1457
09.12.2020 von Muriel Raemy

Ökozid vor Gericht?

Weltweit wird die Forderung laut, dass der Internationale Strafgerichtshof den sogenannten Ökozid als Straf­tat­bestand anerkennen soll. Damit könnten schwer­wiegende Umwelt­vergehen international geahndet werden. Doch das Konzept ist umstritten.

Artikel in Thema Umwelt im Recht
Illustration: Claudine Etter
Das Wort Ökozid – zusammengesetzt aus dem griechischen «oikos» (Hausgemeinschaft) und dem lateinischen «occidere» (töten) – bezeichnet die Zerstörung unseres gemeinsamen Zuhauses, der Erde. Rund um den Globus gibt es Bemühungen, den Ökozid als Straftatbestand zu etablieren und eine internationale Gerichtsbarkeit dafür zu schaffen. Damit könnten Menschen, Staaten oder Unternehmen, die das ökologische Gleichgewicht des Planeten gefährden, vor Gericht gebracht und verurteilt werden – was auch eine präventive Wirkung auf globaler Ebene hätte.
Verschiedene nationale Initiativen für eine juristische Anerkennung des Ökozids sorgen in jüngster Zeit für Aufmerksamkeit: In Deutschland blockierten Anfang Oktober Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion Brücken und Strassen rund um das Berliner Reichstagsgebäude und forderten ein Ökozid-Gesetz. Ebenfalls in diesem Jahr schlug in Frankreich die von der Regierung einberufene Bürgerversammlung Convention citoyenne pour le climat unter anderem ein Ökozid-Gesetz vor. Die auf Menschenrechte spezialisierte französische Juristin Valérie Cabanes ist Mitgründerin der weltweit aktiven Bewegung End Ecocide on Earth und hat sich damit zur Fürsprecherin einer ­Sache gemacht, die nicht immer auf Verständnis stösst. Sie sei aber geduldig, meint sie: «Bis Mentalitäten sich verändern, braucht es rund 50 Jahre.» Dann trifft es sich gut, dass der Begriff «Ökozid» genau vor 50 Jahren geprägt wurde.

Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs

Der US-amerikanische Biologe und Ethiker Arthur W. Galston verwendete den Begriff erstmals 1970, um den Einsatz von Agent Orange im Vietnamkrieg zu verurteilen: Die US-Armee setzte das chemische Entlaubungsmittel grossflächig gegen Wälder und Nutzpflanzen ein; in der Folge erkrankten Hunderttausende Menschen. Galston war der Ansicht, dass ein solcher Ökozid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein­zustufen sei. Als die Völkerrechtskommission der UNO zwei Jahrzehnte später die Grundlagen für einen in­ternationalen Strafgerichtshof schufen, standen die Chancen gut, dass auch Regeln zu Umweltverbrechen integriert würden: 1991 wurde der Artikel 26 über schwere Vergehen gegen die Umwelt in Friedenszeiten angenommen.
Doch in der Folge häuften sich die rechtlichen Pro­bleme, und der Artikel fand nie den Weg ins 1998 unterzeichnete Römer Statut, das die Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bildete. Als ständiges internationales Gericht ist der IStGH für Verbrechen im Sinne des Völkerstrafrechts wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig. Bis er sich auch mit der Verantwortlichkeit für die Abholzung des Amazonasgebiets, den Folgen der Fukushima-Katastrophe oder den ökologischen Auswirkungen des Ölsandabbaus in Alberta beschäftigen wird, dürfte aber noch einige Zeit vergehen.

Polly Higgins gründet Stop Ecocide

Breitere Bekanntheit erlangte der Begriff des Ökozids schliesslich dank der schottischen Umweltanwältin Polly Higgins und ihrem Buch «Eradicating Eco­cide». Higgins schrieb das Buch 2010 als Reaktion auf die Explosion der Ölplattform «Deepwater Horizon», die eine ökologische Katastrophe auslöste. Die unterdessen verstorbene Anwältin und charismatische Umweltaktivistin war davon überzeugt, dass eine Aner­kennung des Ökozids durch den Internationalen Strafgerichtshof eine abschreckende Wirkung hätte. Denn der IStGH hat eine universelle Zuständigkeit  – unabhängig von der Herkunft der Straftäterinnen und -täter – und könnte damit jedes Industrieunternehmen, jeden CEO eines multinationalen Unternehmens und jeden Staatschef zur Wahrung des ökologischen Gleichgewichts zwingen. Polly Higgins rief die Bewegung Stop Ecocide ins Leben, zu deren Mitgliedern Expertinnen und Experten für internationales Recht zählen. Das Ziel der Bewegung ist, zwei Drittel der Vertragsstaaten des Römer Statuts und damit die erforderliche Mehrheit davon zu überzeugen, die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs auf Umweltverbrechen zu erweitern. Doch bis heute hatte die Initia­tive keinen Erfolg.
Der Straftatbestand des Ökozids könnte aber auch in der Gesetzgebung eines einzelnen Staates verankert werden. Damit wäre ein Vorbild für die Vertragsstaaten des Römer Statuts geschaffen. «Kein Land hat den Mut, die Initiative zu ergreifen. Welche Regierung möchte schon die einzige sein, die den Ökozid als Straftat­bestand anerkennt? Man müsste der nationalen Wirtschaft und Politik garantieren können, dass alle Staaten an dieselben Regeln gebunden sind», erklärt Thomas Egli, Gründer von Objectif Sciences International, einer NGO mit konsultativem Status bei der UNO. 
Die Plädoyers der Umweltorganisationen verhallen nicht zuletzt deshalb wirkungslos, weil die Definition des Begriffs Ökozid nicht klar ist. End Ecocide on Earth schlägt folgende Definition vor: «die langfristige und erhebliche Beschädigung oder Zerstörung globaler Gemeingüter oder eines Ökosystems der Erde.» Die Definition ist immer noch unscharf. «Das stimmt», pflichtet Valérie Cabanes bei und ergänzt: «Deshalb beziehen wir uns auf die neun planetarischen Grenzen, welche die Forscher des Stockholm Resilience Centre beschrieben haben.»

Es braucht härtere Strafen

Anstatt mit dem Ökozid einen neuen Straftatbestand zu schaffen, erachten es kritische Stimmen als wirkungsvoller, Instrumente zu etablieren, mit denen bestehendes Recht besser durchgesetzt werden kann. So unterstützt beispielsweise die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) den Grundgedanken eines Straftatbestands Ökozid, stuft den Vorschlag jedoch als zu wenig wirksam ein. Die Union spricht sich stattdessen dafür aus, das Umweltstrafrecht zu stärken und Institutionen für dessen Durchsetzung – wie eine Umweltstaatsanwaltschaft oder Umweltpolizei – zu eta­blieren. Andere Juristinnen und Juristen setzen sich für die Schaffung eines internationalen Umweltgerichtshofs und/oder einer europäischen Umweltstaatsanwaltschaft ein. Das Ziel ist, die Koordination zwischen den zuständigen Behörden auf nationaler und internationaler Ebene zu gewährleisten und Sanktionen zu vereinheitlichen und zu verstärken.
«Das Umweltrecht sieht bereits Strafen für Umweltdelikte vor. Wenn man aber deren lächerliche Höhe ­anschaut, wird offensichtlich, dass unsere Gesetze zur Abschreckung vor schweren ökologischen Vergehen vollkommen ungeeignet sind.» Valérie Cabanes erinnert an den Öltanker «Erika», der an der bretonischen Küste eine Ölpest verursachte. Der Konzern Total, für den «Erika» fuhr, wurde zur höchstmöglichen Geldstrafe von gerade einmal 375 000 Euro verurteilt. Den Zivilklägern musste Total im Jahr 2012, nach 13 Verfahrensjahren, 171 Millionen Euro bezahlen, davon 13 Millionen für den «ökologischen Schaden». Eine sehr milde Strafe in Anbetracht des schwerwiegenden Vergehens – und des Unternehmensgewinns von Total, der sich allein in jenem Jahr auf 12 Milliarden Euro belief.

Gesetzgebung wird Ökosystemen nicht gerecht

«Die Einführung neuer Instrumente ist wichtig, das ist unbestritten. Doch solange diese auf einem Umweltrecht beruhen, das in verschiedene Sektoren aufgeteilt ist, bleiben die Gesetze wirkungslos», stellt Thomas Egli von Objectif Sciences International fest. Seine NGO organisiert diesen Dezember die neunte Ausgabe des Forum de Genève, in dessen Zentrum die Rechte der Natur stehen. (Verschiedene Initiativen möchten die Natur als Rechtssubjekt anerkennen und somit eine neue Rechtsprechung anstossen; siehe auch Seite 10). Die UNO hat unter dem Titel «In Harmonie mit der Natur» den Dialog dazu eröffnet. Der Generalsekretär selbst räumte 2016 ein, dass die geltenden Umweltgesetze aufgrund ihrer konzeptionellen Grundlage wirkungslos seien: Die Gesetzgebung teile die Ökosysteme in unterschiedliche Einheiten ein, was unvereinbar sei mit der Tat­sache, dass diese eng miteinander verbunden und voneinander abhängig seien. 
Was braucht es, damit der Ökozid verfolgt werden kann? Valérie Cabanes meint abschliessend: «Der Ökozid muss auf gleicher Ebene wie die Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit anerkannt werden. Damit würde man auch anerkennen, dass die Ökosysteme die Grundlage der menschlichen Existenz sind, und zur Verantwortung gegenüber kommenden Generationen aufrufen.»

Literatur

Valérie Cabanes: «Un nouveau droit pour la Terre – Pour en finir avec l’écocide», Seuil 2016. (Englische Ausgabe: «Rights for Planet Earth», Natraj Publishers 2017.)

Valérie Cabanes, «Homo natura – En harmonie avec le vivant», Payot 2017. (Nur auf Französisch erhältlich.)
Artikel ausdrucken
Verwandte Artikel

Sollen Bäume Rechte haben?

Angesichts von Klimakrise und Artensterben fordern manche Klimaaktivistinnen und Umweltschützer, die Natur mit eigenen Rechten auszustatten. Erstmals formuliert wurde die Idee 1972 vom Rechtswissenschaftler und -philosophen Christopher D. Stone. Die Lektüre seines wegweisenden Aufsatzes «Should Trees Have Standing?» zeigt, warum der Vorschlag weniger fantastisch ist, als er auf den ersten Blick scheinen mag.
09.12.2020 von Roland Fischer
Artikel nur online

Die Natur als Klägerin

Nicht nur Menschen und Unternehmen sollen vor Gericht ziehen dürfen, sondern auch der Wolf, der Aletsch­gletscher oder der Rhein. Das fordern Umweltschützer und -philo­sophinnen. Mit unserem Rechtssystem absolut unvereinbar, findet der Bundesrat.
09.12.2020 von Fabio Peter &Karel Ziehli