1961
17.03.2021 von Roland Fischer

Spielend lernen, wie Kapitalismus geht

Es ist ja nur ein Spiel: Von der überraschenden Geschichte eines der erfolgreichsten Gesellschaftsspiele der Welt. Oder: Wer würde heute noch behaupten, dass Kinder lernen müssen, wie gefährlich Monopole sind?

Artikel in Thema Kind und Geld
Illustration: Claudine Etter
Ich habe schon ewig lang nicht mehr Monopoly gespielt. Aber ich habe noch sehr lebendige Erinnerungen an das Brett und die Metallfiguren, an das billige Papier der Geldscheine und die Spieldynamik, an den Moment, wenn der Markt für einen zu spielen beginnt und der eigene Geldstapel immer höher wird. Die Macht des Geldes, die Raffgier, die Verbindung von Gewinnen und Wirtschaften – sind sie mir da ins Blut übergegangen? Ich habe aber auch noch andere Erinnerungen: Zürich, Paradeplatz. Der Ärger, wenn einem dieses Grundstück weggeschnappt wird. Man weiss genau, dass damit nun vieles gelaufen ist – weil es eben nicht nur auf Verhandlungsgeschick und vorausschauendes Wirtschaften ankommt in diesem Spiel, sondern vor allem auf Glück. Und man weiss auch, dass man viel zu günstig zu diesen Liegenschaften kommt, die dann richtig viel Geld abwerfen. Wer auf die Gewinnerstrasse kam, den kümmerte das natürlich wenig – das Maulen der anderen konnte man als schlechtes Verlieren abtun. Aber ich wusste eigentlich genau: Da ist was faul. 

Die monopolkritische und lang vergessene Erfinderin

Habe ich damit die Lektion genauso gelernt, wie es der Erfinderin vorschwebte? Lizzie Magie hatte sich für ihr «Landlord’s Game» nämlich zwei Spielvarianten ausgedacht: Die Spielerinnen und Spieler mussten sich zu Beginn entscheiden, ob sie ganz nach «The winner takes it all»-Schema zu Monopolisten werden wollten oder lieber mit Regeln spielen, die eher kleinteiliges, soziales Wirtschaften belohnten. Die Geschichte des vielleicht erfolgreichsten Gesellschaftsspiels der Welt hat einige unerwartete Pointen – die erste eben, dass es von einer Frau erdacht wurde, einer amerikanischen Schriftstellerin, Feministin, Erfinderin. Die zweite ist so überraschend vielleicht nicht: Der Erfolg ihrer Idee hat Magie kaum etwas eingebracht. Da waren nämlich ein paar ehrgeizigere Männer mit im Spiel, buchstäblich. Magie liess ihr Spiel zwar 1904 patentieren, aber es zirkulierte ziemlich frei. Es ging ihr ja auch in erster Linie um Wirtschaftskritik. Sie folgte bei der Entwicklung ganz den Lehren des Antimonopolisten und linken Wirtschaftsreformers Henry George, der im späten 19. Jahrhundert unter anderem forderte, dass Regierungen keine Arbeit, sondern nur noch Landbesitz besteuern sollten. Innert dreissig Jahren erlangte The Landlord’s Game so etwas wie Kultstatus, und niemand dachte daran, Besitzansprüche geltend zu machen. Bis jemand anderes (ein Mann, natürlich) Magies Idee an die grosse Spielfirma Parker Brothers verkaufte – als seine eigene versteht sich. Magie liess sich mit 500 Dollar für ihr Patent abfinden und war glücklich, dass nun noch viel mehr junge Menschen spielend lernen würden, wie zerstörerisch Monopole wirken können. 
Lizzie Magie indessen kam als wirtschaftliche Idealistin kaum über die Runden und realisierte bald, dass nichts an der klassischen Gesellschaftsnorm Heirat vorbeiführte. Also setzte sie eine Kleinanzeige in die Zeitung, in der sie sich als «young woman American slave» dem meistbietenden Mann anbot. Sie pries sich an als «not beautiful, but very attractive» und schrieb weiter, dass ihre Wesenszüge «voller Charakter und Kraft, aber dennoch ganz feminin» seien. Es waren seltsame Zeiten.

Mehr als eine erfolgreiche Parabel auf den Kapitalismus?

Vielleicht war Magie aber vor allem eine Spielerin, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, das Bewusstsein der Menschen für Ungerechtigkeiten zu kitzeln. «Bald, ich hoffe sogar sehr bald, werden Männer und Frauen merken, dass sie deshalb arm sind, weil Carnegie und Rockefeller so viel haben, dass sie nicht wissen, was damit anfangen», sagte sie zu Journalisten, die auf die schräge Annonce aufmerksam geworden waren und Magie so zu kurzzeitiger Berühmtheit verhalfen. Doch bald ging die Pionierin wieder vergessen und mit dem Verkauf wurde The Landlord’s Game zum ungeschminkten Monopoly – aus zwei Spieloptionen wurde eine. Magies pädagogischer Trick lief ins Leere. Und die offizielle Version von Monopoly wurde erst recht zu einem Hit: Im ersten Jahr verkauften sich 278 000 Exemplare, im nächsten schon über 1 750 000.
Also alles schön nach marktwirtschaftlichem Klischee? Monopoly, eine vielschichtige Parabel auf das immer ein wenig humorlose, aber effiziente Funktionieren des Kapitalismus? Nicht nur: Die schönste Pointe im Zusammenhang mit Monopoly ist wohl, dass sich hartgesottene Ökonominnen und Ökonomen noch heute mächtig über die Logik des Spiels aufregen können. So schrieb Benjamin Powell, Direktor des Free Market Institute, vor ein paar Jahren einen bösen Kommentar mit dem Titel: «What’s wrong with Monopoly (the game)?» So einiges, fand er – vor allem, dass kein freier Markt auf dem Spielfeld sei, sondern viel regulatorischer Zwang und vor allem gegängelte Konsumenten: «Da gefallen sich Land- und Immobilieneigner, obwohl sie durch pures Glück zu ihren Besitztümern gekommen sind, im Gedanken, Herren der Welt zu sein und einfach aus allen, die vorbeikommen, Profit herauspressen zu können. Es gibt keine Auswahl, geschweige denn Entscheidungsfreiheit aufseiten des Konsumenten.» 
Kommt einem irgendwie bekannt vor, zu Zeiten von Google, Facebook und Konsorten. Vielleicht entlarvt das Spiel also doch – ganz in Lizzie Magies Sinn – die Schwächen eines Systems, das real existierend zwar läuft wie geschmiert, aber niemanden so recht glücklich macht (ausser den Gewinner, für einen sinnleeren Moment)? Insofern überrascht es auch nicht, dass der Erfolg von Monopoly immer wieder Umdeutungen provozierte. Der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick – man kennt ihn vielleicht als Autor der Vorlage des Films «Blade Runner» – beschrieb 1959 in einer Kurzgeschichte eine Monopoly-Persiflage, in der das Ziel des Spiels ins Gegenteil umgedeutet wurde: sein Geld nämlich so rasch und komplett wie möglich zu verpulvern. Das Spiel kam für ein paar Jahre tatsächlich auf den Markt, als «Go for Broke», deutsch: Mankomania.

«Anti-Monopoly»: Wirtschaftskritik in vielen Varianten

In den 1970er-Jahren kamen eine ganze Reihe von Spezial-«Monopolys» auf den Markt, das berühmteste 1973 unter dem Titel Anti-Monopoly. Es war gewissermassen eine späte Reverenz an Lizzie Magie und ihre zwei Spielprinzipien. Wobei der Erfinder, der Wirtschaftsprofessor Ralph Anspach, zunächst gar nichts wusste von diesen Ursprüngen des Spiels. Tatsächlich kam die ganze Geschichte um Lizzie Magie überhaupt erst ans Licht, weil sich Anspach einen jahrzehntelangen Rechtsstreit mit Parker Brothers lieferte und sich tief in die Archive wühlte. 
Vor allem im deutschsprachigen Raum kamen in der Folge eine ganze Reihe weiterer Anti-Monopolys heraus: zum Beispiel «Provopoli – Wem gehört die Stadt?», wo man als Hausbesetzerin oder -besetzer die Marktlogik aushebeln kann, oder «Ökolopoly» mit dem Spielziel, ein Ökosystem am Laufen zu halten und die kybernetische Denkweise zu fördern.
Durchgesetzt hat sich keine dieser «moralischeren» Spielideen – ob das daran liegt, dass wir sehr gern unmoralisch spielen, wenn wir eine unsanktionierte Gelegenheit dazu bekommen, sei einmal dahingestellt. Die grosse Zeit der pädagogisch konzipierten Spiele ist seit den 1960er-Jahren ohnehin vorbei. Seither richtet sich die Werbung der Spielhersteller direkter an die Kinder und nicht mehr an die Eltern. Nun fokussierte man auf die Aufregung, die ein Spiel versprach, und immer weniger auf die erzieherischen Werte.

Erlebnisse statt Immobilien kaufen

Monopoly ist bis heute eines der erfolgreichsten Brettspiele auf dem Markt und erscheint in unzähligen Spezialeditionen. Die jüngste Ausgabe aus dem Jahr 2019 hat sich übrigens vom Papiergeld verabschiedet. Stattdessen steht auf dem Spielfeld ein Hut mit eingebauter Sprachsteuerung, als KI-Verwaltung des digitalen Kredits. Das zog auch sogleich Kritik von Erziehungsexpertinnen und -experten nach sich: Kinder lernten eher einen verantwortungsvollen Umgang mit Monetärem, wenn sie konkret Scheine zählen und vor sich stapeln können – und auch wieder hergeben müssen, wenn sie verlieren.
Noch viel konsequenter war aber das ein Jahr früher herausgekommene Monopoly für Millennials. «Vergiss Immobilien. Du kannst dir sowieso keine leisten» steht auf dem Cover. Statt sich ein Immobilienimperium aufzubauen, sollte man sein Geld lieber für Musikfestivals ausgeben oder für ein edles Nachtessen im veganen Bistro – denn «Erlebnisse währen für immer». Auch eine gültige Wirtschaftslektion: Der nächste Crash, er kommt bestimmt.

Literatur


Mary Pilon, «The Monopolists: Obsession, Fury, and the Scandal Behind the World’s Favorite Board Game», Bloomsbury, 2015.

Henry George, «Progress and Poverty», 1879.
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