von dem, dessen Stelle vertreten wird. So kann eine leblose Sache, wie z. B. eine Kirche, ein Krankenhaus, eine Brücke ihren Stellvertreter haben und dies ist gewöhnlich der Aufseher oder Vorsteher derselben.»

Entscheidend ist, was eine «rechtlose Sache» ist – und was nicht

Hobbes prägte auch den Begriff der «fiktiven Person». Diese braucht, um vor Gericht auftreten zu können, natürlich so etwas wie einen Körper, und sei es nur im metaphorischen Sinn. Darauf beziehen sich die vielen juristischen Begriffe, die von einer solchen «Körperschaft» sprechen, am bekanntesten die englische «corporation» (Firma). Im 19. Jahrhundert strich auch der Schriftsteller Ambrose Bierce das Fiktive dieser neuen Rechtsentität heraus, mit beissendem Zynismus allerdings: «Der Akt, mehrere Personen zu einer Fiktion zu vereinen, wird als ‹corporation› bezeichnet, damit sie nicht mehr für ihre Handlungen verantwortlich sind. A, B und C sind eine Körperschaft. A raubt, B stiehlt und C betrügt. Es ist eine plündernde, stehlende, betrügerische Körperschaft. Aber A, B und C, die jedes Verbrechen der Körperschaft gemeinsam bestimmt und einzeln ausgeführt haben, bleiben schuldlos.»

Man braucht die Etablierung von juristischen Personen rechtsgeschichtlich aber durchaus nicht als blosses gewinnmaximierendes Täuschungsmanöver zu sehen, ganz im Gegenteil. Man kann darin auch einen Evolutionsprozess erkennen, in Zuge dessen immer mehr Rechtsobjekte den Status eines Rechtssubjekts erhielten. Und zwar mit emanzipatorischen Schritten, auf die wir heute mit Erstaunen zurückschauen. Die Rechtsphilosophie geht gemeinhin von einem «Naturrecht» aus, das im ursprünglichen Zustand nur freie Menschen als Rechtssubjekte anerkannte. Das römische Recht unterschied freie Menschen (lateinisch homines liberi) und Sklaven (lateinisch homines servi), wobei letztere nicht als Rechtssubjekte galten. Der Unterschied war nicht nur im Herrschaftssinn relevant: Über ein Objekt kann man nach Belieben verfügen, man kann mit ihm also auch Handel treiben. Ein Rechtsobjekt ist eine Sache. Es darf deshalb auf dieser grundlegenden Ebene gar nicht für sich selber einstehen, sonst würde unser Umgang mit Sachen, mithin unsere ganze Gesellschaftsordnung, in Frage gestellt. Insofern ist diese Trennung in Subjekt und Objekt nach wie vor grundlegend für unser Recht – die Frage ist einfach, was als (rechtlose) Sache angesehen wird und was nicht. Und da glaubt Stone einen allmählichen Prozess der Teilhabe zu erkennen, die Bereitschaft, nach und nach mehr Sachen zu «subjektivieren» und sie so aus ihrem komplett rechtlosen Status herauszuheben. Wobei die Angelegenheit natürlich eine komplexe ist – nicht alle Rechtssubjekte haben automatisch dieselben Rechte. So hatten Schwarze auch nach Abschaffung der Sklaverei in den USA lange nicht dieselben Rechte wie Weisse, und Frauen waren zwar immer rechtsfähig, hatten aber bis ins 20. Jahrhundert weniger Rechte als Männer. 

Rechtsvertretung auch für «natürliche Objekte» möglich

Auch eine Firma kann mehr als eine Sache sein, im rechtlichen Sinne. Sie will offenbar etwas, das zeichnet sie juristisch aus. «Juristische Personen verfolgen immer einen ihnen inhärenten Zweck. Dieser ist auch der einzige Grund für ihre Personifizierung». Dies schrieb der Bundesrat in einer Antwort auf ein Postulat mit der Frage, ob auch Gletscher mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet werden könnten. Gletscher hätten laut Bundesrat keinen solchen Zweck, zumindest können wir von einem solchen nichts erfahren. Müssen wir den Willen einer rechtlichen Entität klar erkennen können? Muss sie für sich selber sprechen können? Stone hätte die Antwort des Bundesrats nicht überzeugt: «Es ist keine Lösung zu sagen, dass Bäche und Wälder keine Rechtspersönlichkeit haben können, weil Bäche und Wälder nicht sprechen können. Auch Unternehmen können nicht sprechen, ebenso wenig wie Staaten, Ländereien, Kleinkinder, Gemeinden oder Universitäten. Anwälte sprechen für sie.»

Womit wir wieder bei der fiktiven Person wären, die auch mit ihrem metaphorischen Körper nicht selbst vor Gericht ziehen kann: Sie braucht einen Rechtsvertreter. Das sei Courant normal in der Rechtsprechung, meint Stone: «Gerichte nehmen ähnliche Ernennungen vor, wenn eine Firma ‹inkompetent› geworden ist – sie ernennen einen Treuhänder, der ihre Angelegenheiten beaufsichtigt und für sie vor Gericht spricht, wenn dies notwendig wird.» Das könnte natürlich auch bei «natürlichen Objekten» funktionieren – tatsächlich kommt ein ähnliches Modell schon zur Anwendung bei der unlängst erfolgten Anerkennung des neuseeländischen Flusses Whanganui River als juristische Person.

Zeit für eine rechtsphilosophische Revolution?

Neben der juristischen Handhabe und den konkreten Vorteilen für einen effektiven Umweltschutz sah Stone noch eine andere Motivation dafür, natürlichen Objekten Rechte zu verleihen: nämlich einen gesamtgesellschaftlichen Reifungsprozess. Dass Schwarze in manchen Ländern im juristischen Sinn Sachen waren, wirkt auf uns heute abstossend. Da gab es offenbar eine Verschiebung in der Wahrnehmung. «Und so findet sich der Oberste Gerichtshof auch hier, im Falle der Umwelt, in der Position, ‹Rechte› in einer Weise zu vergeben, die zu einer Veränderung des allgemeinen Bewusstseins beiträgt», schreibt Stone. Stone erkannte Anzeichen für diesen Wandel schon 1972. Als der Aufsatz 40 Jahre später noch einmal aufgelegt wurde, stellte er fest, dass seine Forderung womöglich gar nicht mehr so dringend war, da es für natürliche Personen in den USA einfacher geworden sei, juristisch für die Umwelt einzustehen.

Zum Schluss seines Textes wird Stone philosophisch, er kommt auf die damals noch junge Gaia-Theorie zu sprechen: der Planet als grosser Organismus, als Lebewesen an sich, das wir schützen müssen. Stone hofft, dass das Bewusstsein, Teil von etwas Grösserem zu sein, die Rechtsprechung verändern werde. «Jedes Mal, wenn es eine Bewegung zur Übertragung von Rechten an eine neue ‹Entität› gibt, klingt der Vorschlag zwangsläufig seltsam, beängstigend oder lächerlich. Das liegt zum Teil daran, dass, solange das rechtlose Ding nicht seine Rechte erhält, wir es nicht anders betrachten können, als ein Ding für ‹uns› – die, die zu diesem Zeitpunkt Rechte besitzen.» Macht euch die Erde untertan – die westliche Zivilisation hat das Bibelzitat immer sehr ökonomisch verstanden und das Rechtssystem ist diesem Verständnis lange gefolgt und hat es gestützt. Ändert sich da tatsächlich langsam etwas? Es wäre eine kleine rechtsphilosophische Revolution, und sie käme zur rechten Zeit.

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